MATHIAS KNAUER

WACHSEND ORGANISCH ZUSAMMENGESETZT — EINE MISZELLE ZU MARX UND ZUR PRODUKTION VON FILMMUSIK

ESSAY

Das Thema ist nicht neu:

Die Zusammensetzung des Kapitals ist in zweifachem Sinn zu fassen. Nach der Seite des Werts bestimmt sie sich durch das Verhältnis, worin es sich teilt in konstantes Kapital oder Wert der Produktionsmittel und variables Kapital oder Wert der Arbeitskraft, Gesamtsumme der Arbeitslöhne. Nach der Seite des Stoffs, wie er im Produktionsprozeß fungiert, teilt sich jedes Kapital in Produktionsmittel und Arbeitskraft; diese Zusammensetzung bestimmt sich durch das Verhältnis zwischen der Masse der angewandten Produktionsmittel einerseits und der zu ihrer Anwendung erforderlichen Arbeitsmenge andererseits. Ich nenne die erstere die Wertzusammensetzung, die zweite die technische Zusammensetzung des Kapitals. Zwischen beiden besteht eine enge Wechselbeziehung. Um diese auszudrücken, nenne ich die Wertzusammensetzung des Kapitals, insofern sie durch seine technische Zusammensetzung bestimmt wird und deren Änderungen widerspiegelt: die organische Zusammensetzung des Kapitals.

Im Fortgang der Akkumulation [geht] eine große Revolution im Verhältnis zwischen Masse der Produktionsmittel und Masse der sie bewegenden Arbeitskraft vor. Diese Revolution spiegelt sich wider [...] im wechselnden Verhältnis seiner in Produktionsmittel und Arbeitskraft umgesetzten Wertteile. Ich nenne diese Zusammensetzung die organische Zusammensetzung des Kapitals.

(Karl Marx, Das Kapital, Band I, Kapitel 231)

Was die Musik betrifft, ist das Filmgewerbe, das näher als andere Kunstbereiche der industriellen Warenproduktion steht, prädestiniert für den Einbruch der Maschinerie in die ästhetische Form- und Sinnproduktion.

Die Bastler scheinen das begriffen zu haben: Eine Zeitlang erhielten wir als Filmemacher fast wöchentlich Zuschriften von Anbietern eines neu aufkommenden dubiosen Gewerbes:

Sehr geehrte Damen und Herren,

Als zweijährige Musik- und Geräusch-Kompositionsfirma für Film, Video und

Theater ist es uns eine Ehre, Ihnen zum neuen Jahrzehnt alles Gute und viel Erfolg zu wünschen ...Wie Ihnen bekannt sein dürfte, haben sich im Filmgeschäft die Zeiten stark gewandelt. Um uns einen Überblick zu verschaffen, bitten wir Sie, die beiliegende Antwortkarte an uns zurückzusenden [...]

Wir scheuen auch in Zukunft keinen Aufwand, Ihrem Kunstwerk das optimal Entsprechende zu bieten und empfehlen uns weiterhin für sämtliche Musik- und Geräuschkompositionen.

Ihre A445 AG.

Tatsächlich: Es haben sich „im Filmgeschäft die Zeiten stark gewandelt“.

Im Herbst 1939 war — bekanntes, wenn auch extremes Beispiel - nach Abschluß der Montage die Produktion von Gone With the Wind während zwölf Wochen stillgestanden, unter äußerstem Zinsdruck des Kapitals, mit dem dies Millionenunternehmen finanziert wurde, um dem Komponisten Max Steiner Zeit zu geben, im Eiltempo eine der längsten wohl je geschriebenen Filmpartituren zu skizzieren und sie parallel dazu manufakturmäßig von fünf Instrumentatoren ausschreiben zu lassen - von Hugo Friedhofer, Bernhard Kaun, Adolph Deutsch, Maurice de Packh und Heinz Roemheld, selber alles Komponisten von Rang und damit auch Mitautoren einer Partitur, die Steiner ohne ärztliche und pharmakologische Unterstützung nicht zustandegebracht hätte.

Unbestritten war zu jener Zeit die Bedeutung einer soliden Partitur für ein Filmwerk von Gewicht; selbstverständlich die Budgetposten für Komponisten, Einstudierung und Orchester.

