FRIEDA GRAFE

M.O.S.

ESSAY

Man hört sie reden, die deutschen Hollywoodimmigranten — besonders Lubitsch, dessen Berliner Akzent so berühmt war wie seine dicke Zigarre.

Bis heute heißt im amerikanischen Fachjargon die zur nachträglichen Vertonung bestimmte Aufnahme ohne Ton Mit Out Sound. Die Initialen sind ein passendes Denkmal für die pionierenden Tonfilmer, die den Ton, die Wörter inbegriffen, nicht von den Geschichten ausgehend dachten, sondern vom Medium.

In Lubitschs Dreißigerjahre-Filmen spielen Telefon und Radio so extensive Rollen, weil für ihn auch der Tonfilm eine dieser neuen talking machines ist, und es ihm ein auf uns gerichtetes Vergnügen macht vorzuführen, wie Sprechen und Hören und mit ihnen die Künste verändert werden durch technische Entwicklungen.

Die Telefonerotik in Monte Carlo mag über ein kaltes Medium laufen, aber sie setzte die Gemüter der amerikanischen Zensoren in Wallung, weil - wie üblich bei ihm mit/ohne - alles da war, nur nicht nachweisbar dingfest zu machen.

Alle Reichtümer der Welt in If l Had a Million für einen befreienden Ton, einen kindischen Maulfurz. Der hängt, auch das eine Eigenart in Lubitschs frühen Tonfilmen, an der Verlängerungsschnur einer schier endlosen Sequenzeinstellung. Der Ton ganz am Schluß imprägniert die Dynamik der Einstellung.

10 zählebige Vorurteile in den Erörterungen vom Tonfilm

1 In der Hierarchie der Sinne rangiert das Gehör nach dem Gesicht; wir leben heute unter der Diktatur des Visuellen.

2 Ton wird betrachtet vom Standpunkt der Bilder.

3 Die Entwicklung des Tons wurde von denen betrieben, die, um realistischen Illusionismus bemüht, die fehlende Sprache als einen grundsätzlichen Mangel betrachteten.

4 Die Realismus-Ideologie schuf die industrielle Norm des Tonfilms.

5 Die Dissimulation der Ton-Technologie und -Herstellung im Film ist noch kompletter als bei der Bilderproduktion; der Hollywoodfilm zeichnet sich aus durch die Einebnung aller materiellen Heterogenität.

6 Die großen Stummfilmregisseure, die die spezifische Bild- und Raumsprache des neuen Mediums entwarfen, waren gegen den Tonfilm.

7 Die heterogenen Elemente populärer Darstellungsformen des frühen Kinos verschwanden mit der Einführung des Tons, der eine neuerliche Bindung an die bürgerliche Darstellungskunst mit sich brachte.

8 Vieles Reden im Kino ist unfilmisch.

9 Dem Autorenfilm war die stumme Sprache des Inszenierens wichtiger als alle Verbalität.

10 Die bei der Synchronisation den Darstellern untergeschobenen fremden Stimmen sind ein Angriff auf die organische Einheit von Körper und Seele.

Murnaus fliegender Fon

Nichts in Murnaus Filmen läßt erkennen, daß er das Fehlen von Ton oder auch Sprache als Mangel empfunden hätte, der durch möglichst einfallsreiche Handhabung des Mediums zu kompensieren war. Aber ebensowenig fetischisierte er reine Visualität.

Er sah den Entwicklungen durch den Tonfilm gespannt entgegen. Bei den Dreharbeiten zu Four Devils stand ihm ein Tonaufnahme-Wagen zur Verfügung. Sie haben, schrieb er 1927 an William Fox, mit dem Movietone-System einen Trumpf in der Hand, der die Durchsetzung des Tonfilms in der ganzen Welt zur Folge haben wird.

Ein Bedenken äußerte er ein Jahr später, eine Befürchtung, der auch Eisenstein im Tonfilm-Manifest von 1928 Ausdruck gab: Dialoge würden das Tempo der Filme drosseln. Nicht nur, daß der Rhythmus generell durch eine von der Dialogisierung bestimmten découpage schwerfälliger werde. Die Geschwindigkeit von Filmgedanken werde den langsameren, sprachvermittelten geopfert werden.

