THOMAS MEYER / MICHAEL NYMAN

VON DER STRUKTUR ZUR MUSIK, VON DER MUSIK ZUM FILM — EIN GESPRÄCH MIT DEM KOMPONISTEN MICHAEL NYMAN ÜBER SEINE ZUSAMMENARBEIT MIT PETER GREENAWAY

ESSAY

Zusammengestellt und übersetzt von Henry M. Taylor

THOMAS MEYER Mr. Nyman, wie haben Sie die Musik für Peter Greenaways Film Drowning by Numbers geschrieben?

MICHAEL NYMAN Drowning by Numbers ist ein Ausnahmefall in meiner Zusammenarbeit mit Peter Greenaway. Normalerweise besprechen wir die Musik, bevor wir mit den Dreharbeiten anfangen, manchmal noch bevor ich das Script gesehen habe, wie zum Beispiel bei The Draughtsman’s Contract. Bei Drowning lief es anders, es gab Verzögerungen. Peter hatte vertragliche Verpflichtungen einzuhalten, und so begann ich mit der Komposition, nachdem Peter sowohl das Drehbuch als auch die Filmaufnahmen beendet hatte, während dem Schneiden. Es war der konventionellen Situation ähnlich, in der der Regisseur den Film schon beendet hat und anschließend den Komponisten holt und ihm sagt, wir brauchen hier und hier diese Art von Musik. Normalerweise diskutieren Peter und ich verschiedene Gestaltungsprinzipien des Films, Themen, strukturelle Aspekte im voraus. Dann kann ich Weggehen und komponieren, was immer zu diesem strukturellen Thema paßt. Aber bei Drowning war das anders. Eher unüblich für einen Regisseur, gab mir Peter eine musikalische Richtlinie. Er sagte, daß er den langsamen Satz von Mozarts Sinfonia Concertante für Violine und Viola verwenden wollte. Die Musik sollte für verschiedene Sequenzen sehr geradlinig gespielt sein, und er wollte als alleinige Ausgangsbasis für die gesamte Filmmusik diesen Satz haben. Ich beschaffte mir also diese Einspielung samt Partitur, untersuchte die Struktur des Stücks und stieß dabei auf verschiedene Momente, die mir gefielen. Innerhalb von zwei oder drei Tagen schrieb ich dann vielleicht 15 verschiedene Musikstücke, immer von diesem Satz der Mozart-Sinfonie ausgehend, und spielte sie Peter vor. Er sagte, ja, das gefällt mir, das kann man in dieser oder jener Sequenz einsetzen. Und dann machte ich mich daran, die komplette Filmmusik zu schreiben, teils mit dem fertigen Film im Hinterkopf, teils auch so, wie ich normalerweise Filmmusik schreibe, also indem ich die Musik sich frei entfalten lasse. Gewöhnlich ist die Musik autonom, und üblicherweise, wenn ich mit Peter zusammenarbeite, treffe ich die Entscheidung darüber, was sich kompositorisch wie entwickelt und wie die Musik wächst. Bei Drowning war dies, wie ich schon sagte, etwas anders, weil der Film schon geschnitten war und ich wußte, daß die jeweiligen Stücke zu gewissen Sequenzen einfach passen mußten. Das Endergebnis sah dann so aus, daß einige der Stücke an den vorgesehenen Stellen eingesetzt wurden, ein Teil der Musik wurde für andere Szenen verwendet und einiges wurde überhaupt nicht benutzt.

Sie sagen, die Musik sei autonom. Hat sie denn keine Beziehung zu den Bildern?

Ich kannte das Script von Drowning sehr genau, ich hatte alles präsent, als ich mit dem Komponieren anfing. Also wußte ich, daß die musikalische Bandbreite dem künstlerischen Ausdruck des Films entsprechen sollte. Und da er sich ziemlich von Draughtsman unterschied, der sehr lebendig ist, mit sehr viel energetischer Musik — da also Drowning viel intimer war und sehr viel mit Tod zu tun hatte und die zahlreichen Tode überdies weder groß noch heroisch waren, sondern kleine Tode, wußte ich, daß die Tönung der Musik gesamthaft eher reflexiv, eher elegisch als tragisch sein mußte. Ich schrieb gewissermaßen die Musik, die meinem Gefühl des Films entsprach. Wie sie wissen, gibt es in Drowning verschiedene Spiele, und hierfür brauchte ich ziemlich aktive und lebendige Musik, während die Musik für die Tode ziemlich reflexiv und etwas elegisch sein sollte. Peter spielt gerne abstrakte Spiele, wenn er Filme macht, und auch ich mag es, während dem Komponieren abstrakte Spiele zu spielen. Also ist es am besten, wenn man mich einfach meine Spiele machen läßt - in diesem Fall mit dem Mozart-Stück. So konnte ich die Sequenzmusik liefern und war gleichzeitig befriedigt, denn ich gehöre nicht zu denjenigen Komponisten, die sich gerne etwas vordiktieren lassen. Mir gefällt meine Unabhängigkeit als Komponist, und offenbar gefällt es auch Peter so, weil er die Musik bekommt, die er seinem Film unterlegen kann.

