CHRISTINA REY-COQUAIS / TANIA STÖCKLIN

EIN KATZ- UND MAUSSPIEL

ESSAY

CRC Ich werde Ihnen Fragen zu Ihrer Arbeit stellen, zu Überlegungen, die Sie zurzeit aus Ihrem Kontext heraus beschäftigen. Momentan halten Sie sich in Paris auf, wo Sie bald ein Casting machen werden für Ihr nächstes Filmprojekt. Hat Sie außerdem etwas hierher geführt?

TS Ich habe Abwechslung gebraucht. Es hat mich gewissermaßen aus Zürich, wo ich wohne, hinausgetrieben. Zürich kenne ich gut. Dadurch entsteht eine Sicherheit, die mich bisweilen beengt. Hingegen an einem relativ unbekannten Ort zu sein, ohne die vertrauten Personen, Orte und gewohnten alltäglichen Abläufe und Strukturen, steigert die Wahrnehmung (eines meiner Lieblingsbücher handelt davon: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von Rainer Maria Rilke. Es spielt übrigens auch in Paris). Für meine Arbeit oder Denkprozesse brauche ich hin und wieder Anonymität, den Ausfall aus der sicheren Umgebung, auch aus den eingespielten Problemen. Es geht dabei einerseits um eine neue Sicht, aber auch um die Relativierung der Dinge.

CRC Suchen Sie die sogenannte schöpferisch-kreative Einsamkeit?

TS (überlegt kurz): Eigentlich ... nein. Es geht mir konkret um andere Eindrücke. Wenn diese unvertrauter sind, provozieren sie eine fast permanente Umsetzung im Kopf, werden dadurch plastischer wie auch transparenter. In einem unbekannten Viertel - hier zum Beispiel in Paris - zu spazieren, ist ein bißchen wie im Kino sitzen. Die Menschen werden zu Figuren, zu Trägern von Codes oder zu Prototypen: „Der Besoffene“- „Die Alte am Stock“- „Der Einbeinige“- „Die Elegante“ - u.s.w. Und wenn man das zweite Mal denselben Weg geht, ist man fast erstaunt, anderen Figuren zu begegnen, da man doch sozusagen im selben Film zu sitzen meint.

Ich erlebe mich als seltsam brüchig in solchen Momenten der gesteigerten und auch assoziativen Wahrnehmung. Ich registriere, aber es ist, wie wenn ich andererseits nicht wäre. Wenn ich in den Spiegel schaue, kann ich mich wundern, daß ich so aussehe, wie ich aussehe. Wie wenn ich eine ganz andere sein müßte.

CRC Wie wirken sich diese Eindrücke auf die Arbeit aus? Kann man von einer direkten Verwertung sprechen?

TS Das wäre zu einfach. Diese täglichen Wahrnehmungen sind natürlich nicht direkt und gradlinig umsetzbar. Aus den gesehenen Figuren und Gegebenheiten läßt sich nicht einfach, beispielsweise, ein Drehbuch schreiben. Sie sind punktuell - sind flüchtig. Im Prinzip bleiben Fragmente zurück, die, bald oder auch erst viel später, in einer Arbeit wieder auftauchen können, vielleicht ohne mir dann der Herkunft bewußt zu sein und in einem neuen Kontext.

CRC Im Prinzip sprechen Sie von Inspirationsquellen. Von Berlin erzählten Sie mir Vergleichbares wie jetzt bezüglich Paris. Brauchen Sie demnach zum Arbeiten eine ungewohnte Umgebung?

TS Im Gegensatz zu Paris habe ich in Berlin wirklich jahrelang gelebt. Aber es war sozusagen immer ein wenig „in der Fremde“. Der Unterschied einer nationalen, resp. herkömmlichen Mentalität verliert sich vermutlich nie ganz, so daß ein kleiner Rest der „andern Wahrnehmung“ bleibt. In meinen gesamten Berlinerjahren haben mich die riesigen fensterlosen Brandmauern zahlreicher Gebäude unglaublich beeindruckt. Ich hatte davor nie zwischen solchen Mauern gelebt. Sie waren für mich wie große Leinwände, auf die ich gewissermaßen meine Eindrücke, und auch Gefühlszustände, schon rudimentär umgesetzt, projizieren konnte. Aber liegt es nur an „der Fremde“ allein? Ich denke oft, daß die Schweiz mit ihrer architektonischen, städtebaulichen permanenten „Kosmetik“ zum Beispiel einfach nicht sehr viel bietet für die optische Inspiration. Einerseits sieht man keine architektonische Megalomanie und andererseits keine Spuren der Vergänglichkeit. Alles scheint in ein und derselben Rechtschaffenheit renoviert. Du schaust wie durch eine Milchglasscheibe. Dafür hat man die Annehmlichkeiten eines Lebens in einem relativ sicheren Rahmen.