Im Letzten Mann gibt es eine Sequenz, die in den Produktionsberichten als optische Tondemonstration beschrieben wird. In der Darstellung der Mitarbeiter unterscheidet sie sich kaum von einer anderen Szene im Film, in der ein Geruch vermittelt werden soll. In beiden Fällen werden Vorrichtungen konstruiert, um der bewegten Kamera zu gestatten, im einen Fall einen Riechraum, im anderen einen Tonraum zu erfassen.

Im Fall des fliegenden Tons geht es durchaus nicht um dessen mimetische Wiedergabe, sondern mit dem Ton wird der Raum vermessen. Durch Parallelisierung, so verfährt er oft, vermittelt er Gedanken. In diesem Fall zum zweidimensionalen Filmbild im Verhältnis zum dreidimensionalen Ton.

Der Ton wird konstruiert wie das Bild. Hören und Sehen in ein solches Verhältnis zueinander gesetzt, daß sie genau nicht in Synchronität aufgehen.

Der nicht hörbare Ton destabilisiert den abgebildeten Ort und führt in die Raumsicht eine Zeitkomponente ein. Der Ton stellt aus, inwiefern kinematographische Bewegung über deren bloße Abbildung in der Realität hinausgeht.

In einem Interview mit Godard erklärte Robert Bresson, daß wann immer sich die Möglichkeit biete, er das Bild durch ein Geräusch zu ersetzen versuche. „Das Auge ist faul, das Ohr dagegen erfindet.“ Der Ton ist nicht nur eine Herausforderung für das Primat des Sichtbaren. Er hat die Macht, die sichtbare Realität zu transfigurieren.

Bauchredner Fields

„Radio saved my life, so it did, so it did.“ Gleich zweimal. W. C. Fields spielt an auf eine konkrete Situation. Vom Krankenbett, aus dem Hospital, machte er seine erste Radiosendung, und nach seiner Genesung wurde er ein Radiostar mit einer eigenen Radioshow fast bis an sein Lebensende.

Das Radio hatte schon früher in sein Leben eingegriffen. Seine Karriere und seine im Vaudeville und im Stummfilm entwickelte komische Figur machten eine entscheidende Wendung, als die R(adio) Corporation of) A(merica) den stummen Film in Tonfilm verwandelte. Damals begann Fields seine Stimme, sein Sprechen, seine Intonationen auf unverwechselbare Weise seiner Erscheinung, seinem Körper zu verbinden und den Slapstick, ein aus filmischer Bewegung hervorgegangenes Genre, mit einem zweiten Rhythmus, mit Sprache, überzudeterminieren.

Zu den besten seiner Tonfilme lieferte er selbst die Vorlage, im Vaudeville sagte man: das Material. Die Annotationen in seinen erhaltenen Skripts belegen, daß die Plazierung und die Dauer, die Länge eines Worts mit derselben Berechnung in die Gesamtkonstruktion der Figur eingepaßt sind wie das Zucken seines linken Mundwinkels oder die geballte, aggressive Präzision seiner Billardstöße.

Über den Ton ist er, wie an einer Nabelschnur hängend, dem alten Land und dem alten Europa verbunden. Als geschundenes Oberhaupt einer amerikanischen Durchschnittsfamilie, vor deren Quälereien er sich mit tonlosen, abgedroschenen Höflichkeitsformeln schützt, hat er meistens Namen mit französischem Anklang; während die andere Schiene seiner Figur, die McGargles oder McGonigles, die hinterhältigen Schwätzer, Angeber, Bramarbasierer und Schmierenimpresarios zu Dickens führen, der, das ist überliefert, seine Lieblingslektüre war.