Was zwischen uns normalerweise passiert, etwa bei The Cook, the Thief, His Wife and Her Lover, ist, daß ich die Musik vor Beginn der Dreharbeiten liefere, so daß Greenaway sie dann bei den Aufnahmen zur Verfügung hat, sie sich mehrmals anhörten und so vielleicht in den Rhythmus oder die Atmosphäre des Films einfließen lassen kann. Am Ende von Cook gibt es ein Stück von 12 oder 14 Minuten Dauer namens „Memorial“, das Peter tatsächlich auch zur Choreographierung der Figuren benutzte, ein wenig wie in einer Oper oder einem Musical. Grundsätzlich ist er viel zufriedener, wenn er die Musik im voraus hat und den Schnitt dem Musikrhythmus anpassen kann. Dagegen hatte Drowning, der schon geschnitten war, bereits seinen eigenen Rhythmus. Manchmal hatten wir beide den Eindruck, daß ich meinen Rhythmus dem seinigen aufzwang, was vielleicht mir zugute kam, aber natürlich nicht Peter. Deshalb sind auf dem Soundtrack-Album einzelne Stücke zu hören, die nicht im Film sind, während im Film ein, zwei Kompositionen zu hören sind, die wiederum auf der Platte fehlen.

Aber ich bin mit der Musik zu Drowning wirklich sehr zufrieden, weil ich meine üblichen Stilelemente, die zwar nicht gerade musikalische Klischees sind, aber als Michael-Nyman-Soundtrack sofort erkennbar sind, hier zum Teil weglassen mußte. Bei Drowning und der Oper The Man Who Mistook His Wife for a Hat wußte ich, daß meine üblichen kompositorischen Muster etwas fehl am Platz sein würden. Also probierte ich etwas anderes, andere Ausdrucksformen, die diesen eher reflexiven, düsteren Themen gerecht würden. Als ich mir dann zuerst das Soundtrack-Album anhörte, hatte ich keine Ahnung, ob es nun hervorragend war, oder gut, oder in Ordnung oder gar relativ schlecht. Aber viele Leute halten es für mein bislang persönlichstes Werk. Sie finden es sehr speziell, weil es eher kontemplativ ist und nicht diese sehr schnellen, energiegeladen-pulsierenden Bewegungen enthält. Für diesen Film zu arbeiten ermöglichte mir, eine andere Seite meines Charakters als Komponist zu entdecken und etwas besonders zu betonen, das vielleicht in meinen anderen Stücken eher zufällig vorhanden ist.

Einer der Aspekte, die mich an Filmmusik interessieren, ist die Möglichkeit, etwas hervorzubringen, was ich sonst wohl eher vernachlässigen würde oder von dem ich nicht weiß, ob ich dazu imstande bin. Natürlich treffe ich dadurch auch zwei oder drei Fliegen mit einem Schlag, indem ich einerseits eine gute Filmmusik schreibe, dabei ein Soundtrack-Album produziere und gleichzeitig auch meine Entwicklung als Komponist vorwärtstreibe, was mir bei allem, was ich mache, wichtig ist. Drowning basiert auf Mozart, Draughtsman auf Purcell, aber die beiden scores sind so völlig verschieden, weil auch die Filme total verschieden sind. Wie ich vorhin schon angedeutet habe, komponiere ich im allgemeinen die Musik zwar nicht für bereits bestehende Bilder oder Sequenzen, gleichwohl habe ich aber im Geist ein sehr deutliches Bild vom Film, und dieses Bild beeinflußt entweder bewußt oder unbewußt, möglicherweise beides, die Art und Weise, in der ich der Filmmusik Gestalt verleihe. Und so arbeiten zu können ist wunderbar.

Sie haben die abstrakten Spiele erwähnt, die Sie mögen, die auch in der Oper The Man Who Mistook His Wife for a Hat eine wichtige Rolle spielen. Ich habe den Eindruck, daß diese Spiele für Sie eine besondere Bedeutung haben.

