IRMBERT SCHENK

NATUR UND ANTI-NATUR IN DEN FILMEN VON MICHELANGELO ANTONIONI

ESSAY

I

Vieles spricht auf den ersten Blick dafür, Antonioni als einen der wenigen Vertreter der ästhetischen Moderne im Bereich von Film und Kino zu bezeichnen.1 In jedem Fall steht er für Modernität in der Filmgeschichte nach 1950.

Bezüglich der Themen und Milieus grenzt er sich selbst vom Neorealismus ab, indem er jenem, als historisch angemessen, die Frage nach dem Verhältnis Person - Gesellschaft, Person - Umwelt zuschreibt und sich selbst, historisch fortschreitend, den Blick ins „Innere der Personen“, deren „Krankheit der Gefühle“, wobei er das („leider“) von französischen Kritikern geprägte Wort des „inneren Neorealismus“2 aufgreift. Ausgehend von einer kritischen Vorstellung des Verlustes von Identität und Moral der Menschen in der modernen Gesellschaft, untersuchen die Filme von Cronaca di un amore (19503) bis Il deserto rosso (1964) unterschiedliche Etappen und Bezirke dieses Verlustes'. Als programmatischer Hintergrund fungiert die Vorstellung der Nicht-Adäquatheit („alte Mythen, alte Konventionen“4) der menschlichen Seele gegenüber der dynamischen Bewegung von Technik und Wissenschaft und ihren gesellschaftlichen Folgen.

Die zugrundeliegende Denkform erscheint bei einer ersten Betrachtung bestimmt durch Kausalität und Finalität, einen linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Bei aller analytisch-rationalen Klarsichtigkeit dieser Bestandsaufnahmen entstehen jedoch nicht theoretische Pamphlete mit Hilfe von Filmtechnik, sondern Filme, deren ästhetische Erscheinung zuerst qua sinnlich-vorbewußter Wirkung (und erst anschließender Reflexion) auch die Analysebefunde zum Zuschauer bringt. Und zwar mit Mitteln, die für das große Kino (mit seiner paradoxerweise ästhetiktheoretisch prämodernen Orientierung) geradezu puristisch sind, vor allem dem Verzicht auf die übliche Redundanz der vorbeugenden Sinnenlenkung für die visuelle Wahrnehmung des Zuschauers, zum Beispiel durch musikalische Untermalung5, erklärenden Dialog, eingeschliffene Kamera- und Schnittechniken oder den konventionierten Umgang mit Zeit und Rhythmus.

Wenn ich nun trotzdem behaupten wollte, Antonioni sei der Konstatierung zentraler Fragen der Befindlichkeit von Menschen in seiner Gesellschaft um einige Jahre voraus, behandle sie, noch ehe sie in die theoretische Diskussion gelangen oder gar Zeitgeistthemen des Kinos werden, so könnte dies meiner Bewunderung für den Filmemacher Antonioni zugeschrieben werden. Feststellbar ist hingegen, daß in die ästhetische Struktur der Filme von Antonioni schon lange vor der Zuwendung zur Frage nach der Möglichkeit des Menschen, äußere und innere Realität zu erkennen (wie sie in Blow up 1966 Thema wird), gewissermaßen Widerhaken sowohl gegen die kausale Denkfigur (den rationalen Diskurs der Moderne) wie gegen die linear-projektive Identifikation des Zuschauers eingebaut sind. Dies wird besonders deutlich im Fallenlassen nicht nur vieler angefangener Nebenhandlungen, sondern selbst der Haupthandlung, zum Beispiel in und ab L’avventura (1960). Also dem, was Umberto Eco bereits 1962 als „offene Erzählstruktur“6 deklariert: die Verweigerung einer linearen Handlungsgeschichte, wodurch dem Zuschauer Rätsel in Form kleiner Nebengeschichten aufgegeben werden - die jedoch gar keiner Antwort harren und daher auch dergestalt irritieren, daß bloß mediengewohnte Projektion von Identifikationsansprüchen nicht mehr befriedigt wird.

Üblicherweise wird die Tetralogie von L’avventura, La notte (1960) und L’eclisse (1962) bis II deserto rosso (1964) unter den inhaltsbezogenen Stichwörtern der Entfremdung (des Menschen zum Menschen und zu sich selbst) abgehandelt, wobei die Formgestalt dem Inhalt meist zugeordnet wird. Mir scheint hingegen, daß die Ebenen von Form und Inhalt in diesen Filmen eine weit größere, widersprüchlichere Eigenständigkeit besitzen als gemeinhin angenommen, woraus resultieren würde, daß ihr Zusammenhang, die ästhetische Struktur des Films, besonders komplex ist, daß vielleicht sogar diese nichtauflösbare Komplexität selbst in der Art einer sinnlich erfahrbaren Metapher den Filmsinn ausmacht.

Das Aneinander-vorbei-Reden und -Sehen der Mehrzahl der Personen in La notte oder II deserto rosso läßt sich noch umstandslos auf die Kommunikationsunfähigkeit der Menschen beziehen, ihre gleichwohl rastlose Suche nach Objekten auf die Identitätsproblematik. All dies ist in Filmbilder und -töne mit wenig Redundanz und zuweilen ungewöhnlichen Vordergrund-Hintergrund-Einstellungen, Kameraachsen und Zeitdehnungen eingelassen und wäre im einzelnen zu untersuchen. Wie steht es aber, um die Argumentation abzukürzen, zum Beispiel mit der Schlußsequenz von L’eclisse, wo nur noch ebenso wirkliche wie zufällige römische Straßen, Gebäude und Menschen7 gezeigt werden, wo also nicht nur eine Handlungsgeschichte verlorengeht, sondern gewissermaßen jede Filmhandlung im Sinne von Anthropozentrierung und Zeitbegreifen gewohnter Erzählweise des fiktionalen Films. Ist hier vielleicht nicht nur die Filmerzählung, sondern auch die Anerkenntnis der Berechtigung einer „Meta-Erzählung“ (François Lyotard), der kausalen und finalen Konstruktionsprinzipien von Geschichte und Existenz, verlorengegangen? Wenn man solche Kategorien nicht als Epochenbegriffe, sondern als geeignetes Mittel zur besseren Beschreibung komplexer Sachverhalte verwendet, scheint mir, daß Antonioni bereits hier und zunehmend deutlicher postmoderne Verweise auf die Fragwürdigkeit von Sinnkonstitution und Zeithnearität präsentiert, mithin also den eigenen aufklärerisch-analytischen Impuls des skeptischen Rationalisten bezüglich seiner Dialektik bzw. Ambivalenz hinterleuchtet.