CRC Wie entstehen bei Ihnen Filmideen, wie entwickelt sich der Prozeß zu einer Geschichte?

TS Ich bin eher der Typ, der erstmal zur Negation neigt, Ideen zu verwerfen tendiert... (lacht) ein schlechter Charakter, der zerstörerisch wirkt.

Es bleibt eine Art brodelnde Masse aus Fragmenten, sozusagen ein multimediales Konglomerat im Kopf, bestehend aus Bildern, Tönen, Gesten, Klängen, Sätzen, die sich noch nicht an eine bestimmte Idee binden müssen, die sich eventuell an mehrere Geschichten, Inhalte adaptieren lassen - natürlich in einem dramaturgischen Kontext, der Notwendigkeiten (finde ich wesentlicher als der Begriff „Spannungen“) schafft. Ohne deshalb Formalistin zu sein - eher Puristin -, ist mir die Form, das heißt, wie etwas erzählt wird, sehr wichtig. Ich glaube außerordentlich stark an die Erzählkraft von Bildern oder von Geräuschen oder von deren Zusammenwirken. Der formale Stil eines Films ist mir ebenso wichtig wie zum Beispiel die Psychologie seiner Figuren. Der formale Stil ist sozusagen die Psyche eines Films.

Eine Geschichte kann sich sowohl über eine Figur als auch über eine Handlung oder ein Ereignis aufbauen. Sie kann aus dem „Reservoir“ an Themen, die mich seit längerem interessieren, kommen oder auch gleichsam frisch gefunden oder erfunden werden. Am Anfang sind die Geschichten ziemlich verworren; mit ihnen beginnt die Phase der Affirmation. Das heißt, ich beginne sehr assoziativ zu denken und bin sogar für Ideen offen, die mir vielleicht gar nicht unbedingt gefallen, denen ich auch noch nichts Endgültiges zuschreibe, die ich aber manchmal benützen kann, indem ich sie transformiere, weiterentwickle, Einzelheiten herausfiltere, oder indem sie andere Ideen oder Zusammenhänge aufdecken.

CRC Ihren Ausführungen zufolge gehören Sie offenbar den Autorenfilmerinnen an.

TS Auf eine beinahe sentimentale Weise bin ich Anhängerin vom Autorenfilm, und gleichzeitig strebe ich mehr und mehr an, jemanden zu haben, der/die die Geschichten schreibt, während ich lieber den spezifisch filmischen Part übernehme.

CRC Der Autorenfilm kommt ja auch mehr und mehr aus dem Trend. Sie schließen sich somit dieser Mode an?

TS In der Zeit ist es jeweils kaum zu beurteilen, ob man einer Mode oder einem eigenen Bedürfnis unterliegt. Es gibt aber bestimmt den Zeitgeist. Das zeigen am besten die Ideen selber. Etliche Beispiele zeugen davon, daß unabhängig voneinander, an verschiedenen Orten von verschiedenen Leuten eine selbe Idee entwickelt wurde (was bisweilen den verbissenen Kampf um Originalität ins Lächerliche zieht).

Meistens habe ich bis jetzt mit jemandem zusammen geschrieben. Den Prozeß des Schreibens empfinde ich, obwohl ich an sich gerne schreibe, als schmerzhaft. Alles ist offen, alles ist möglich. Und wenn alles möglich ist, ist genausogut nichts möglich. Das weiße Papier ist die reine Provokation.

Für mich gehört das Drehbuch zu den schwierigsten Phasen bei der Entstehung eines Films. Dreharbeiten können hart sein. Aber sie sind zumindest konkret. Denn es ist etwas da, worauf man baut, die Maschine läuft, die Dinge sind vorgedacht, konzipiert oder aufgeschrieben oder sonstwie schon festgehalten.

CRC Was ist für Sie ein gutes Arbeitsgefühl?

TS Es mag pathetisch klingen und ist ein scheinbarer Widerspruch, der für mich aber keiner ist: Ein gutes Arbeitsgefühl macht mir bewußt, daß ich lebe, sowie es mich vergessen läßt, daß ich lebe.

CRC Können Sie diese Aussage präzisieren, sie leuchtet mir nicht ganz ein.