Da gibt es allerdings einen Unterschied. Die Spiele in der Oper sind Spiele mit einem Zweck, während diejenigen in Drowning by Numbers eher abstrakter Natur sind. Bei Drowning analysierte ich die Elemente in Mozarts Musik, isolierte sie und setzte sie auf andere Weise zu neuen Kontinuitäten wieder zusammen. Das war für mich ein abstraktes Spiel, ohne einen Zweck. Der einzige Zweck war mein Vergnügen daran. Das Spiel hingegen, das ich in der Oper spielte, diente dazu, eine musikalische Parallele oder Analogie zu den Wahrnehmungsproblemen des Protagonisten zu schaffen. Als [der Psychiater Oliver] Sacks zuerst den Patienten sah, dachte er, mit ihm sei alles in Ordnung. Er spielte also eine Reihe von Spielen mit ihm, und bei jedem Spiel, bei jeder Untersuchung merkte er in zunehmendem Maße, daß Dr. P. sogar ein sehr gravierendes Wahrnehmungsproblem hat. Den Zuschauern geht es ähnlich: Während sie die Oper hören und sehen, reproduzieren sie, wie Sacks allmählich Dr. P.’s Schwierigkeiten entdeckt. Ich wollte daher ein analoges Erlebnis zu Sack’s Entdeckung von Dr. P.’s Problemen schaffen, aber ich tue dies ausschließlich mit musikalischen Mitteln. Also habe ich eine Reihe von - nennen wir es einmal so - Variationen komponiert. So entwickeln sich gleichzeitig mit unserer Wahrnehmung von den Problemen der Hauptfigur auch diese musikalischen Variationen. Zuerst scheint alles ganz normal zu sein, und ganz allmählich realisieren wir, welch schreckliche Leere in seiner Wahrnehmung, in seinem Ausdruck besteht. Langsam und kaum hörbar wird die Musik zunehmend leerer, ausdrucksloser, schematischer. Bekanntlich nahm Dr. P. ein Gesicht, das er sah, bloß als eine schematische Ansammlung von Nase, Augen und so fort wahr, er konnte es nicht als das erkennen, was es war, er konnte diesem Ding keinen Ausdruck geben, weshalb er auch nicht in der Lage sein würde, Ihr Gesicht von meinem zu unterscheiden.

Was ich also probierte, war, die Musik allmählich jeder Individualität zu berauben. Das war das Hauptprinzip, das ich insbesondere mit einem Schumann-Stück, einer wunderschönen Melodie, anwandte. Ich nehme die Melodie, die ich dann über einen Zeitraum von drei, vier oder fünf Minuten analysiere, zu Figuren transformiere, die letztlich zu bloßen Schemata verkommen. Auf einer Mikroebene ist dies eine abstrakte Parallele zu dem, was in Dr. P.’s Leben geschah. Während also der Inhalt der Musik die emotionale Wirkung dieses großen Verlusts in seinem Leben ausdrückt, ist es die musikalische Form, welche die zunehmende Sinnvernichtung bezeichnet. Das war ein kompositorisches Spiel, obwohl ich vermute, die meisten Komponisten spielen Spiele. Nur war dies ein Spiel mit sehr ernstem Hintergrund. Notwendigerweise war es abstrakter Natur.

Einer der Unterschiede zwischen dem Komponieren von Opern- und Filmmusik ist, daß beim Film die endgültige Struktur der Musik und ihr Einsatz, die Beziehung der Stücke untereinander, sehr oft vom Regisseur kontrolliert wird. Dagegen war für mich diese Oper sehr spannend. Ich fand etwas, das für jeden Komponisten essentiell ist - ein Korrektiv zu meinen zahlreichen Filmkompositionen. Nicht nur hatte ich die Kontrolle über die Notation, sondern auch über die gesamte musikalische Struktur. Ob nun das Publikum diese Struktur rezipiert oder nicht, macht da keinen Unterschied. Für mich ist dieser Aspekt sehr wichtig, die volle Spannweite der kompositorischen Architektur zu kontrollieren, die Beziehungen der einzelnen Teile zueinander. Es ist ein Zerfallsprozeß, kein eigentlicher Zerfall natürlich, aber eine allmähliche Reduzierung, Degenerierung der tonalen Materie. Ich erwarte natürlich nicht, daß irgend jemand das alles mitbekommt, aber das heißt noch lange nicht, daß es nicht gleichwohl vorhanden ist.

Weshalb zitieren Sie so häufig aus der Musikgeschichte, wie etwa Purcell, Mozart, Schumann?