Es gab die Fachleute, die das Metier der Filmkomposition beherrschten und mit der Moviola umzugehen wußten, und kein ernstzunehmender Produzent hätte sich getraut, einen Schnösel, Schwachkopf oder Dilettanten mit der delikaten Aufgabe zu betrauen, die dem handwerklichen Anspruch nach der Opernkomposition näher stand als der Konzertmusik und damit Leuten mit erprobtem Metier Vorbehalten war, die, häufig wirklich Opernkomponisten wie Wolfgang Erich Korngold, einer solchen Aufgabe gewachsen waren.3

Die Praxis entspricht der damals voll ausgebildeten industriellen Form der Filmproduktion. Die Arbeitsteiligkeit des Films glich jener von Opernhäusern, und trotz allen Fesselungen des künstlerischen Produzierens war die Arbeit des Komponisten beim Film technisch kaum verschieden von der eines Symphonikers oder Opernmanns: eine Arbeit von geringer Produktivität, also mit einem hohen Maß an angewandter Arbeitskraft im Verhältnis zu den dabei in Gang gesetzten und verzehrten Arbeitsmitteln. Zum Notenpapier, zu Tinte, Radiermesser, Lichtstrom, Raum miete und Heizung, meistens auch dem Klavier und einer Schreibmaschine traten einzig die Stoppuhr und der Filmbetrachter, um sich an der montierten Arbeitskopie zu orientieren.

Nun hat wegen des hohen Kapitaldrucks schon früh auch bei wohlausgestatteten Produktionen ein Abbau der Ansprüche an die Filmmusik eingesetzt. Blieb schon zur Stummfilmzeit die große Orchesterfassung - also die Originalkomposition - den Erstaufführungstheatern Vorbehalten (die nachspielenden Häuser reduzierten die Partituren bis auf die Kinoorgel oder das Klavier), so brachte der Tonfilm verstärkt die Tendenz, nur die höchstklassigen Filme von seriösen Meistern wie Waxman, Korngold, Steiner oder Rosza ausführen zu lassen, während die billigeren eher mit schematischen Arbeiten ausstaffiert worden sind, immer aber doch von Leuten mit konservatorischer Bildung und wenigstens durchschnittlichem Metier.

Bedeutende Kollegen hingegen, selbst jene, die wie Schönberg sich für den Film ernsthaft interessiert hatten, fanden im Film kaum je Arbeit, und die experimentellen Arbeiten etwa Eislers oder Honeggers waren Ausnahmen in marginalen Produktionen eines sonst musikalisch durchaus reaktionären Umfelds.

Denn der Filmmusik kommen unterm Diktat des Warenzusammenhangs kaum je künstlerische, vielmehr ideologische Funktionen zu: wie überhaupt Musik im Alltag heute den schäbigen oder fehlenden Lebenszusammenhang, kittet sie im Film die schlechte Dramaturgie und darf keinesfalls stören, indem sie sozusagen selber das Wort erhebt.

Konnten in der Frühzeit noch die Traditionen des bereits obsoleten Opernmetiers den Filminteressen ökonomisch sinnvoll dienstbar sein, so waren Stücke auf aktuellen oder vorgeschobenen ästhetischen Positionen oder auch nur von gewagterer Instrumentation für die Zwecke des Filmgeschäfts nur ausnahmsweise geeignet, wenn es einmal um eine Traumsequenz oder Schreckensvision ging.

Das Formdenken ist im Film, verglichen mit den anderen Künsten, von der Gewalt des Kapitals brutaler unterdrückt und domestiziert worden; hier liegt die Wurzel für die Trennung auch der Kunstmusik vom Film. Das Feld ward überwiegend Scharlatanen und Kurzwarenschreibern überlassen, und selbst gelegentlich radikale Geister wie Godard, die sich emphatisch bis propagandistisch um modernste Technologie bemühen, begnügen sich regelmäßig mit musikalischem Biedersinn oder greifen (etwa in Prénom Carmen) auf gesicherte und tantiemenfreie Werte zurück.

Die Auseinandersetzung der Regisseure und Autoren mit der musikalischen Möblierung ihrer Filme dürfte freilich, auch in den ambitionierteren Werken, immer schon beschränkt gewesen sein. Wo überhaupt sie mitreden durften, war es eine Diskussion mit einer Fachautorität, die ohne qualifizierte eigene Kenntnisse schwer anleitbar war, und Meinungsverschiedenheiten mit dem Komponisten liefen in der Regel auf dessen Ersatz durch einen anderen hinaus, von dem man sich heilsamere Klänge erhoffte - selten auf ein Herumdoktern an der Musik im Montageraum. Die musikalische Zuständigkeit des Regisseurs bornierte sich, wie heute, auf Genretraditionen, und wo das Drehbuch Musik verlangte, waren die Komponisten zwar auf sich selbst gestellt, ja alleingelassen, aber durchaus nicht frei.