TS Ich spüre eine Vitalität, die zu einem Ziel führt, an das ich glaube, das also über Sinn verfügt, für den sich das Leben lohnt. „Ich kann vergessen, daß ich lebe“, wiederum sinnbildlich gesprochen, bedeutet für mich der Zustand einer, sagen wir mal, Entmaterialisierung. Vielleicht entspricht er sogar einer Art Rausch. Arbeit kann ja bekanntlich auch süchtig machen. Ich kann z.B. vollkommen die Zeit vergessen, kann zu essen vergessen, weil ich keinen Hunger mehr habe. Dinge, die das tägliche Leben strukturieren und bestimmen, werden nahezu hinfällig. Auch die kleinen oder gar größeren Sorgen des Alltags versinken irgendwo im Vergessen. Der Zustand der Vitalität bedeutet Entfesselung; die Fesseln des Lebens werden gesprengt.

CRC Hat ein Film oder eine Filmrealisatorin eine Botschaft durch ihr Werk zu vermitteln? Welche Verantwortung trägt sie?

TS Ich sehe mich nicht in der Rolle der Schulmeisterin. Ich bin nicht der Meinung, daß ein Film Lebensrezepte verabreichen muß oder unabdingbar einen moralischen Standpunkt beziehen muß. Auch müssen meiner Meinung nach keine Lösungen geboten werden, wie das mancherorts von einem Film verlangt wird. Ein Film kann Probleme aufwerfen und durchaus das Publikum mit diesen alleine lassen (muß das aber natürlich nicht). Die Verantwortung liegt für mich in der Integrität eines Produkts. In der künstlerischen wie menschlichen oder allenfalls ideologischen. Ob reine Unterhaltung geboten, eine Botschaft vermittelt oder ein aktuelles oder historisches Problem schwerwiegend aufgeworfen wird, ist nicht von vornherein zu werten. Ob ein Film ein großes oder ein kleines Publikum anspricht, ebensowenig (abgesehen von der kommerziellen Seite). Was mir eher Angst macht, ist die Gleichschaltung, die Sehgewohnheiten, das Rezeptbuch der Filmemacherei.

CRC Es würde Ihnen also nichts ausmachen, Ihre Filme „für den Kühlschrank“ herzustellen?

TS Sicher will ich, daß meine Filme gesehen werden. Aber mich reizt nicht in erster Linie die Bedienung der Massenindustrie. Oft erschrecke ich darüber, wenn die besten Filme im Fernsehen immer später und noch später ausgestrahlt werden. Und zwar nicht irgendwelche seltsamen oder intellektuellen Essays, sondern spannende, auch unterhaltende Werke der Filmgeschichte und -Gegenwart.

Das macht mir zum Beispiel Angst, aus kommerziellen Gründen immer mehr gezwungen zu sein, künstlerische Anliegen zurückzustellen, daß der Film aus den Genres der Kunst abgedrängt wird, welche sich hinter den Marktwert zu stellen haben. Wenn ich an Verantwortung denke, dann geht es mir darum, mich für künstlerische Qualität und Individualität einzusetzen. Das ist nicht immer einfach. Denn bevor ein Film gedreht wird, muß man ja viel Geld beschaffen, viele Gremien durchwandern. Und das bedeutet immer auch Rechtfertigung. Diese Rechtfertigung kann unter Umständen ein Werk zerstören, kann zumindest entmutigend wirken.

CRC Wie drängt sich diese Rechtfertigung in ein Werk ein?

TS Ich möchte von vornherein klarstellen, daß ich nicht gegen kritische Einwände bin, im Gegenteil. Sie interessieren mich und helfen mir auch in vielen Fällen. Wenn ich mein Gegenüber kenne, also einschätzen kann, ist das die beste Voraussetzung, die Kritik fruchtbar zu verwerten.

Gremien sucht man sich nicht aus, man ist abhängig von ihrer Macht im ganz grundsätzlichen Sinn: Macht = Geld = Recht. Nach meiner Erfahrung beurteilen Gremien oft aus der Perspektive bewährter Regeln. Dies spornt nicht das Ungewöhnliche, Extreme in einer Arbeit an, sondern mahnt zu Mäßigkeit, zielt damit auf Sicherheit, kann so die Persönlichkeit, die Eigenwilligkeit, die ein spannendes Werk prägt, gefährden. Klassische Frage: Was für Filme könnte ein Godard heutzutage realisieren, wenn er der unbekannte X wäre? Unbekannten Filmkünstler/innen droht ihre Eigenwilligkeit zum Vorwurf gemacht zu werden, und es braucht Mut, nicht einem Konformismus zu verfallen, weil dieser schneller zum Ziel führt und erfolgversprechender scheint. Während meiner Ausbildung an der Filmhochschule hatte ich das Privileg, unzensuriert, ohne Rechtfertigungs- und Rentabilitätszwang in einer Art filmischem Forschungslabor zu arbeiten - ein Rahmen, den man natürlich nicht auf die freie Filmproduktion übertragen kann, durch den ich aber in jeder Hinsicht am meisten gelernt habe.