Das tue ich aus verschiedenen Gründen, ebenso wie dies wohl Strawinsky aus unterschiedlichen Gründen tat. Ich empfinde eine Affinität zu Strawinsky, obwohl ich sicher bin, daß seine Absichten und Gründe ganz andere waren als meine. Bei Draughtsman war es natürlich Purcell, dessen Musik ich benutzte, da der Film im späten 17. Jahrhundert spielt. Er sieht auch so aus, als ob er im 17. Jahrhundert spielt, aber die Ideen in dem Film sind die Ideen des ausgehenden 20. Jahrhunderts, politische Ideen über Kunst, Repräsentation, über die Gesellschaft, Besitz und so fort. Es war mir klar, daß die Musik sowohl den Kostümen des 17. Jahrhunderts entsprechen sollte als auch dem späten 20. Jahrhundert. Genau wie Strawinsky nicht bloß kopierte, wenn er bestehende Stücke von Tschaikowsky oder Pergolesi verwendete; er komponierte sie auf seine Weise neu, so daß sie wie Strawinsky klingen. Aber gleichwohl ist das Original immer noch hörbar. Dies auch mit Purcell zu tun, machte mir Spaß. Das war die Absicht. Bei der Oper The Man Who Mistook His Wife for a Hat nahm ich Schumann. Einer der strukturellen Kunstgriffe in der Oper war die Unterscheidung dieser beiden Welten, deren Zeuge wir sind. Da ist einerseits die Welt der Normalität, an der wir, der Neurologe und die Ehefrau, teilhaben, und da ist diese Welt der Anormalität oder Einbildung oder Andersartigkeit, ist die Welt von Dr. P. Ein anderer Komponist hätte diesen Gegensatz vielleicht anders ausgedrückt. Es hätte möglicherweise eine Opposition zwischen tonaler und nicht-tonaler Musik sein können, zwischen Instrumental- und Vokalmusik, zwischen elektrischer und akustischer oder auch zwischen gewöhnlicher und gespenstischer Musik. Wie kann man also die Fremdheit dieser Welt ausdrücken? Ich entschied mich dafür, die Fremdheit der Welt dieses Menschen durch etwas sowohl uns wie ihm Vertrautes auszudrücken, durch Schumanns Musik. Ich wählte deshalb Schumann, weil Sacks jedesmal, wenn er zu Dr. P. ging, Schumann spielte. Also war dies eine wunderbare Idee, ich brauchte nicht weiter zu suchen. Ich hörte mir alle Schumann-Lieder an, von denen ich keines kannte und übernahm lediglich einzelne Takte, Phrasen, Harmonien, die mir wirklich gefielen und die ich als Rohmaterial benutzen konnte. Vielleicht in einer ähnlichen Weise wie Dr. P, der seine Welt aus bekannten Elementen aufbaute und sich mit Dingen vertraut machte, etwa durch diese Lieder, nach denen er sich kleidete oder rasierte, verwendete ich Schumann in vier, fünf unterschiedlichen Weisen. Eine Variante bestand offensichtlich darin, diese beiden Welten darzustellen, eine andere, wie ich schon vorher ausführte, dem Publikum musikalisch-phänomenologisch diese Art der Fragmentierung einer Melodie in ihre Grundelemente nahezulegen - ähnlich wie etwa die Zerlegung eines Gesichts in seine Einzelteile. Die Funktion der Schumann-Musik ist verschieden von jener Purcells in The Draughtsman’s Contract. Für Drowning by Numbers wollte Peter Greenaway, daß ich Mozart benütze. Da gibt es einen originären Verweis auf Mozart, auf den Kontext der ursprünglichen Musik. Ich habe zuerst die Musik aus diesem Kontext herausgenommen, sie verändert, verlangsamt, neu orchestriert, also einen neuen Kontext hergestellt. Was mir daran gefällt, ist, gewissermaßen ein (bestehendes) Bild zu nehmen und zu übermalen. Aber ich male darüber hinweg in einer Weise, die es ermöglicht, das Original immer noch zu sehen, als ob ich über das Original etwas Transparentes legen würde, auf dem ich dann male. So kann man sehen, was ich gemalt habe, aber auch, was das Original ist. Das kommt Strawinskys Arbeitsweise schon sehr nahe. Das heißt jetzt natürlich nicht, meine Arbeit sei gut oder schlecht, akzeptabel oder inakzeptabel. Aber es heißt, daß schon andere so gearbeitet haben.

Auch Peter Greenaway zitiert viel, wie Sie in Ihrer Musik.