Ein Prozeß, der in Blow up (1966) und Zabriskie Point (1970) in unterschiedlichen Facetten weitergeführt wird, seinen Höhepunkt aber in Professione: reporter (1975) findet. Dieser Film knüpft thematisch an II grido (1957) und in der Erzählstruktur (angefangene und abgebrochene Krimigeschichte) an L’avventura an. Anders als der auf individuelle Psychologie und Biographie gerichtete Suizid von II grido verliert sich jedoch die suizidale Finalität des Reporters im zeitgleichen Überall der vielen Schauplätze zwischen Afrika und London. Zeit wird hier gewissermaßen verräumlicht. Die Filmhandlung entsteht dabei mehr durch das Hintereinandersetzen von Einstellungen als durch die Ablauflogik üblicher Montage. Der Beliebigkeit der Räume und der Horizontalität des Zeitvektors in ihnen entsprechen auch die Indifferenz der dargestellten Gefühle bzw. die unauflösbare Vermischung von Gefühl und Handlungsrationalität und folglich die Vielfalt der möglichen Deutungen.

Diese von mir beschriebene Entwicklung der Argumentation macht auch die Generationsfolge des Protagonistenpaares in Professione: reporter deutlich, die zugleich zur historischen Abfolge der Sicht von Geschichte wird: Der ältere Mann David Locke sucht zwar nicht mehr - wie Aldo in II grido - nach Befriedigung und Glück (befriedigenden Objektbeziehungen, also Liebe), aber noch nach Sinn, mithin nach Vergangenheit und Zukunft; die junge Frau dagegen, die nur das „Mädchen“ ohne Namen ist, lebt nur in der Gegenwart, in den Bewegungen des Augenblicks und seinen möglichen Befriedigungen.8 Die sieben Minuten lange Schlußsequenz (als kameratechnisch höchst kunstvoll gemachte Plansequenz) vermittelt dem Zuschauer nur am Rande und indirekt den Tod des Protagonisten, schweift dafür auf dem südspanischen Platz mit seiner lähmenden Zeitlosigkeit und der Zufälligkeit des dort Geschehenden umher.

Nicht nur die erzähltechnische Beliebigkeit des Nebeneinander von Schauplätzen in Professione: reporter, sondern auch deren äußerlich nicht erkennbare Kreisbewegung von Afrika über Nord- und Mitteleuropa in die Lethargie und Menschenlosigkeit südspanischer Plätze - wie schon bei den Plätzen Siziliens in L’avventura, dort aber noch als etwas den norditalienischen Protagonisten Fremdes - regt die Empfindung archaischer Räume und Zeitvorstellungen an. Darin erscheint, was Mircea Eliade für den „vorgeschichtlichen“ primitiven Menschen in archaischen Gesellschaften beschreibt: Der Versuch der „Vernichtung der konkreten Zeit“, „die Weigerung, eine Erinnerung an die Vergangenheit zu bewahren“9, die „Zurückweisung der profanen, kontinuierlichen Zeit“10. David Lockes antimoderner Versuch der Aufgabe seiner bürgerlichen Identität und der Entwertung der Kontinuität von (Lebens-)Zeit kann - wie schon bei Mark in Zabriskie Point - vom Zuschauer als Konsequenz aus der Einsicht in den Schrecken der Geschichte (des aufgeklärten 20. Jahrhunderts und der eigenen Lebensgeschichte) nachgespürt werden.11 Der innerlich noch moderne Mensch Locke will zwar nicht mehr „Schöpfer der Geschichte“12 sein, bleibt aber ambivalent noch in der Vorstellung der (Hegelschen) historischen Notwendigkeit. Daraus folgt die Zwangsläufigkeit seines Todes, die jedoch nicht mehr in die existentialistische Heroisierung der Verzweiflung als letztem Freiheitsakt, wie noch beim Selbstmord in II grido, eingebettet wird. Die Plansequenz verläßt so den Protagonisten und die Handlungsstory, um auf dem Platz vor der Arena in der Kontingenz der Ereignisse zu kreisen, während der Tod (durch Mord?!) eintritt.

Darin findet filmästhetisch buchstäblich die Entzauberung bzw. der Tod des Subjekts statt, die Verabschiedung der Subjektzentrierung der Moderne13 - wobei der gesamte Film allerdings auch diesem Moment keine Eindeutigkeit gibt, vielmehr eine tiefliegende Ambivalenz (und somit unterschiedliche Gefühle und Interpretationen beim Zuschauer) eröffnet. Übrigens weist Professione: reporter schon in der Anfangssequenz in der Wüste auf filmästhetisch Neues hin, indem die im Fiktionskino tradierte Aufnahmenorm der ‚subjektiven Kamera’ unvermittelt verlassen, damit dem Zuschauer die gewohnte Anbindung seiner Augen an die Blickperspektive des Protagonisten verweigert wird.14

Antonioni deutet auch selbst bereits 1961 einen solchen komplexen Zusammenhang von Form und Inhalt an, wenn er beschreibt, wie er von Film zu Film mehr die „normalen und konventionellen Techniken und Erzählweisen des Films“ verlassen, die Personen in „scheinbar zweitrangigen Augenblicken“ (d. h. nach dem eigentlichen ‚Dreh’) mit der Kamera weiterverfolgt oder die „logischen Erzählknoten“ entfernt hat. Er begründet diese „Arbeit der Entäußerung“ mit den Sätzen: „Die Wahrheit unseres täglichen Lebens ist nicht mechanisch, konventionell oder artifiziell, wie es uns im allgemeinen die Geschichten, wie sie im Film gebaut sind, erzählen. Der Ablauf des Lebens ist nicht ausgleichbar. Es ist ein Ablauf, der sich bald überstürzt, bald langsam verläuft, der jetzt stagniert, jetzt dagegen durcheinanderwirbelt.“15 Wenig später zitiert er Lukrez, der gesagt habe, „nichts ähnele sich selbst in dieser Welt, in der nichts beständig sei. Beständig sei nur eine geheime Kraft, die jedes Ding umkehre.“16

II

Ich habe zur Beschreibung zentraler Entwicklungstendenzen in Antonionis Werk die Parameter Moderne und Postmoderne verwendet und mache zur Begriffsklärung noch einen zweiten Umweg, um darüber zum engeren Argument dieses Beitrags gelangen zu können: der Darstellung von Natur in den Filmen Antonionis.