Oft wünsche ich mir, ich wäre Malerin geworden, da ich die bildende Kunst als unabhängiger einstufe. Sie ist nicht so an eine Industrie gebunden wie das Kino, ist somit von viel weniger konformistischem und kommerziellem Druck belastet und dadurch auch - nicht nur im technischen Sinne, sondern auch im inhaltlich-formalen - offener für Forschungsarbeit. Als Malerin allerdings würde mir wahrscheinlich der multimediale Aspekt, den ich beim Film finde, fehlen, wie auch die Auseinandersetzung in der Zusammenarbeit mit andern und die „Aktion“, die verschiedenen Wechselbäder.

Ich bin immer wieder von neuem fasziniert über die Vollkommenheit einer filmischen Arbeit. Bild, Ton, Sprache, Musik, Darstellung ... verbinden sich in einem Werk. Und mit der jeweiligen Konzentration auf das, was ich gerade bearbeite, verändert sich auch enorm die Ausrichtung der eigenen Sensibilität von Wahrnehmungen.

CRC Die Konfrontation mit anderen Kunstrichtungen bedeutet Ihnen viel und stimuliert Ihre Produktivität.

TS Ja sicher. Die bildende Kunst ist darin vielleicht am wichtigsten, zumindest in der Ausgangslage. Es sind mehr die Bilder, die mich inspirieren, als Geschichten. Oder anders gesagt, Geschichten beschäftigen mich, Bilder regen mich an.

CRC Und Aktualitäten, wie wirken sich diese auf Ihre Arbeit aus?

TS Unterschiedlich. Doch zuerst, was sind konkret Aktualitäten? Landläufig sind es Dinge, die in den Zeitungen stehen, in den Nachrichten gesendet werden. Es sind Dinge, die auf der Straße passieren, die ein soziales Leben spürbar beeinflussen. Es sind aber auch private Dinge, die aktuell sind, persönliche Erlebnisse und emotionale Zustände. Und es sind auch Dinge, die man geistig aufnimmt, also andere künstlerische Werke, egal aus welcher Zeit sie stammen. Aktualitäten in diesem Umfang prägen natürlich meine inhaltliche und formale Umsetzungsarbeit. Ich wähle bewußt wie auch unbewußt, was ich mir in welchen Phasen zuführe. Es gibt Zeiten, in denen ich nie Zeitung lese, aber viel Kunst anschaue oder Krimis lese oder umgekehrt.

Falls es sich nicht um eine ganz direkte Umsetzung handelt, brauche ich eine gewisse Distanz. Zum Beispiel der Golfkrieg: Unter den damaligen gräßlichen Eindrücken und Berichten wollte ich das Thema sofort in mein Drehbuch einbeziehen und habe gemerkt, daß es furchtbar lapidar wird. Auch mit privaten Ereignissen ging es mir ähnlich. Für die reine Fiktion brauche ich die Zeit als Filter zwischen Ereignis und Umsetzung. Zudem benütze ich ein bestimmtes Ereignis lieber indirekt, also so stark umgesetzt, transformiert, daß es nicht mehr unbedingt sofort als solches erkannt wird. Das liegt an der Allgemeingültigkeit der Themen. Sie stehen nie für sich allein, sondern immer in einem größeren Bezug; sie sind exemplarisch. So zum Beispiel habe ich das Thema Aids (resp. wie teilweise damit umgegangen wird) in meinem letzten Film sehr indirekt umgesetzt. Nicht unbedingt das ganze Publikum merkt dies konkret, aber trotzdem ist das Thema in seiner dämonenhaften Angsterzeugung und den daraus mitunter folgenden Pogromstimmungen in einem weiteren Sinne transparent gemacht.

An der Fiktion fasziniert mich, daß du 90 Minuten eine eigene Wirklichkeit behaupten kannst. Du kannst also behaupten 2 + 2 = 5, und es gibt nichts dagegen einzuwenden. Natürlich wird dabei sofort 2 + 2 = 4 assoziiert, und somit ist automatisch die Referenz zur Wirklichkeit oder Aktualität außerhalb der 90 Minuten wieder hergestellt.