Ganz offensichtlich zitiert er viel aus der Geschichte der Malerei, des Bildermachens der verschiedenen Jahrhunderte. Allerdings verwende ich meine Zitate viel kontrollierter, als er das tut. Ich könnte mir vorstellen, daß es einfacher ist, in einem Film eine Menge bestehender Bilder zusammenzusetzen und trotzdem eine gewisse Homogenität zu erreichen, weil man es dabei mit nur einer Sprache zu tun hat. Wenn ich dagegen den Versuch machen würde, in einem Stück sowohl Monteverdi als auch Händel, Brahms, Schönberg und schließlich, sagen wir, Bernard Herrman zu zitieren, würde man stilistische Diskontinuitäten heraushören. Sprechen wir dagegen von Vermeer, von Rembrandt und Paul Klee, scheint die Diskrepanz nicht so groß zu sein. Also, wenn ich zum Beispiel ein Stück über Wasser komponieren müßte, würde ich zuerst einmal Zitate aus der Geschichte der Musik sammeln, die irgend etwas mit Wasser zu tun haben. Da gäbe es vielleicht ein Madrigal aus dem 16. Jahrhundert, natürlich Handels Wassermusik. Aber all dies würde natürlich nur jenen Leuten etwas bedeuten, die wüßten, daß all dies Wassermusik ist. Es gibt nichts in Händels Wassermusik, das besonders „wässrig“ ist, alles was wir haben, ist die Assoziation Wasser/Musik. Es gibt ziemlich aufdringliche Klavierstücke des 19. Jahrhunderts, die mit recht grellen Wellen-Effekten arbeiten, und wenn man erst bei Debussy und Ravel ankommt, haben wir es mit Musik zu tun, die ziemlich deskriptiv arbeitet. Aber für mich ist das assoziative Element der Musik sehr wichtig. Für die eine Sequenz in The Man Who Mistook His Wife for a Hat zum Beispiel, als Dr. P. unfähig ist zu erklären, was eine Rose ist, habe ich einfach ein sehr abstraktes, Bach-ähnliches, mechanisches Schema entwickelt, das ich über die Grundharmonie des musikalischen Ausschnitts legte. Für mich waren das einfach abstrakte Schemata, abstrakte Figuren. Ich habe aber nicht den Versuch unternommen, die Gestalt einer Rose zu beschreiben. Daher würde ich also sagen, Musik ist grundsätzlich viel unspezifischer als Malerei, viel weniger eindeutig als die Zitate, die Peter Greenaway verwendet. Folglich wähle ich nur ein musikalisches „Objekt“ oder einen Komponisten oder eine Sorte Material einer ganz bestimmten Epoche aus.

A propos Wassermusik, da fällt mir noch etwas ein. Ich habe eine Komposition geschrieben, die Water Dances heißt und auch aus dem Soundtrack eines Peter-Greenaway-Films hervorging. 1984—85 drehte er einen Dokumentarfilm über die Beziehung des Menschen zum Wasser, der einfach mit Wasser anfängt und schließlich mit Synchronschwimmen endet. Er bat mich, ein reines Instrumentalstück in acht Teilen zu schreiben - dies war meine einzige Beschränkung —, nach denen er den Film gliedern konnte. Ich produzierte also ein abstraktes Musikstück und spielte ein Klavier-Arrangement davon ein. Dann stellte Peter sein Material zusammen und schnitt den Film sehr präzise. Anschließend nahmen wir die endgültige orchestrierte Musikfassung auf. Das Filmstück hatte eine Länge von etwa 24 oder 25 Minuten. Danach habe ich es für ein Konzert der Michael-Ny man-Band adaptiert und auf rund 40 Minuten erweitert. Anschließend bot sich mir noch die Möglichkeit, die längere Konzert-Version in ein Stück für zwei Klaviere umzuschreiben. Wenn ich im Konzert selber spiele - was ich oft tue -, improvisiere ich gewöhnlich bei meinen Einsätzen. Als ich aber von Martha Argerich und Alexander Rabinowitz die Anfrage nach einem Stück für zwei Klaviere erhielt, mußte ich mich hinsetzen und meinen Klavierpart exakt aufschreiben, was sehr merkwürdig war. Ich reduzierte die Konzertfassung auf 20 oder 25 Minuten, und diese Version war dann das Endergebnis von etwas, das als Filmmusik begonnen hatte. Das Stück ging so durch verschiedene Verwandlungen. Dabei war für mich allerdings der Aspekt der Filmmusik unwesentlich, für mich war das Stück immer Konzertmusik.

Ich kenne Ihr Buch Cage and Beyond, das sich mit Experimentalmusik beschäftigt. Ist experimentelle Musik für Ihre Arbeit noch relevant oder ist das passé?