Seine Skripts zeichnete er mit phantastischen Pseudonymen, manchmal mit den Namen seiner Figur aus den Filmen. Sein ganzes Sprachverhältnis ist eine Art von Pseudonomination mit Wörtern als Hohlformen. Seine Verhöhnungen, seine Kritik zielen nicht auf einen Charakter, sondern direkt auf die Sprache. Mit den Bezeichnungen geht er um wie mit den Bällen in seinen Jonglierakten. Die poetische Sprache verrutscht bei ihm zu Blumigkeiten, in denen Banalität zum Quell sprachlicher Erfindung wird. Er hat eine obsessionelle Lust am Wiederholen, eine Neigung zu fremdsprachlichen Wendungen mit nachgelieferten, eher approximativen Übersetzungen, zum Zerlegen von Wörtern durch Betonung, durch Buchstabieren, an den Tönen sich berauschend, jeden Laut genießend, heruntergurgelnd - die Bedeutungen gehen dabei zuschanden wie bei den Destruktionsorgien von Laurel und Hardy die vorstädtischen Reihenhäuser.

Oder aber von seinen keifenden Ehefrauen und deren Mitwelt angegriffen, verschluckt er die Sprache, holt er sie in sich zurück, behält sie kleinlaut bei sich, als letzte Bastion von etwas Eigenem. Die Töne gewissermaßen vor ihrer diskursiven Sozialisierung. Über die Stimme, von der es heißt, daß sie die tiefste Verbindung zu unserer Kinderwelt bleibt, über ihren Gebrauch, stattet er seine Figur mit einer autistischen Infantilität aus. Natürlich haßt er Kinder, weil sie ihm den Platz streitig machen, den er für sich behalten möchte.

Nur noch Jerry Lewis - und Herbert Achternbusch bei uns - hat die Fieldsche Tradition fortgesetzt. Mit subtiler Aufmerksamkeit für abweichende Töne kämpfte er mit seinem Stimmbruch gegen die Standardisierung im Hollywood talkie.

Der eine verstärkt mit seinem Tonnenkörper, was er meint. Der andere verbindet hektische Gesten mit den ständig mißlingenden Versuchen, seine Stimme zu meistern. Das normalisierende Bild wird bei beiden, von innen, durch Laute erschüttert.

Erzählerstimmen

Zu lesen bei Béla Balázs, Edgar Morin, Christian Metz, zu hören von Bresson, daß Töne im Film, mit den Bildern verglichen, grundsätzlich real sind und daß durch sie die reproduzierten Bilder sich glaubwürdig in der Realität verankern.

Einspruch. Als Gegenbeispiel Josef von Sternbergs The Saga of Anatahan, der einen voice twer-Kommentar hat - was die Amerikaner narration nennen. In den credits ist nicht vermerkt, daß er selbst ihn spricht.

Über diese Stimme wird dem bewegten, von Licht getragenen Filmraum und den schemenhaft wirkenden Ereignissen mit handelnden Personen, die japanisch reden, definitiv der Boden entzogen. Ihre Äußerungen in „dieser Welt ohne Wände“ bleiben eher echohaft in Erinnerung, als bloße Töne. Eine Frau ist verschwunden. Die Männer rufen sie. Kei-ko! Fünfmal derselbe Name, und jedesmal hat er ein anderes Gesicht, einen anderen Körper.

Zunächst sieht man glaubwürdige Bilder, die der Kommentar im nachhinein zu bloß wahrscheinlichen macht: wir vermuten, wir können nur ahnen, nur unterstellen, daß es sich so ereignete. Im Untertitel heißt der Film A Post Script to the Pacific Conflict.

Ganz im Sinn von Sternbergs ästhetischem Credo behandelt er den Ton als Element filmischer Synthetisierung. Der Kommentar, der gleichzeitig zuweilen auch Übersetzung ist, transformiert die Wahrnehmung der Bilder und verwischt ihre Konturen. Er funktioniert akustisch wie in den früheren Sternberg-Filmen die berühmten Überblendungen.

Die Mode der voice over-Filme begann in Hollywood in den vierziger Jahren. Darin fände, liest man häufig, das Lebensgefühl dieser unsicheren Zeit ihren Ausdruck. Aber bei den Regisseuren, die reflexiv mit ihrem Medium umgehen, ist es auch eine Kritik an den eingefahrenen Tonpraktiken, die, vom Dialog bestimmt, zu den klassischen Schuß/Gegenschuß-Inszenierungen geführt haben. Während man in Europa sich über den Direktton von diesen Klischees unabhängig zu machen versuchte, wurde in Hollywood der Ton von den nicht angepaßten Regisseuren benutzt, die Künstlichkeit des Mediums hervorzukehren.

