DORIS SENN

REQUIEM (RENI MERTENS, WALTER MARTI)

SELECTION CINEMA

„Ein musikalisches Filmgedicht ohne Worte“ nennen Reni Mertens und Walter Marti ihre meditativen Bilder von Europas Schlachtfeldern und Soldatenfriedhöfen dieses Jahrhunderts. Den Bogen der assoziativen Bilderfolge trägt die Musik von Leon Francioli, die manchmal versöhnlich, manchmal (bis zur Unerträglichkeit) aufgekratzt die Antithese von Leben und Tod, von Hoffnung und Verzweiflung nicht ohne ein paar Tropfen Ironie und Zynismus fürs Ohr umsetzt: experimentelle Stimm- und Klangvariationen gehen über in klassische und Jazzmusik, mit Einschüben von „Naturtönen“ und militärischen Märschen (groteske „Zwischentöne“ auch auf der Bild ebene beim Augenschein im Waffen- und Uni- formen-Reliquiarium aus dem 2. Weltkrieg oder wenn die Schädel und Gebeine der Solferino-Gedenkstätte uns in barocker Manier den Tod vor Augen führen).

Dort, wo heute wogende Felder, blühende Wiesen, weich geschwungene Hügelzüge, verschneite Berghänge zu sehen sind, wurde ums Leben gekämpft und doch nur der Tod erworben, auch wenn auf den Grabstätten andere (höhere?) Werte (das Vaterland!) genannt werden.

Nationalfahnen flattern optimistisch im Wind, patriotische Hymnen evozieren Heldentum und versuchen vergeblich, dem Tod einen Sinn zu geben. Deutsche starben in Sizilien, Italiener in Deutschland, Engländer in Frankreich, Amerikaner in Italien, Nordafrikaner und Franzosen fielen „pour la France“. Nun liegen sie unter derselben Erde, um die sie gekämpft haben, Juden, Christen und Mohammedaner, Angehörige ferner und naher Nationen. Kreuze aus Stein, Holz und Eisen, Platten in den Boden, die Wand eingelassen — und Stelen - alle in Reih und Glied, Ausdruck einer abstrakten Zahl von Gefallenen. Das Chaos des Schlachtfelds mündet in die geometrische Anordnung seiner Toten. Hunderte, Tausende sind es, das Auge kann sie nicht in einem Mal überschauen, Intellekt und Gefühle sie nicht fassen. Requiem führt uns diese Mahnmale - eher des Vergessens denn des Gedenkens - vor Augen, die Anonymität seiner Opfer, das Unsagbare des Leids, das Nichtnachvollziehbare der unzähligen Einzelschicksale. Nur hie und da bekommt der Tod so etwas wie ein Gesicht

über die Namen, die Lebensdaten, die Herkunftsorte, vereinzelte Fotos der Gefallenen. Noch seltener sind Zeichen der Trauer von Angehörigen - selbst umgekommen oder im Unwissen über das Schicksal des toten Sohnes, Bruders, Vaters, Ehemannes hingehängte Rosenkränze oder Schnittblumen als hilflose Zeichen der Erinnerung. Der „Kriegs-Friedhof“, dieses paradoxe Kompositum ist aber kaum als Aufruf zum Frieden unter den Völkern zu deuten, sondern steht eher für die zwingende Folge von Säbelgerassel und Grabesruhe („Nun mögen sie ruhen in Frieden“), in fataler Weise anschaulich, wo Grabstätten die Architektur von Bunkern und Befestigungsanlagen übernehmen.

Wirklicher Ruhepol im Film ist die Natur ihre Farben, ihre Blumen, die - Metapher der Zeit - die Wunden der Erde überwachsen, die Gräber umranken, das Leben stärker als der Tod sein lassen.

Requiem ist eine kompromißlose Reflexion über die Zeit, das Werden und Vergehen, das Leben und den Tod, über Krieg und Frieden und vor allem über das kurze Gedächtnis der Menschheit.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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