Unglücklicherweise - oder glücklicherweise - war ich einmal Kritiker und Historiker, und jetzt bin ich nicht mehr Kritiker, ich bin Komponist. Gleichwohl kann man diesem Blickwinkel der Kritik nicht ganz entgehen. Ich bin mir daher sehr bewußt, woher meine Musik stammt. Wenn Sie mich ernsthaft fragen, welche Ursprünge sie hat, könnte ich sagen, sie kommt von nirgendwo. Aber wenn ich wirklich ehrlich wäre, müßte ich sie zurückverfolgen und mich mit den Einflüssen dieser und jener amerikanischen Musik auseinandersetzen, vielleicht die Wichtigkeit und Unwichtigkeit von Cage diskutieren, die Wichtigkeit und Unwichtigkeit von Reich, die Wichtigkeit und Unwichtigkeit von Corelli. Unglücklicherweise hat mich diese historische Sichtweise konditioniert. Manchmal finde ich das aufregend, weil ich es für wichtig erachte, daß ein Künstler, egal welcher Couleur, seine historische Situation erkennt. Auf der anderen Seite macht mich das auch etwas unfrei, und ich sollte statt dessen sagen, schaffen wir die Vergangenheit oder Ursprünge und Entwicklungen beiseite, und: Ihr müßt sagen, woher meine Musik kommt. Eher als ich solltet ihr das sagen, ihr, das Publikum, oder ihr, die Kritiker, oder wer auch immer. Aber offenbar werden wir erst durch unsere eigenen Erfahrungen zu den Menschen, die wir sind. So hatte ich bestimmte Erlebnisse mit Musik in meiner Kindheit, als Student, als Kritiker. Ich machte mit dem Scratch Orchestra gewisse Erfahrungen, auch mit jemandem wie Brian Eno, mit dem ich zusammenarbeitete. Es ist klar, daß einzelne Aspekte ihres Denkens mich zwar nicht direkt geprägt haben, aber gleichwohl sind sie durch meinen Denkprozeß hindurchgegangen. Deshalb ist das eigene Schaffen wohl um so reichhaltiger, je vielfältiger die persönliche Erfahrung ist, die man hat. Und offensichtlich ist dieser Erfahrungsschatz nicht nur musikalischer Natur. Meine Zusammenarbeit mit Peter Greenaway hat unsere Denkweisen wechselseitig beeinflußt. Wir sprachen schon von den Spielen, wir könnten auch über strukturelle Ideen sprechen. Ich könnte über Listen sprechen, über Kategorien und wie man daraus ein Stück machen kann - in dieser Beziehung hat mich Peter ebenso geprägt wie Minimal Music oder Bach. Es ist also schwierig, genau zu bestimmen, woher all diese Dinge kommen. Aber ich lehne keinen dieser prägenden und wichtigen Einflüsse ab, auch wenn man sie später in einem anderen Licht sieht als damals.

Ich war in den 60er Jahren in Rumänien und sammelte Volksmusik. Meine Einstellung zu dieser Musik war etwas unkonventionell, jedenfalls nach den Maßstäben der berufsmäßigen Sammler von Volksmusik jener Zeit in Rumänien. Ich habe erkannt, daß meine musikalische Wahrnehmung damals ähnlich war wie zehn Jahre später, als ich Minimal Music und Cage kannte. Ich stieß da auf eine Musikkapelle, die sehr fehlerhaft spielte. Ich fand das sehr aufregend, aber ich war der einzige, dem es so ging. Ich entdeckte einige Grablieder, die mir zuerst alle unglaublich verschieden vorkamen, aber dann merkte ich, wie sie allesamt auf demselben musikalischen Modell aufbauten. Da war also ein Bezug zum Minimalismus, aber wer hatte denn 1965 schon eine Ahnung vom Minimalismus? Offenbar hatte ich damals einen Instinkt, den ich heute auch noch habe, aber meine Perzeption ist inzwischen durch andere, weitere Erfahrungen koloriert worden.

Manchmal klingen Ihre Stücke wie Minimal Music, die aber in anderen Musiken aufgehoben ist.

Sicher. Ich glaube aber nicht, daß ich jetzt und hier erklären sollte, was Minimal Music ist und was nicht. Darüber könnte ich eine ganze Nacht lang reden! Was auch immer Minimalismus ist, ich verdanke ihm doch sehr viel. Jene Komponisten der späten 60er Jahre haben ein ganz neues musikalisches Spektrum eröffnet, ein neues Wahrnehmungsfeld, eine neue Art der Komposition, indem sie bekannte Musikstücke verwendeten oder eine allgemeinverständliche Musiksprache und einen neuen Zugang zum Publikum fanden, einen Zugang, den die Avantgarde völlig vernachlässigt hatte.