Orson Welles unterminiert wie Sternberg den Realitätseffekt der vertonten Bilder über den Kommentar. Während Sternberg in Anatahan vorgibt, die Stimme einer der handelnden Personen zu sein - man weiß nicht welche -, und der Zuschauer ständig zu entscheiden hat, ob diese Stimme eine von außen ist oder aus dem Innern der Bilder kommt, bricht Orson Welles die Illusion in The Magnificent Ambersons, in dem er, der Erzähler, von außen sich einmischt und antwortet auf Fragen, die handelnde Personen stellen.

Beide Autoren respektieren nicht mehr die Rampe, die der Darstellung ihren ungestörten Platz einräumte. Mal stehen sie außerhalb des Geschehens, dann wieder begegnet man ihnen mittendrin. Diese allwissenden Kinoerzähler, die mit der eigenen Stimme für ihre Geschichten einstehen, bringen damit, im Unterschied zu denen der Literatur, ihre Person, durch sie ihre individuelle Unzulänglichkeit ins Spiel. Sie sind nicht nur verwundbar, sie zeigen sich als schon Verwundete. Die physische Präsenz ihrer Stimmen ruft ihr öffentliches Image auf.

Megalomanie und Narzißmus machten sie beide auf die Dauer unbrauchbar im Hollywood-System. Sie verfahren ähnlich mit dem Ton, aber ihr Verhältnis zur Sprache, zum Geschriebenen und zum Sprechen unterscheidet sie. Der eine sagt, ich bin Marlene; der andere unterschiebt sogar Schauspielerinnen seine Stimme. Sternberg schreibt seine Autobiographie in einer abgezirkelten, abgehobenen Sprache, während Welles die Literatur intoniert und verkörpert. Deshalb ist Welles, trotz seines europäischen kulturellen Firnis, in seinem Sprachverhältnis ganz Amerikaner, wenn man einräumen mag, daß deren Beitrag zur literarischen Entwicklung darin besteht, der ausgezehrten europäischen Schriftsprache einen kolloquialen, konversativen Sprachkörper gegeben zu haben in den Büchern von Twain, Henry James, Faulkner, von Gertrude Stein.

Welles löst in The Magnificent Ambersons noch die allerletzte Schrift, die credits, in Gesprochenes auf. Er spricht sie selbst, aber man sieht nicht ihn, sondern das Mikrophon, den Apparat, mit dem er Literatur verstärkte und vervielfältigte. Die Stimme hat das letzte Wort auf Kosten der Bilder.

Naturtheatertöne

Am Anfang stand eine falsch in die Erinnerung eingetragene Tonspur. In Straub/Huillets Dalla nube alla resistenza berennt Ödipus den blinden Teiresias mit bohrenden Fragen. Sie wenden dem Zuschauer den Rücken zu und sitzen auf einem Karren mit unförmigen Holzrädern, der von einem Ochsengespann, neben dem ein Fuhrmann geht, über einen langsam sich windenden Feldweg gezogen wird.

Schon beim ersten Sehen, und auch später immer wieder, fühlte ich mich erinnert an einen französischen Film von 1934, an Marcel Pagnols Angèle, in dem Edouart Delmont versucht, Fernandel zum Reden zu bringen, um ihm ein Geheimnis zu entlocken. Die beiden sitzen auf einer primitiven Dreschwalze, die ein Pferd unverdrossen, wie die Wendung heißt, im Kreise zieht. Was für eine Übertragung. So hingerissen war ich, eine steinige, harte Realität in den Flexionen der Stimmen wiederzufinden, daß die Erinnerung Töne formte, die weit ungewöhnlicher waren als die, die sich beim verifizierenden Wiedersehen real auf den Soundtracks befanden. In Dalla nube werden die Bilder mindestens so sehr geschüttelt wie die Töne. Die Konversation der beiden Landarbeiter bei Pagnol verläuft, trotz der Unebenheit des Bodens und dafür, daß die Szene mit Direktton aufgenommen wurde, erstaunlich glatt.