Der sonst äußerst sparsam mit theoretischen Äußerungen umgehende Filmemacher hat 1960 in einer Presseerklärung nach der Uraufführung in Cannes angesichts der verständnislosen Kritiker-Kritik an L’avventura behauptet, daß Gefühl und Moral der Menschen der,nachkopernikanischen Zeit“ mit der Entwicklung von Technik und Wissenschaft nicht Schritt gehalten hätten; 1961 in einer Diskussion in der römischen Filmhochschule findet er dafür dann einen Generalnenner mit dem Begriff „Krankheit der Gefühle“17. Hier wie auch noch im ersten Werkabschnitt der Tetralogie (in der ausnahmslos Frauen neue Gefühle probieren) bleibt sein bewußtes Denken weitestgehend in der Spur des Historismus bzw. der Logik der Moderne bezogen auf die Entwicklung der Gesellschaft und der Menschen. Dies gilt auch für den Blick auf die Natur, in dem er noch nicht manifest die Herausbildung einer zweiten Natur hinterfragt, wie sie mit der Ablösung der agrarischen zugunsten der industriellen Produktionsweise entstanden ist und in der die Menschen die „vorfindlichen Naturdinge“18 gegen deren natürliche Eigenschaften zum eigenen Nutzen zwingen. Zweifel entstehen folglich noch nicht bezüglich der Naturfeindschaft der modernen Welt (und der modernen Kunst), sondern im Hinblick auf die historisch adäquate Anpassungsfähigkeit der menschlichen Seele. In Frage steht im ersten Anlauf weniger die kausale und finale Teleologie der Geschichte, sondern die Modulationsfähigkeit des Menschen ihr gegenüber. Ihre Untersuchung nimmt Antonioni mit seinem „inneren Realismus“ auf. Dabei gerät aber zwangsläufig die menschliche Natur selbst immer stärker zum Gegenstand dieser Untersuchung, weniger im Segment der Triebnatur, sondern in dem der äußeren Natur, ihren Vergesellschaftungsformen und Kommunikationsfunktionen - Gegenstand wird die Konventionsform der inneren Natur bzw. die „zweite innere Natur“19.

Wenn man unter erster Natur die Erde, Vegetation, Tiere und den menschlichen Leib versteht, dann beginnt die zweite Natur (nicht nur in marxistischer Betrachtung) mit dem Aufkommen der kapitalistischen Warenproduktion. Die zweite Natur ist an die Abtrennung vom Gebrauch in der Wertform der Waren gebunden.20 Die „Konsumentenökonomie“ hat eine „zweite Natur der Menschen erzeugt, die sie libidinös an die Warenform bindet“21.

Der Bezug zu Antonionis Vorstellungsweise läßt sich allerdings linearer, d. h. der Antonioni eigenen Ableitungsform entsprechend, herstellen, wenn man die ökonomische Ausgangsargumentation außer acht läßt.22 Zweite Natur ist dann die „Welt der Konvention“23 und der Gewohnheit, die entfremdete Welt als eine der ersten Natur gegenüber fremd gewordene - und später vielleicht Geschichte und Gesellschaft insgesamt als Zivilisation24. Nicht die Realabstraktion des Tausches, sondern die Denkabstraktion des Bewußtseins (aller Gesellschaftsmitglieder) findet Antonionis Interesse. Seine Vorstellung des „vereinzelten Einzelnen“ (Karl Marx, auch mit dem Begriff der „Monade“) oder von Entfremdung ist nicht am Begriff der Arbeit festgemacht, sondern an der Wahrnehmung der Kommunikationsformen und -inhalte der Menschen (die in seinen italienischen Filmen aus sozial privilegierten und historisch fortgeschrittenen Klassen und Schichten Mittel- und vor allem Norditaliens kommen). Daraus folgert er den Solipsismus des Bewußtseins, die von den anderen geschiedene Subjektivität des Einzelnen. Woraus nicht zufällig sowohl die Konstatierung der Unmöglichkeit glücklicher Beziehungen zwischen Menschen und die Identitätslosigkeit subjektiver Individualität wie die Infragestellung der Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit des Menschen folgen. Die ‚Helden’ Antonionis entstehen sowohl aus ihrer zunehmenden Fremdheit zur Außenwelt wie der zur eigenen Innenwelt. Seine Argumentationssphäre sind die „Zwänge zweiter innerer Natur“, in denen die „Bearbeitung ‚eigener Natur’“25 nur noch in Formen der ‚Krankheit der Gefühle’ möglich ist. In Entsprechung zur Verfahrensweise Antonionis, sozusagen auf der äußeren Seite der Triebnatur zu bleiben, entstehen die schlagwortartigen Zusammenfassungen seiner Thematiken in der Sekundärliteratur, wie z. B. Kommunikationsunfähigkeit, Langeweile, Einsamkeit, Pessimismus, Verzweiflung, Entfremdung, Selbstentfremdung, Verdinglichung oder der Hinweis, in seinen Filmen sei die Natur nicht mehr natürlich, seien Menschen und Dinge versteinert.26

Wenn die offene Erzählstruktur ab L’avventura zunehmend Ausdruck für die Komplexität und Kontingenz von moderner Geschichte und Gesellschaft wird, dann entspricht die visuelle Struktur mit ihrer strengen ästhetischen Reduktion auf das an der Oberfläche Wahrnehmbare dem gerade beschriebenen Bezug auf die zweite Natur: Antonioni zeigt die sichtbare „Oberfläche der Welt“, gibt dem Film die „Integrität des Bildes“ wieder, die seit dem Aufkommen des Tonfilms in Frage stand.27 Die Wirkungsfunktion der offenen Erzählstruktur liegt in diesem Zusammenhang dann, daß der Zuschauer gezwungen wird, alles Sichtbare (und nicht nur Partikel zum Zweck der Handlungsauflösung) wahrzunehmen. Den radikalsten und filmhistorisch auffälligsten Ausdruck findet diese Verfahrensweise in der sechsminütigen, schon oben beschriebenen Schlußsequenz von L’eclisse, wo in einer Art Mini-Dokumentarfilm über die Stadtlandschaft und die Menschen des römischen EUR-Viertels die Spielfilmhandlung vollständig verlassen wird. Der Zuschauer, dem Antonioni durch Irritation der Erwartungskonvention viel Wahrnehmungsarbeit abverlangt, kann nicht nur nicht umhin zu sehen, was da ist, sondern ebenso, „die Zufälligkeit des realen Lebens“28 wahrzunehmen.29

Die Verknüpfung dieser beiden Verfahrensweisen ist übrigens auch Antonionis Anliegen in der literarischen Kurzform der Geschichten des Bändchens Quel bowling sul Tevere, wo ein kurzer Text den Titel hat Einfach nur Zusammensein und vom Autor anschließend so charakterisiert wird: „Dies war der Anfang eines Films. Oder besser, cs war der ganze Film.“30 Womit Antonioni noch ein weiteres dramaturgisches Element der Filme verdeutlicht: selbst dramatische Momente noch zu „entdramatisieren“31. Schließlich wird der Oberflächenbezug des Blicks geradezu zum Gestaltungsprinzip von Antonionis über dreieinhalbstündigem Dokumentarfilm über China, Chung Kuo, Cina (1973). So gut wie jede Sequenz mit neuem Handlungsort wird dem Zuschauer am Anfang lange ohne Kommentar, nur mit Bild und O-Geräuschen präsentiert: wie der Filmemacher soll er die fremde Welt zuerst sehen und hören, sich der „sinnlichen Präsenz“32 der Bilder und Geräusche aussetzen, bevor er sie in seine Denkordnungen eingliedert. Der Gegensatz von Fremdem und Eigenem, etwa dem Blick des Italieners Antonioni, wird zuweilen sogar ironisch betont, zum Beispiel in der Beobachtung der Nudeln in der Restaurantszene oder der Kinder im Kindergarten.