Was ist also wichtig für Sie in Ihrer Musik? Was versuchen Sie zu erreichen?

Was für mich wichtig ist, ist möglicherweise für mein Publikum nicht von Bedeutung. Den kompositorischen Werdegang von The Man Who Mistook His Wife for a Hat habe ich schon beschrieben. Was für mich dort bedeutsam war, ist die inverse Analyse der Musik, eine bewußte, kontrollierte Konstruktion, die komplett auf die rationale Logik der Musik abzielte. Was andererseits für das Publikum zählt und für mich dann auch irgendwie wichtig wird, ist die irrationale Seite meiner Arbeit. Wenn ich ein Stück für facettenreich und lebendig halte, es folglich nicht bloß eine Darstellung einfacher Formeln ist, dann wird es offensichtlich das Publikum beeindrucken - zumindest hoffe ich das.

Diese Wirkung ist natürlich mehr als das Erkennen von musikalischen Prozessen. Wenn Leute zu mir über die Oper The Hat sprechen, erzählen sie mir nicht von dessen Konstruktion, sondern von Gefühlen. Und wenn ich mit der Michael-Nyman-Band in Spanien ein Konzert gebe, dann reagieren die Zuhörerinnen nicht auf den Minimalismus, sondern auf die große Vitalität, die rhythmische Kraft, die jener der Rockmusik gleicht, auf diese emotionale, sehr lebendige Welt.

Ich kann diese Gefühle nicht beschreiben, weil sie musikalische Gefühle sind, oder, wie Strawinsky sagte, „Musik ist Musik“. Und wenn es Gefühle wären, könnte man sie entweder fühlen oder in Worten ausdrücken. Ich möchte gerne mit meiner Musik die Zuhörerinnen konfrontieren, aber dabei zugänglich bleiben. Das heißt also, mit der Musik so konfrontiert zu werden, daß man sich ihr nicht entziehen kann, ob einem das nun gefällt oder nicht. Dies gilt vor allem im Konzert, wo der musikalische Impact natürlich viel stärker ist als auf Schallplatte, man hat es da mit Superlativen, mit Extremen, zu tun. Die Musik ist so stark, oder so tragisch, oder so schön, oder langsam, oder so in sich geschlossen.

Oft, wenn ich in einem Konzert bin, in dem die Musik anderer Komponisten gespielt wird, denke ich mir, ja, dieser Ausschnitt ist schön, und dann schweifen meine Gedanken ab, und dann denke ich vielleicht plötzlich: Was mache ich hier eigentlich? Manchmal denke ich auch: Diese Musik ist doch überhaupt nicht in sich geschlossen! Ich versuche Stücke zu schreiben, die vielleicht der Barock-Musik am nächsten kommen, weil diese - wie z.B. jene Bachs - sehr geschlossen ist und den Zuhörerinnen sehr wenig Raum für eine eigene Interpretation läßt. Und das ist auch die Stärke des Minimalismus. In den frühen Reich-Stücken hatte man vielleicht noch genug Freiraum, um abzuschweifen, aber wenn man in den musikalischen Ablauf konkret eingebunden ist, kommt es einem wie eine Eisenbahnreise vor, bei der man permanent aus dem Fenster schaut. Gelegentlich möchte man vielleicht die Augen schließen und an etwas anderes denken. In der Barock-Musik, etwa bei einem Satz aus einer Bach-Messe, -Passion oder -Fuge, bleibt einem beim Zuhören sehr wenig Spielraum. Diese Art Komposition folgt einem strikten Dogma. Aber wenn ich mein Publikum sehe, scheinen sie dem viel Spaß und Genuß abzugewinnen, wenn sie von der Musik beinahe körperlich mitgerissen werden. Und das finde ich sehr aufregend, wenn es mir gelingt, ein Publikum so zu fesseln. Ich will, daß die Musik dem Zuhörer entgegenschlägt, ihn gefangennimmt, wie wenn sie sagen würde: Du mußt dir dies anhören, und wenn es dir nicht gefällt, ist das Pech, du hast keine Wahl, du bist mit der Musik kurzgeschlossen!

Ich möchte nochmal auf Drowning by Numbers zurückkommen. Am Ende des Films spürt man eine Melancholie, die ich auch in Ihrer Musik wahrnehme.