CRC Woraus bestehen die Elemente der Bereicherung in dieser fiktiven Wirklichkeit? Oder handelt es sich eher um Großenwahnsinn im Zusammenhang mit Realismus?

TS Die Bereicherung besteht im Ausdruck der Phantasie, die selber wiederum nicht einfach von der Realität abzutrennen ist. Phantasie ist ein Mittel, Emotionen umzusetzen, ein Mittel der subjektiven Äußerung. Die fiktive Wirklichkeit hat die Möglichkeit, mit Metaphern zu funktionieren. Das entspricht einer Form von Sinneserweiterung. Lesen Sie Sagen aus der Schweiz! Für mich bedeuten diese ein realistischer Spiegel der Gesellschaft. Und wie wird die Angst dieser patriarchalen Gesellschaft vor dem Weib darin ausgedrückt? Die Weiber verwandeln sich in Katzen, mysteriöse Raubtiere, die bei Vollmondnacht Männer umbringen. Die fiktive Wirklichkeit kann sich der Surrealität bedienen. Als Künstlerin bin ich nicht Analytikerin. Was den Größenwahnsinn anbelangt, ist dieser vielleicht sogar notwendig für die Veräußerung eines künstlerischen Werks.

CRC Wie wählen Sie Schauspieler für einen Film? Ich meine damit nicht die technische Castingarbeit, sondern ich möchte wissen, was Ihnen bei der Wahl der Darstellerinnen wichtig ist, was diese Wahl prägt.

TS Generell bin ich nicht fixiert. Natürlich habe ich konkrete Vorstellungen, aber bei Castingarbeiten lasse ich mich auch gerne inspirieren und kann je nachdem sehr schnell im Kopf probeweise eine Rolle auf eine Person modifizieren (solange sie in einem gegebenen Rahmen bleibt). Eine starke Charakterperson kann unter Umständen eine Rolle gerade dadurch bereichern, daß sie nicht 100%ig hineinpaßt und ihr durch diese Abweichung eine größere Prägnanz und reichere Facetten verleiht. Natürlich wäre es interessant, mit sogenannten Stars zu arbeiten - nicht nur wegen der Kasse. Aber mich persönlich interessiert es auch, Leute zu entdecken, ohne die Sicherheit im Rücken. Diese Haltung ist etwas, was sich auf die gesamte filmische Arbeit ausweiten läßt. Wichtig ist mir, daß Darsteller irgendwo einem Extrem entsprechen, d.h. individuell gezeichnet sind. Nebst der Interpretation einer Rolle sollen sie auch Figuren verkörpern, markante Attribute ihrer Rolle aufweisen. Das geht in Richtung der Stilisierung oder der Stereotypisierung.

CRC Stereotypen sind oft verpönt...

TS Ich mag Stereotypen, Clichés, sogar den Kitsch (aber nicht die Karikatur!), wenn sie mit Ironie gehandhabt werden, wenn sie nicht auf der ersten, sondern auf einer zweiten Ebene stattfinden und danach einen distanzierten Blick schaffen. Das hat vielleicht auch damit zu tun, daß ich nicht besonders humorvoll bin, mich dem schwarzen Humor, der oft eine bissige Distanz in sich birgt, verbunden fühle, mehr dem bitteren oder bitterbösen Lachen als der Heiterkeit.

CRC Hätten Sie die Wahl, in welcher Zeit würden Sie gerne leben?

TS Schwierig zu sagen, aber wenn ich von den Kunstwerken und ihrer Atmosphäre ausgehe: in der Zeit des Dadaismus. Es gab damals eine enorme spirituelle Kraft, die den Künstlern gleichzeitig den Individualismus erlaubte wie auch einen gemeinsamen schöpferischen und kunstpolitischen Aufbruch. Durch die komplette Infragestellung der künstlerischen Werte und Definitionen hat sich ein riesiges künstlerisches Forschungslabor aufgetan. Zudem strahlen die Werke des Dadaismus eine große Vitalität und für mich auch eine große Poesie aus. Es muß wirklich spannend gewesen sein, damals zu produzieren. Als ich kürzlich im Fernsehen einen Film von Hans Richter gesehen habe, kamen mir vor lauter Wehmut fast die Tränen. Die Geisteshaltung heutzutage scheint mir viel kleinlicher geworden zu sein, weniger visionär.

Paris / Zürich, im April 1992

Christina Rey-Coquais
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(Stand: 2019)
Tania Stöcklin
Arbeitete nach dem Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie als Regisseurin und Cutterin in Berlin und Zürich. Heute lebt sie als freischaffende Cutterin in Zürich.
(Stand: 2011)
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