III

Es ist sicher nicht zweifelhaft, daß mit der heutigen Rede von der „Abdankung des Subjekts und der Verabschiedung der Natur“, dem „Schwinden des Ich und dem Sterben der Natur“33 oder der „Post-histoire“ historische Prozesse beschrieben werden - unabhängig vom apodiktischen Charakter der meisten diesbezüglichen Äußerungen. Das Faszinierende an Antonioni scheint mir zu sein, daß er solche Prozesse, ante litteras, vor ihrer Theoretisierung, erfaßt und filmästhetisch adäquat umsetzt, um dann selber normbildend auf die Filmgeschichte zu wirken. Faszinierend auch insofern, als diese fortschreitende Ausarbeitung von Filmform und Filmsinn als historischer Entwicklungsprozeß ohne Ende und Finalität durch das Werk hindurch entfaltet wird; mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und widersprüchlichen Etappen, aber doch außerordentlich konsistent und kohärent.

Nachdem wir uns bisher mit der zweiten Natur im Menschen befaßt haben, soll ein Blick auf Antonionis Darstellung der ersten Natur in bezug auf Landschaft und Umwelt folgen. Wie Antonionis Filme alle in der Jetztzeit ihrer Herstellung spielen (Ausnahme: II mistero di Oberwald, 1980) und zunehmend außerhalb des Studios gedreht sind,34 so erscheint Umwelt (fast immer) als historisch gewordene, als „historisch umgearbeiteter und gestalteter Lebensraum“35. Hierzu ist allerdings gleichzeitig Widersprüchliches zu berichten, wenn wir (anorganische und organische) Natur in der Darstellung von Landschaft betrachten.

In II grido verliert Aldo (der einzige proletarische Protagonist Antonionis) seinen Lebenssinn, ausgelöst von einer im Film explizierten Trennung.36 Er bewegt sich in einer dramaturgischen Vorwärts-Rückwärts-Bewegung vom Ort des Verlustes in die Po-Ebene hinaus und dann wieder zurück zum Selbstmord am gleichen Ort. Der Zwangsläufigkeit dieser Existenzweise entspricht die Darstellung der Landschaft, einer flachen, grauen Po-Ebene mit Fluß- und Straßenbändern nach Nirgendwo (ähnlich, wenn auch lyrischer, hat Antonioni diese Landschaft schon in seinem ersten Dokumentarfilm, Gente del Po, 1943-47, geschildert). Das Besondere der Naturdarstellung in II grido liegt in der gewissermaßen onomatopoetischen Photographie, wodurch Landschaft (durchaus noch im romantischen Sinn von Dramaturgie) atmosphärischer Ausdruck für das Innere der Filmfigur wird.37 Allerdings auch hier schon undramatisch dargestellt: Aldos Schicksal ist so unabänderlich wie die Endlosigkeit der Ebene und die Langsamkeit des Flusses. Trotzdem oder gerade deshalb ist Aldo in dieser Landschaft, fast könnte man meinen, in sie setze er seine letzte, existentialistisch bereits verlorene Hoffnung - als einer natura naturans gegen die Verzweiflung, wie bei seinen Frauenbekanntschaften entlang dem Fluß.

In der Darstellung der Äolischen Inseln und der innersizihamschen Landschaften in L’avventura wird nicht nur, wie bei den Plätzen der südlichen Kleinstädte, auf das Archaische verwiesen, sondern darüber hinaus auf die historische Eigen- und Widerständigkeit der Natur. Die materiell saturierten Menschen nähern sich dieser Landschaft, ohne deren Natur zu beachten, und beuten sie für den Luxus ihrer Kreuzfahrt aus. Als Anna verschwunden ist, werden sie bei ihrer Suche plötzlich mit dieser rohen Naturlandschaft konfrontiert. So wie sie den alten Hirten nicht verstehen, finden sie auch kein Verhältnis zu dieser Natur. Sie ist gleichsam stärker als die Menschen, weil eins mit sich selbst.38

Die (vorwiegend anorganische) harte, karge Natur wird hier zum Gegenbild der Beziehungs- und Identitätsschwäche der Menschen, sie stellt das „vom Menschen Ungemachte“, „das vom Stoffwechsel mit ihm weithin Unbetroffene“ (Ernst Bloch39) dar. Die „erhabene Gleichgültigkeit“ (Rainer Maria Rilke40) der Natur steht dem umfassenden Verlust an Kohärenz und Sinn bei den Menschen entgegen. Von dort nimmt Antonionis Umschreibung der Geschichts- und Subjektlosigkeit qua natürlicher Landschaft ihren Ausgang (wozu noch viele Stadtlandschaften kommen). Wir finden sie ähnlich konzentriert wieder in der afrikanischen (Professione: reporter) und US-amerikanischen Wüste (Zabriskie Point). Von vergleichbaren Verwendungen im späteren europäischen Film (Wim Wenders, Bernardo Bertolucci) unterscheidet sich Antonionis Darstellung dadurch, daß sie sich der romantischen Vorstellung von Natur verweigert, durch sie der Last der Moderne entfliehen und das Glück der Kindheit bzw. Unschuld erlangen zu können. Natur- und Geschichtslosigkeit werden beim Spurensucher Antonioni nicht remystifiziert (wobei II deserto rosso und Zabriskie Point allerdings Remystifikationen in Traumvisionen sozusagen zitieren). Auch die Entfremdung von Natur wird allenfalls durch den Tod aufgelöst.

Mit II deserto rosso finden wir eine weitere Variante für Antonionis Umgang mit landschaftlicher Natur. Nachdem er bereits 1940, 1942 und 1949 Artikel zum Farbfilm geschrieben hat, ist dies sein erster eigener Farbfilm. Der Film ist angesiedelt im Bereich eines modernen Industriesektors, der Petrochemie bei Ravenna, und hat moderne Bourgeoisie (Ingenieure, Naturwissenschaftler) zum Personal. Antonioni soll für die Dreharbeiten pflanzliche Natur, Bäume und Wiesen, bemalt haben41 - architektonische Räume sowieso42. Die Farben im Film lassen sich als Indizes, wenn nicht als Symbole dechiffrieren: Das Gelbrot der abgefackelten Gase, das Grau der Stadt und des Himmels - oder das Rote des Titels, von dem Antonioni selbst sagt, es sei die Farbe des Blutes: „Wüste vielleicht, weil es nicht mehr viele Oasen gibt, rot, weil das das Blut ist.“43 „Blutige Wüste“ wäre dann die Landschaftsdenomination; gezeigt wird eine „terra desolata“44, eine „ökologische Wüste“45 mit riesigen grauschwarzen Industriebauten und Raffinerien (einer Industrielandschaft, die auch bereits dem Eingangsvorspann unterlegt ist), gespenstig durch Nebellandschaften fahrenden Tankern, Öllachen und Industrieabfällen, abstrakt-symmetrischen Großantennenanlagen, riesigen Öltanks und bedrohlichen Kühlschornsteinen, zischenden Dampfwolken, Ruß und Rauch, metallstrotzenden Bohrinseln und explosionsartig brennenden Gas- und Ölfontänen.