Da mein musikalischer Ausdruck weitgehend eine Dur-/Moll-Sprache ist, existiert eine natürliche Verbindung zwischen Moll-Tonarten und der Melancholie. Wie Sie wissen, verweise ich in meiner Musik für Drowning auf meine gesamte Grabmusik, teils aus eigener Entscheidung, teils, weil es der Film so vorgab. Ich weiß nicht — vielleicht bin ich einfach ein melancholischer Mensch. Oder vielleicht bin ich etwas schizophren und schreibe auf der einen Seite diese sehr aufgestellte, dynamisch-fröhliche Musik und auf der andern diese bisweilen melancholische, gelegentlich tragische, aber auch elegische und sehnsuchtsvolle Musik voller Bedauern. Diese Melancholie findet man auch in gewissen Chaconnes und Passacaglias. Und dann gibt es da natürlich die harmonische Formel, so etwa Didos Lamento in Dido and Aeneas mit der absteigenden G-Moll-Baßlinie - solchen Assoziationen kann man nicht entfliehen. Mir gefällt es sogar, von diesen Assoziationen zu zehren. Die Avantgarde-Musik, die wir in den letzten 30 Jahren gehört haben, hat diese musikalische Tradition abgelehnt und diese Musik zerstört und ganz bewußt solche Assoziationen abgelehnt. Sie hat dies getan, ohne sie aber durch eine eigene referentielle Sprache zu ersetzen. Emotional bewegt diese Musik nichts, sie ist nicht expressiv, sie ist nicht physisch, ich weiß nicht, welchen Zweck sie hat. Sie repräsentiert eine extreme Form der Abstraktion; früher habe ich sie oft gehört und auch gemocht, aber jetzt stimmt sie für mich nicht mehr. Ich bin also darauf aus, auf der musikalischen Grundform, wie sie Purcell und Mozart und Brahms entwickelt haben, aufzubauen. Aber ich beabsichtige keineswegs, sie zu reproduzieren. Ich bin kein Pasticheur, ich bin kein Neo-Romantiker, ich komponiere nicht Mahler neu, als ob es das 20. Jahrhundert nicht gegeben hätte. Die technischen Mittel, die mir zur Verfügung stehen, sind ganz spezifisch jene Mittel, die uns seit den 1960er und 70er Jahren zur Verfügung stehen. Vor 1970 hätte ich diese Musik nicht schreiben können. Auf eine merkwürdige Weise ist sie sogar viel moderner als das, was wir moderne Musik nennen, aber auf eine andere, wegen ihrer offensichtlichen Beziehung zur Musikgeschichte ist sie auch viel weniger modern. Ein seltsames Paradox.

Ich glaube, meine Musik ist ausreichend vielfältig, genügend außer Kontrolle. Auch die Beatles-Lieder haben mich übrigens in ihrer Melancholie beeinflußt, ich fühle mich ihren Songs sehr nahe; auch Schuberts Lieder sind melancholisch, und zwar auf eine sehr, sehr unheimliche Art. Aber andererseits muß die Melancholie irgendwie bereits in mir stecken, da ich nicht bewußt daran gehe, Melancholie auszudrücken. Genauso wollen auch Peter Greenaways Filme nichts direkt aussagen, aber zweifellos reflektieren sie Aspekte seiner Menschlichkeit, einige seiner Obsessionen, was seine Filme sowohl zu einem Porträt von ihm selbst als auch zu Studien der verschiedenen Charaktere werden läßt. Folglich kann es schon sein, daß meine Musik ein Porträt von mir ist und eventuell mehr über mich aussagt, als mir lieb ist. Andererseits ist sie vielleicht auch völlig abstrakt, wer weiß?

(Das Gespräch fand Ende 1989 statt)

Thomas Meyer
geb. 1955, Musikwissenschaftler und Musikjournalist beim Tages-Anzeiger (Zürich) und bei Radio DRS.
(Stand: 2019)
Michael Nyman
geb. 1944, studierte Klavier, Cembalo, Musikwissenschaft und Komposition, sammelte in Rumänien Volksmusik, schrieb Libretti und Musikkritiken, komponierte experimentelle Musik und spielte etwa in Cornelius Cardews „Skratch Orchestra“ und in Steve Reichs Ensemble mit, verfaßte ein Buch über Experimental Music: Gage and Beyond und fand gegen Ende der 70er Jahre zu seiner unverwechselbaren Musik, die er vorzugsweise mit seiner Michael Nyman Band aufführte, außerdem - und das hat ihn mittlerweile wohl am weitesten herum bekannt gemacht - schrieb er die Musik zu den Filmen von Peter Greenaway und anderen Regisseuren, er prägt die Bilder dabei auf eigene Weise.
(Stand: 2019)
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