Aber es ist eine spezifische Form von Filmdialog, die damit geschaffen wird. Die Tonapparatur bewirkt die Distanzierung vom Theater und vom Buch und führt zu deren mythischen Ursprüngen zurück, als die Natur noch lebendig in den Wörtern war.

Die Tradition des Direkttons im französischen Film wird, zu kurz geschlossen, meistens dem Realismus verbunden. Es könnte sehr wohl auch mit dem besonderen Sprachverhältnis der Franzosen, mit der Bewegung, die in ihrer Redelust schwingt, zu tun haben, daß französische Regisseure in den dreißiger Jahren sich so begeistert dem Tonfilm zuwandten. Gerade diesen Zusammenhang hat Jacques Rivette überzeugend festhalten können in seinem Renoir für die Cinéastes de notre temps, in Renoirs mäandernden Sätzen und seinem Dreißigerjahre-Ton, der durch sein amerikanisches Exil sich konserviert hat.

Renoirs Direktton in La chienne macht den Film für die Wahrnehmung der Zuschauer nicht realistischer. Er typisiert über Töne, über Sprechweisen, er filmt Sprachkonventionen. Er verbindet den Ton der Kamera, auch da nicht zur Verstärkung des Realitätseffekts. Es ist durch technische Mittel erweiterte Erfahrung, in einer atemberaubenden Verbindung von Spontanität und Mechanik, die ein amerikanischer Interpret von La règle du jeu besonders treffend beschreibt mit einer Szene, in der die Kamera wie ein Hund die Tonquelle erschnüffelt.

Französischer Direktton ist Lokalton. Renoirs Aufmerksamkeit für Akzente zielt nicht auf lebensnahe Darstellung der Figuren, sondern registriert Reichtum und undisziplinierte Vielfalt von Tönen, die Hollywood mit seiner neutralisierenden Handhabung der Tontechnik und Dialogfunktion zum Verschwinden bringt.

Marcel Pagnol hatte bei Alexander Korda die Grundbegriffe des Filmens gelernt. Korda war aus Hollywood in die Pariser Paramount-Studios nach Joinville geschickt worden, um die Rückeroberung des französischen Absatzmarktes - mit gleichzeitiger Lancierung des amerikanischen Tonsystems - durch die Verfilmung lokaler Stoffe zu betreiben. Die Wahl war auf Marius von Pagnol gefallen.

So ungewöhnlich es war, 1930, daß ein erfolgreicher Theaterautor sich dem Tonfilm zuwandte, so wenig verwunderlich ist es bei Pagnol, wenn man den Gegenstand seiner Stücke in Betracht zieht, die Klasse von Menschen in ihnen und ihre Art, mit Sprache umzugehen. Das Theater, von seiner Geschichte her, ist nicht der Ort, an dem das Spiel kleinbürgerlicher Alltagsprobleme sich entfalten kann. Es macht aus akzentuierten Tönen unweigerlich Naturalismus. Weder schaut Pagnol seinen Landsleuten aufs Maul, noch legt er ihnen das einzig richtige Wort in den Mund. Diese vermeintlich sprachlose Klasse hat auf ihren Bühnen eine erstaunlich ambivalente Weise, sich sprachlich zu traktieren. Wie die schönen Worte eines kleinstädtischen Beaus in Angeles Ohren klingen, wie Fernandels Augen und Gebiß sich vorschieben beim Hinhorchen, um dahinterzukommen, ob eine Äußerung wieder einmal eine mensonge de finesse ist, nicht eine platte Lüge, eine verbale Umschreibung, die beweist, daß sie der Sprache sich zuallererst als Verkehrsmittel bedienen.

Im Kino wird nicht genug gelogen, schrieb Eric Rohmer 1948 in einem Artikel, der in den Temps Modernes erschien. In ihm fordert er einen kinogerechteren Umgang mit der Sprache, Sprache als gleichwertiges Element neben dem Visuellen, wodurch eine Verschiebung ihrer jeweiligen Bedeutungen zu bewerkstelligen sei. So wie er es dann später in seinen eigenen Filmen gemacht hat, in denen er Sprache photographiert, wie sie durch seine Protagonisten in Erscheinung tritt, aber auch, und das ist seine filmsprachliche Errungenschaft, deren Gedanken.