Unmittelbar indiziert wird durch den Farbgebrauch ein neues Thema: die Anti-Natur, die Naturfeindschaft der modernen Technik und Naturwissenschaft. Die Dimension ist nicht mehr an die der natura naturata (Natur als Objekt und Produkt) gebunden, sondern an die der Schlußetappe der „natura dominata“ (Bloch): der natura morta als Ergebnis des „Ausbeutungs- und Überwältigungsverhältms[ses] der bisherigen Arbeit des Menschen an der Natur“46 mit dem Ergebnis der Zerstörung der Natur. Auch hier beschreibt Antonioni nüchtern, ohne ökologisches Dogma und erst recht ohne Naturromantik. Und gleichwohl wird eine widersprüchliche Technikfreude, eine grundsätzliche Ambivalenz im Umgang mit technischen Hervorbringungen der Moderne selbst hier so wenig wie in den anderen Filmen aufgegeben (vgl. zum Beispiel die Freude an der Darstellung moderner Architektur, von Automobilen oder der Bequemlichkeiten des städtischen modernen Lebens usw.).

Il deserto rosso zeichnet noch eine andere Dimension der Zerstörung der ersten Natur durch den Menschen auf, die seines eigenen Leibes, seiner Gesundheit. Anders als die Protagonistinnen in den drei anderen Filmen der Tetralogie ist Giuliana nämlich manifest psychisch und psychosomatisch krank (mit Suizidversuch und Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik): Die Zerstörung des natürlichen äußeren Lebensraumes erzeugt also eine zusätzliche Dimension der Zerstörung der menschlichen Identität und Beziehungsfähigkeit, deren psychodynamischer Bewegungsmotor umfassende Angst ist. Giuliana steht, empfindsamer als die anderen, schizoid in Angst gespalten zwischen den verdrängten Bedürfnissen ihrer ersten inneren Natur und der verdrängungsverursachenden Konvention. „Dabei zeigt sich, daß die destruktive Beziehung zur äußeren Natur, wie sie in neuzeitlicher Naturwissenschaft und Technik und industrieller Wirtschaftsform enthalten ist, ihre Entsprechung in der Beziehung zur eigenen Natur, die wir selbst sind, zum menschlichen Leib, hat.“47 Blochs schöne Formulierung: „Unsere bisherige Technik steht in der Natur wie eine Besatzungsarmee in Feindesland, und vom Landesinnern weiß sie nichts [...]“48 gilt auch für das Innere der Natur in uns. Die Destruktion der natürlichen Umwelt ist jetzt am eigenen Leib, an der eigenen ersten Natur, zu spüren, wobei auch in diesem Film wieder einer Frau die entwickeltere Sensibilität der Wahrnehmung und des Versuchs der (Ver-)Anderung zugeschrieben wird, während die Männer unbeweglich in ihren Konventionen verharren.

Wie später noch einmal in Zabriskic Point taucht in II deserto rosso erstmalig ein Gegenbild zur zerstörten inneren und äußeren Natur auf. Giuliana erzählt ihrem Sohn, als dieser eine Lähmung seiner Beine simuliert (wodurch ihre Angst noch vermehrt wird), eine Geschichte von einem glücklichen Mädchen auf einer Art Südseeinsel. Auf die Tonspur mit ihrer Erzählung (später ergänzt von einem geheimnisvollen liedartigen Ton, den jenes Mädchen hört) wird durchgängig die Bildsequenz einer Traumvision vom Paradies montiert. (Das primitive Glück in heiler Natur hat allerdings den kleinen Mangel, daß das Mädchen allein ist, sich „aus Angst“49 von den Menschen zur außergesellschaftlichen Natur abgesondert hat, und daß selbst das vorbeifahrende Schiff ohne Menschen ist...) Die Darstellung dieser Gegenvision (fast) unbeschädigter Natur geschieht in reinen Farben entgegen dem ‚beängstigenden’ Gebrauch von technisch-synthetischen, abstrakt geometrisch voneinander abgetrennten Farben oder Mischfarben im restlichen Film. Die Farben der Vision sind sozusagen die guten, die des Glücks, die anderen die schlechten, die der Angst. Diese Farbdramaturgie entspricht Antonionis vorab zur Arbeit mit Farbfilm gemachter Erklärung von 1961, in die Farben eingreifen zu wollen, den Film zu malen, „wie man ein Bild malt“50; oder wie er später zur Farbe im „Forschungsfilm“51 II mistero di Oberwald erinnernd gesagt hat: „Ich würde immer noch machen, was ich zu Zeiten von Deserto rosso einen ‚Gewaltangriff auf die Realität’ nannte“.52

IV

Antonio Costa behauptet, daß „Antonionis Raum ein städtischer Raum“ und daß auch sein auf außerstädtische „Natur“ gerichteter Blick davon bestimmt sei.53 Ich glaube, daß das in doppelter Weise zutrifft. Einmal, weil die Großstadt Kulminationspunkt der Modernität des gesellschaftlichen Lebens ist, weil darin dessen Deformierung, aber auch die subjektiven Ambivalenzen im Umgang mit ihr - sozusagen die individuelle Dialektik der Moderne, die Anti-Natur-Haltung als Widerstand des modernen Menschen gegen die Natur, „um seine Autonomie zu behaupten“54 - zugespitzt wahrzunehmen sind. Zum andern, weil auch „städtische Räume und schließlich sogar Innenräume letztlich angeeignete Natur sind“55. Ähnlich wie bei der Darstellung landschaftlicher Natur scheint mir hier ein Zweischritt in Antonionis Entwicklung stattzufinden. In den frühen Filmen Cronaca di un amore (1950) und in Le amiche (1955) dient städtische Architektur, die Antonioni in vielen Filmen mit besonderem Augenmerk ins Bild setzt, als dramaturgisch funktionaler Hintergrund für die Entwicklung der Psychographien der Handlungsgeschichte. Im letztgenannten Film fungiert sie bei Clelia sogar positiv durch die Rekonstruktion individueller Biographie für die gegenwärtige Lebenspraxis. Die atmosphärische Dimension ist übrigens bereits in dem Dokumentarfilm über die römischen Straßenkehrer N.U. (Nettezza Urbana, 1948) angelegt, von dem Antonioni selbst zur Unterscheidung von der zeitgenössischen Dokumentarfilmpraxis sagt, er weise eine „poetisch freie Montage“56 auf.