Nun ist bei den reduzierten Möglichkeiten unseres Produzierens unterdessen der zünftige Komponist als zentraler Mitgestalter ganz verdrängt worden. Von den vielen mir persönlich bekannten Komponisten ist kaum einer je mit einer ernsthaften Arbeit im Film betraut worden, und die Suche nach weltweit namhaften in den Filmographien von Autoren, die auf den Festivals als Bannerträger der Filmkunst herumgeboten werden, bliebe ein aussichtsloses Geschäft.

Bei wichtigen Musikveranstaltungen - wie neuerdings bei Cage-Konzerten im vergangenen Sommer in Zürich - trifft man denn auch manchen Schriftsteller und Kollegen der Bildenden Künste, aber schwerlich einen Filmemacher. Da Musik, wie im übrigen schäbigen Ohrenleben vieler Regisseure auch in ihren Filmen nicht gehört, bloß mehr oder minder stumpf vernommen werden soll, reduziert sich so der Anspruch an die Musik auf ein äußerstes Minimum. Weder in der Schule noch bei einer Filmakademie mit einer musikalischen Bildung ausgestattet, oft musikalisch Analphabeten, nach dem Ende einer kohärenten Filmmusik-Tradition orientierungslos und von den verschwundenen Produzenten im Stich gelassen, stützen sich so die Regisseure in der Regel auf ihr wackliges und unerzogenes Gefühl und beuten in der Nachproduktion, wenn Geld und Zeit schon knapp zu werden drohen, recht beliebig verfahrend, Musikaufnahmen auf Schallplatten aus; sie sparen mit dem Komponisten zugleich auch die Interpreten ein.

In dieser Lage bietet sich der Maschinerie und ihren unbekümmerten bis dreisten Operateuren ein Marktplatz dar.

SUISAFREIES MUSIKARCHIV

Auf neusten digitalen Instrumenten wird bei uns von Profi-Musikern laufend Filmmusik komponiert und eingespielt. Diese Musik läßt sich am Computer bildgenau anpassen (Länge, Charakter, Instrumente). Da wir diese Musik auftragsbezogen zum Minutentarif verkaufen, brauchen Sie sich nicht mehr um die Musikrechte zu kümmern (Demokassette verlangen). [Werbeschreiben einer Elektronikfirma in Herzogenbuchsee]

Sehr geehrter Herr Knauer

Wenn Sie sich die Mühe ersparen wollen, in Plattenarchiven nach einer passenden Filmmusik zu suchen - dann kontaktieren Sie mich!

Ich komponiere für Sie die gewünschte individuelle Musik.

Als Musiklehrer mit eigenem Tonstudio, ausgerüstet mit den nötigen technischen Mitteln, bin ich in der Lage, diese anspruchsvolle Aufgabe für Sie zu übernehmen. [Werbeschreiben aus Neuhausen am Rheinfall]

Ich bin nebst der alten Schule (Partituren schreiben), mit dem neusten „Kurzweil 250“ mit Computer ausgerüstet. Ich verfüge deshalb über die weitbeste Klangbibliothek. [Werbeschreiben aus Adliswil]

Wenden Sie sich an uns, das Komponistenkollektiv vom Studio A.

Vorteile:

erfahrene Komponisten mit Hochschulabschluß stehen Ihnen zur Verfügung

die Komponisten denken mit

die musikalische Infrastruktur ist vorhanden

psychoakustische Klangereignisse zu komponieren sind unser tägliches Brot

Studio, Komponisten und Erarbeitung von Spezialeffekten sind eine Einheit [Werbeschreiben aus Breganzona]

Daß von daher nur Konformismus kommen kann, die stete Reproduktion des Zwangssystems mit dem nunmehr kybernetischen instrumentum vocale und semivocale des Kapitals, ist unvermeidlich.5 Denn das wirkliche Geschäft des Komponisten liegt ja entscheidend im Nachdenken, in der Auseinandersetzung mit Stoff und Form des in Frage stehenden Films, mit der Tradition der Formen und den konkreten Umständen, in denen jede ästhetische Entscheidung jedesmal steht. Bei der Herstellung von Kompositionen ist (außer bei der Reinschrift) das krude Handwerk und die durch Maschinerie ersetzbare Tätigkeit bloße Grundlage der eigentlichen Arbeit, die zur Hauptsache im Verwerfen sich rasch anbietender Möglichkeiten besteht - also in der qualifizierten, auch politischen Negation, von der keine Maschine den Komponisten zu entlasten vermag.