Gezanne „ging aufs Motiv“, um die Empfindungen der Malerei in Farben und Formationen neu zu verankern. Die Straubs durchforschen europäische Landschaften auf der Suche nach geeigneten Tonräumen, in denen der Teil der Literatursprache sich wie von selbst belebt, der in den Büchern wie in Gräbern ruht. Ihre Transponierungen sind auch Enteignungen. Texte in die Münder derer zurückzulegen, von deren Leben die Schreiber zehrten, macht aus ihnen noch keine Kulturträger. Aber sie nimmt denen die Kunst weg, in deren vermeintlich natürlichem Anspruch auf sie, die jede Anstrengung ablehnt, sich nichts äußert als ein schreiendes Mißverständnis und Verächtlichkeit.

Die deutsche Lady von Shanghai

Synchronisation hat bei Cinéphilen ein schlechtes Image und sogar bei Filmtheoretikern, deren Untersuchungen eher die Diskontinuität des Mediums heraussteilen, einen schlechten Ruf.

Es gibt keine Abhandlung über Filmton, die nicht Renoir über Synchronisation zitierte: „ein russischer Salat aus allen nur möglichen Gemüsen und Kräutern, schlechte Küche..., ein Monster, ein Hohn auf die Menschheit und auf Gott, ein Angriff auf die Unverletzbarkeit der Person, auf die Einheit von Körper und Seele.“ Nur Godard in seiner Filmgeschichte spricht sich offen für sie aus. Er würde am liebsten fünf, sechs verschiedene Stimmen, auch „von Tieren und Frauen“ mischen und sie den Schauspielern unterlegen. Er bedauert die Persönlichkeits- und Autorenvorstellungen, die in Europa solchen Freiheiten entgegenstünden.

Die viel beschworene Einheit von Körper und Stimme wurde mir auf verwirrende Weise erschüttert, als ich zum ersten Mal die Originalfassung, John Wayne mit seiner eigenen geschmeidigen Stimme reden hörte statt der eher abstoßenden rauhen Synchronstimme seines deutschen Sprechers Arnold Marquis, die seinen Rollen und seiner Erscheinung so viel mehr entsprach.

Heute weiß ich, wie Rita Hayworths echte Stimme klingt. Aber ihrem Bild in der Lady von Shanghai bleibt ihre deutsche fiktive Stimme, die von Til Klukow, in meiner Erinnerung immer verbunden. In ihrem sirenenhaften „Michael ...“ hat sich mir die ganze deutsche importierte Nachkriegserotik verkörpert. Diese Synchronstimme funktionierte, in der Reflexion, wie das Tüpfelchen auf dem i der Wellesschen Absicht, die illusionäre heile Darstellung im Hollywoodfilm über den Ton zu zerschmettern und die vom Apparat durchdrungene Filmwirklichkeit bloßzulegen.

Auch Renoir hat mit seinen späteren Filmen seinen Anprangerungen aus den dreißiger Jahren eher widersprochen. In The River schiebt er, distanzierend, die im kolonialen Englisch kommentierende Stimme der Autorin seiner Vorlage zwischen die Indienbilder und die Zuschauer. Aber schon in La chienne, für unser Ohr heute, hört man in seinen originalen Tönen mehr den Apparat als eine vertiefte Tonperspektive. Der Apparat hat sie aufgenommen, der Apparat gibt sie wieder. Die erste Prägung, der Fond, von Michel Simons Stimme ist, wohl möglich, wie Jean Louis Schefer sie beschreibt, die der Genfer Protestanten. Aber das leichte, weibische Meckern, das ist die innere Stimme des Phonographen.

Frieda Grafe
geb. 1934, ist Filmkritikerin in München (Filmkritik, Die Zeit, Süddeutsche Zeitung). Ihre Arbeiten liegen in zwei Anthologien vor: Im Off (1974) und Beschriebener Film (1985).
(Stand: 2019)
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