In dem auf L’avventura folgenden La notte hingegen bleibt die Stadt für sich; ihre Fremdheit entspricht der Fremdheit der Menschen zueinander. Vor allem die Schlußsequenz im Park der Mailänder Industriellenvilla paraphrasiert diese Entwicklung. Hier wird gewissermaßen organische, fast lieblich gezeichnete Natur in die Stadt hineingeholt als Untergrund für eine Szene, in der die Leere der Beziehung zwischen Giovanni und Lidia endgültig verdeutlicht wird, indem der Liebe, sarkastisch, nur noch die Form reduzierter männlicher Sexualität übriggelassen wird. „Das Hineinholen der Natur in die Stadt überwindet jedoch die Entfremdung von der Natur keineswegs, die Naturbeziehung wird lediglich von einer Außenbeziehung in eine äußerliche Beziehung transformiert.“57 Diese Beziehungsform gilt dann auch für das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und seiner eigenen Natur. Die städtische Umwelt steht so einmal für sich und einmal für den Subjektverlust des Menschen.

Lidias Gang durch die Straßen Mailands, zuerst in der Innenstadt, dann in der ihr von früher bekannten und jetzt doch fremden Welt der proletarischen Vorstädte (Sesto San Giovanni mit der Breda-Fabrik), dient nicht mehr der Spiegelung und Festigung ihrer Biographie und Identität wie noch das Turm für Clelia in Le amiche, sondern wird Ausdruck ihrer Fremdheit in einer Objektwelt, von der sie ebenso geschieden ist wie von der Befriedigung ihrer Bedürfnisse erster Natur. Wilfried Berghahn hat dies bereits in seiner schönen Kritik nach der Erstaufführung bei den Berliner Filmfestspielen 1961 (Goldener Bär bei großer Irritation des Publikums) wahrgenommen: „Offensichtlich dient die Mailänder Stadtlandschaft als Äquivalent für Lidias innere Verfassung, und dennoch ist sie nicht seelische Landschaft [...]. Antonioni sucht keine Atmosphäre, er setzt seinem Objektiv keine psychischen Filter auf, sondern umstellt gerade im Gegenteil Lidias Innenwelt mit bestürzend realen Gegenständen, deren nackte Dinglichkeit jeden Identifikationsversuch abprallen läßt. Bei Fellini sind Ich und Welt eins; jede Figur steht vor dem ihr zugehörigen Hintergrund. Bei Antonioni herrscht strenges Gegenüber. [...] Die Dinge wirken in ihrer Undefiniertheit schockierend. Es ist, als würden sie zum ersten Mal gesehen.“58

Berghahn bemerkt auch das Neue der Erzählstruktur (in La notte, das einen Zeitraum von 18 Stunden behandelt, würden „keine Vorgeschichten“59 dargestellt) und Antonionis Anbindung der Zuschauerwahrnehmung an das gegenwärtige Sichtbare der äußeren Erscheinung: „Alles in diesem Film erscheint als Oberfläche. Kaum eine Spur von Intrigue, keine Geheimniskrämerei dramatisiert den Ablauf.“60

Den von mir oben beschriebenen strengen Oberflächen- und Gegenwartsbezug der Filme Antonionis als filmästhetisches Novum konstatiert auch Michel Butor in seiner Präsentation Antonionis in der französischen Ausgabe des Drehbuchs von La notte (womit zugleich auf die mit der Person Butors angedeutete Beziehung Antonionis zum zeitgleichen Nouveau roman hingewiesen sei61). Er behauptet, daß Antonioni zu den wenigen Regisseuren gehöre, die sehen könnten; zu Lidias Gang durch die Stadtlandschaft sagt er: „Il y a un moment où une femme traverse une rue encombrée par la circulation. Eh bien, c’est la première fois qu’on nous montre une rue dans sa réalité de l’instant, vision que tout le monde croit avoir et que tout le monde oublie, et qui, ici, nous est restituée avec une finesse et une simplicité étonnantes.“62

Der nächste Film, L’eclisse, der auch der letzte vor ll deserto rosso ist, belegt die Indikation der Naturbeziehung als einer äußerlichen Beziehung des Menschen nicht nur in der bereits oben beschriebenen Schlußsequenz, in der mit dem Spielfilm auch die Anthropozentrierung verlorengeht, sondern vor allem in der filmischen Bearbeitung des linearen Zeiterlebens, in dem der moderne Zeitrhythmus verinnerlicht ist. Als Schlüsselszene dafür kann die Börsenszene gelten (sozusagen die verdoppelte zweite Natur der Wertabstraktion); insgesamt steht aber dafür die gesamte Lebensorganisation des männlichen Protagonisten. Vittoria setzt diesem totalen Verlust an erster Natur Widerstand entgegen, muß aber lernen, sich diesen übermächtigen Verhältnissen auch in ihrem Wunsch nach Liebe anzupassen. Nicht so sehr der Stadtbezug, sondern die motorische Dynamik des modernen Lebens ist hier zum Index der ‚Wüste’ der Verkümmerung der Natur des Menschen als Gattungswesen geworden.

Blow up zeichnet eine merkwürdige Zweideutigkeit aus. Auf der einen Seite ist Antonioni in diesem dank der MGM-Werbung größten Publikumserfolg unverkennbar von der (verglichen mit Italien) modernen Modernität des Swinging London der sechziger Jahre fasziniert.63 Sozusagen in der Mitte von Faszination und Unbehagen wird die Konzentration auf die Oberfläche des Sichtbaren schon in der personalen Anordnung des Films mehrfach zugespitzt: Die (jetzt erstmals seit II grido wieder männliche) Hauptfigur Thomas ist von Beruf Mode- und Werbephotograph, gut im Geschäft und pragmatisch entscheidungsfähig im Jetzt einer Situation ohne die Last von Vergangenheit; die Welt sieht er allerdings nur noch durch den Sucher der Kamera. Auf der anderen Seite hat Thomas keinerlei tiefergehende Beziehung mehr zu anderen Menschen, was ihn auch nicht (mehr) bekümmert. Was ihn bekümmert, ist vielmehr der gänzlich unerwartete (und auch für den Zuschauer unbeantwortete) Zweifel, daß die Objektivität der physikalischen Reproduktion von Wirklichkeit mit Hilfe der Fototechnik in Frage stehen könnte. Angerührt ist hier über die Dimension der solipsistischen Erkenntnis hinaus die der Wahrnehmung allgemein und der Ingebrauchnahme von Technik bei der Wahrheitsfindung. Die Fototechnik dient der verbesserten Aneignung von Wirklichkeit, aber sie verursacht auch die prinzipiellen Zweifel an der Wahrnehmbarkeit von Wirklichkeit (wenn nicht an der Existenz von Wirklichkeit selbst64). Ein Vorgang, der sich beim Reporter David Locke und seinen Afrika-Dokumentationen in Professione: reporter zehn Jahre später wiederholen wird. Auffällig an Blow up ist, daß sich das diesbezügliche Geschehen (oder Nicht-Geschehen im üblichen Handlungssinn) im äußeren Rahmen eines üppig wachsenden Londoner Parks abspielt. Der städtisch-dynamische Protagonist ignoriert diese in die Stadt hineingenommene organische Natur völlig, für den Zuschauer kann dagegen durch die filmische Darstellung eine Empfindung entstehen, als ob diese Natur, im Gegensatz zu den Menschen und ihrer Technik, in sich bewegt und für sich, auch frei von Zweifel sei: Die Bäume bewegen sich, das Grün hat Kraft und Nuancen, und auf der Tonspur sind nur O-Geräusche zu hören: Wind, Vogelgezwitscher, Blätterrauschen - als ob die Natur atmete...