Aber mit oder ohne Computer: Die Zeiten haben sich gewandelt. Die Komponisten bleiben arbeitslos, derweil sich die Filmleute von den bastelnden Maschinisten bedienen lassen: perennierende Quacksalberei statt kompositorischer Emanzipation vom Unterhaltungsdreck.

Für eine einläßlichere und theoretische Beschäftigung mit dem hier bloß angetippten Themenkomplex verweise ich auf Heinz- Klaus Metzger, „Die organische Zusammensetzung der Musik“, in: Musik wozu, ed. Rainer Riehn, Frankfurt am Main 1980, S. 229-243.

Cf. Tony Thomas, Music for the Movies, S. 116-117. Steiner mußte zur gleichen Zeit noch seine Symphonie moderne für den Film Four Wives komponieren; im selben Jahr 1939 hatte er schon die Musik zu elf anderen Filmen geschrieben.

Die rigiden Verhältnisse der industriellen Filmmusikproduktion sollen hier in keiner Weise beschönigt werden. Während Max Steiner an der Partitur von GWTW arbeitete, ließ der Produzent, David O. Selznick, durch den ebenfalls vielbeschäftigten Franz Waxman eine „Sicherheitspartitur“ hersteilen für den Fall, daß Steiner und seine Leute die Arbeit nicht termingerecht schaffen würden. In einem „Memo“ vom 7.11.1939 weist Selznick seinen Direktor der Musikabteilung und die Produktionsleiter an, „commencing today, and daily until the score of GWFW and the score of Rebecca are completely finished, I should like a daily report from you, without fail, telling me the exact progress of each score [...] This should include [...] what has been accomplished by Waxman on the so-called insurance score that we are having him write against the possibility that Max will not be ready by our deadline date. Please be sure that this report does not include hearsay information, but only facts that you yourself have checked... “ Kurz vor Abschluß der Komposition wurde vorsorglich und unter größter Geheimhaltung noch einem weiteren Komponisten (Herbert Stothart) der Film vorgeführt: Hätte beim Anhören der ersten Tonaufnahmen von Steiners Musik deren Qualität nicht befriedigt, wäre Stothart sogleich mit der Umarbeitung betraut worden. Selbst ein erfahrener und erfolgreicher Filmroutinier wie Max Steiner (er hatte bis dahin hundertvierundsechszig Filmpartituren verfaßt) wurde an kürzester Leine gehalten: bevor die Orchesteraufnahmen gemacht werden durften, verlangte Selznick, daß ihm die Musik vorgespielt werde durch „as small an Orchestra as is practicable for the purpose“, „to permit me to express opinions on anything I don’t like“. (Cf. R. Behlmer, Memos from David O. Selznick, New York 1972, S. 218)

Der interessante Ennio Morricone zum Beispiel, der enge Beziehungen zur Avantgardemusik hatte und noch vor einigen Jahren im Improvisationskonzert eines italienischen Ensembles - allerdings von sämtlichen Zürcher Subkulturen unerkannt - in der Zürcher Tonhalle aufgetreten ist, verschwendet seine Intelligenz und sein Handwerk auf lukrative Trivialsachen. Die Talente können sich nicht auf der Höhe der kompositorischen Produktivkräfte entfalten, und wo man faute de mieux sich bei ihnen auf Innovationen bezieht, zeigen sich bei genauerer Prüfung die Stücke als Trompetengold-Entwürfe eines möglichen Reichtums.

Instrumentum vocale-, Sklave; instrumentum semivocale-. Arbeitstier.

Mathias Knauer
1942, Musikwissenschaftler, politischer und Medienjournalist, Mitglied des Filmkollektivs Zürich, Filmemacher (Ein Streik ist keine Sonntagsschule, 1975; Kaiseraugst, 1975; Cinema mort ou vif, 1977; Aufpassen macht Schule, 1978; Die unterbrochene Spur, 1979/82; Pueblo, 1985), lebt und arbeitet in Zürich.
(Stand: 2019)
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