Diese Empfindung wird im nächsten, erneut im Ausland (USA) gedrehten Film Antonionis, Zabriskie Point (1970), wieder aufgenommen, ebenfalls widersprüchlich und ambivalent (z.B. im Gebrauch der Fortbewegungsmittel Auto und Flugzeug). Der in Breitwandformat gedrehte Film ist im dauernden Kampf mit dem Hollywood-Studio-System und der indirekten US-Zensur entstanden und in Italien zu Ende geschnitten. Ohne auf die explizit politische Einbettung des Films einzugehen: Die südkalifornische Landschaft einschließlich der Wüste des Death Valley erlaubt Mark und Daria Leben auf einer kurzen Flucht aus der wüsten Stadtlandschaft von Los Angeles in die (fast) unberührte Naturlandschaft der Wüste, ins außerhistorische Hier und Jetzt, außerhalb der Zwänge der linearen Zeit, der Konvention und der gesellschaftlichen Repression - und damit auch die Erfüllung ihrer Bedürfnisse erster Natur. Zabriskie Point ist sowohl ein Aussichtspunkt oberhalb des,Tal des Todes’ wie ein „mythischer Ort der Indianer“65. Das In-eins-Sein mit Natur ohne Entfremdung wird in einer Traumvision überhöht mit dem Love-in vieler sich umarmender Paare, das - bei Antonioni doppelt ungewöhnlich - mit Musik von Pink Floyd unterlegt ist. In dieser Zeichnung von Glück und Unschuld, von Rückkehr in den Ursprung, der Aufhebung des kultur- und biographiebedingten „Verdrängten“ schwingt ohne Zweifel ein Stück Romantisierung, „Remythisierung der Natur und des Leibes“66 aus alternativen Bewegungen der Zeit mit. In der auffälligen Zuwendung zur Natur schlägt sich jedoch weniger die ökologische Dimension des Zurück zur Natur bzw. der Versöhnung von Mensch und Natur bzw. Umwelt nieder, wie sie in den achtziger und neunziger Jahren des ausgehenden 20. Jahrhunderts häufig geworden ist, als vielmehr die oben beschriebene „Einsicht in die Kontingenz“67 der Welt. Natur fungiert hier sowohl als Synonym für Glück und wie als Inbegriff des "Zufalls (Friedrich Nietzsche). Sie verbleibt auffällig ungeschichtlich; als Gegenfolie zur unerträglichen Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz vertritt sie das Andere der Vernunft68, wie in der heutigen Kritik an Rationalismus und Anti-Natur der Moderne gesagt werden könnte.

Dieser Überhöhung von Natur folgt im Film jedoch, wie Alberto Moravia in seiner schönen Interpretation mit Bezug auf das Freudsche Eros-Thanatos-Paar deutlich macht,69 die für Mark vernichtende Rückholung in Geschichte und Gesellschaft. Ergänzt wird sie, in einer für Antonioni einmaligen Dramatisierung, durch die halluzinatorische Schlußapokalypse der großen Explosion, in der die Villa des Grundstückspekulanten, aber vielleicht auch alles zerstört wird.

Ich hoffe, daß dieser Streifzug durch die Filme von Michelangelo Antonioni zum einen gezeigt hat, wie seine Darstellung der Beziehung des Menschen zur Natur zusammenfällt mit seiner Darstellung der Beziehung der Menschen zueinander und zu sich selbst: so wie jene äußerlich, zweiter Natur ist, ist es auch diese. Der Mensch ist sich seiner inneren Natur fremd als einer verinnerlichten zweiten Natur der Moderne. Antonioni bringt diesen Befund in eine auf das Wesentliche des Sichtbarmachens komprimierte Filmform, ohne dabei ins Abstrakte von bebilderten Pamphleten zu fallen. Für die Filmgeschichte ist er in diesen komplexen thematischen Bezügen normbildend.70

Zum anderen ist diese Darstellung eingebettet in ein prozessuales Gewebe von Filmform und Filmsinn, das immer deutlicher die Frage der subjektzentrierten Sinnhaftigkeit bzw. der Kontingenz von Geschichte stellt. Ohne selber puristisch einen Paradigmcnwechsel vorzunehmen, spürt Antonioni (unter Einschluß der Ambivalenz und der Mehrdeutigkeit des zugrundeliegenden Lebensgefühls) das zentrale Paradigma der Postmoderne im Erfahrungszusammenhang der Menschen auf. Im Gegensatz zur manierierten Selbsthypostasierung vieler,postmodernen’ Programmatiken und Philosopheme von heute bleibt Antonioni auf dem Boden der Erlebenswirklichkeit in der Darstellung der Ungewißheit menschlicher Existenz. In der frühen filmischen Mitteilung dieses Gespürs wirkt er - mehr als die meisten Regisseure seiner Zeit - normbildend für die Geschichte der Filmästhetik.

Nüchtern und luzid ist seine Filmkunst auch deshalb, weil sie, um mit Adorno zu reden, „nicht Utopie sein darf“, „um nicht Utopie an Schein und Trost zu verraten“, also dem „Schein von Versöhnung“71 unversöhnlich absagt.

Zur Problematik der Übertragung solcher auf Erscheinungen der Hochkultur bezogenen Epochenbegriffe aus der Literatur- und Kulturtheorie auf das Kunst- und Massenmedium Kino vgl. Irmbert Schenk, „Moderne-Avantgarde Postmoderne (Lang, Ruttmann, Moroder)“, in: Journal Film 24 (Sommer 1991), S. 18-21.

Michelangelo Antonioni, „Die Krankheit der Gefühle“, in: Theodor Kotulla (Hg.), Der Film. Manifeste, Gespräche, Dokumente, Bd. 2, München 1964, S. 85, 97, 85.

Datierungen nach dem Jahr der Uraufführung (bzw. Erstsendung).

Antonioni, in: Kotulla, Der Film (wie Anm. 2), S. 97.

Die strikte Ablehnung des traditionellen Gebrauchs von Musik im Film stellt die entschiedenste Stellungnahme in Antonionis theoretischen Äußerungen zum Film dar. Vgl. zum Beispiel in: Kotulla, Der Film (wie Anm. 2), S. 105-107, oder das schriftliche Interview mit Pierre Billard, in: Ulrich Gregor (Hg.), Wie sie filmen, Gütersloh 1966, S. 85/86.

Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. 1977 (STW), S. 202-204. (G 1962).

Peter Wuss, Die Tiefenstruktur des Filmkunstwerks, Berlin/O 21990, S. 135-138, knüpft an Eco an, beschwert jedoch seinen interessanten Ansatz über den Tiefenstruktur-Begriff durch eine kognitions- und informationstheoretisch orientierte, in der Tendenz positivistisch auf das Auffinden statistischer Regelhaftigkeit gerichtete Argumentation.

In der EUR (Esposizione Universale di Roma), dem 1938 für die im Jahr 1942 geplante Weltausstellung begonnenen und erst nach 1951 allmählich fertiggestellten modernen Stadtviertel zwischen Rom und dem Meer.

Das Mädchen wird von Maria Schneider dargestellt, die eine vergleichbare Rolle bereits zwei Jahre zuvor in Bertoluccis Der letzte Tango in Paris gespielt hat.

Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte, Reinbek 1966 (rde), S. 73.

Eliade, Kosmos und Geschichte (wie Anm. 9), S. 7.

Der von einigen Autoren im Hinblick auf die Aufgabe der sozialen Identität gemachte Verweis auf Pirandello (insbes. den Roman 11 fu Mattia Pascal und einige Novellen) erscheint mir fragwürdig, da dort die Abwendung von der Moderne aus der Perspektive ihres Aufkommens und hier aus der ihres möglichen Endes geschieht; zu Pirandello vgl. z.B. Irm- bert Schenk, Pirandello - Versuch einer Neuinterpretation, Frankfurt/M. 1983.

Eliade, Kosmos und Geschichte (wie Anm. 9), S. 114.

Zum historischen Hintergrund solcher Schlagwörter vgl. die anregenden Aufsätze von Hans Robert Jauß, Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, Frankfurt/M. 21990 (STW), v.a. S. 6-22, 119-156.

Vgl. dazu die Analyse dieser Szene in Seymour Ghatman, Corning to Terms. The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film, Ithaca and London 1990, S. 52/53.

Antonioni: „Die Krankheit der Gefühle“, in: Kotulla, Der Film (wie Anm. 2), S. 85, 86, 89.

Antonioni, in: Kotulla, Der Film (wie Anm. 2), S. 103.

Antonioni, in: Kotulla, Der Film (wie Anm. 2), S. 96/97.

Wolfgang Lefèvre, „Die zweite Natur und die Naturwissenschaften“, in: Philosophia Naturalis, Bd. 17, 1979, S. 250.

Klaus Horn, „Emanzipation aus der Perspektive einer zu entwickelnden Kritischen Theorie des Subjekts“, in: Martin Greiffenhagen (Hg.), Emanzipation, Hamburg 1973, S. 287.

Alfred Sohn-Rethel, „Die Formcharaktere der zweiten Natur“, in: Peter Brückner u.a., Das Unvermögen der Realität, Berlin: 1974, S. 186.

Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, Frankfurt/M. 41978 (es), S. 25.

Antonioni sagt 1961, „keine Lösungen“ vorsetzen zu können, „weil ich, der ich dem Bürgertum angehöre [...], dazu nicht die Mittel habe. Das Bürgertum gibt mir nicht die Mittel, um die bürgerlichen Probleme zu lösen. Daher beschränke ich mich darauf, bestimmte Probleme zu zeigen, und schlage keine Lösungen vor.“ In: Kotulla, Der Film (wie Anm. 2), S. 103. An einer Stelle allerdings macht Antonioni eine Andeutung in Richtung auf eine ökonomisch orientierte Argumentation, wenn er im Interview von 1964 mit Jean-Luc Godard zu ll deserto rosso sagt: „Notre vie, meme si nous ne nous en rendons pas compte, est dominée par I’,industrie4. Et par,industrie4, il ne faut pas entendre seulement usines, mais aussi et surtout produits.“ In: André Bazin u.a., La politique des auteurs, Paris 1972, S. 322.

Georg Lukács, Die Theorie des Romans, Neuwied 1963, S. 60 (C 1920). Vgl. dazu auch die Darstellung der,Gewohnheit4 bei Pascal: „La coutume est une seconde nature, qui détruit la première.“ (Pensées, Paris 1954, Éd. Chevalier, S. 1121, Frag. 120) sowie Adornos Wiederaufnahme von Lukács in: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1975, S. 351/352.

Vgl. die zutiefst pessimistische Äußerung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in: Elemente des Antisemitismus/Dialektik der Aufklärung: „Zivilisation ist der Sieg der Gesellschaft über Natur, der alles in bloße Natur verwandelt.“ ln: Th.W. Adorno: Ges. Schriften, Bd. 3. Frankfurt/M. 1981, S. 211.

Horn, „Emanzipation...“ (wie Anm. 19), S. 287.

Ich fasse Bezeichnungen eines guten Antonioni-Kenners, Guido Aristarco, zusammen (der bezüglich Antonioni vom Saulus [bei llgrido] zum Paulus wurde und übrigens beim späteren Werk immer wieder interessante Querverweise zu Musils Mann ohne Eigenschaften macht). Guido Aristarco, Su Antonioni, Rom 1988, S. 18 und passim.

Seymour Chatman, „Le innovazioni narrative di Michelangelo Antonioni“, in: Giorgio Tinazzi (Hg.), Michelangelo Antonioni. Identificazione di un autore, Bd. II, Parma 1985, S. 19/20.

Chatman, „Le innovazioni...“ (wie Anm. 27), S. 29.

Wobei mir scheint, daß die dieser Sequenz auffälligerweise unterlegte Musik die Irritation des Zuschauers durch Rekurs auf ein bißchen Rezeptionskonvention mildern soll.

Michelangelo Antonioni, Bowling am Tiber, Erzählungen, München 1992 (C 1983), S. 116.

Aristarco, Su Antonioni (wie Anm. 26), S. 12.

Wilfried Berghahn, „Die Nacht. La Nottc“, in: Filmkritik 8 (August 1961), S. 396.

Hartmut Böhme, Natur und Subjekt, Frankfurt/M. 1988 (es), S. 7.

Vgl. Antonionis ausdrückliche Konstatierung dieses Vorgangs im Jahr 1961. In: Kotulla, Der Film (wie Anm. 2), S. 93.

Böhme, Natur und Subjekt (wie Anm. 33), S. 7.

Der Verweis von II grido zu Viscontis Ossessione (1943) ist üblich; er kann m.E. aber nur vorrangig für inhaltliche Aspekte und für die Landschaft und weniger für die Filmform gelten. Antonioni selbst betont bezüglich Ossessione die Gleichzeitigkeit seines Gente del Po.

Dem entspricht auch der Gebrauch von Musik, die zwar schon außerordentlich sparsam und tonal ungewöhnlich eingesetzt wird (kleines Orchester am Anfang und am Schluß und dazwischen wenige Pianopassagen), aber doch noch die herkömmliche Funktion der atmosphärischen Stimmungsuntermalung erfüllt (die Musik stammt, wie fast immer, von Giovanni Fusco).

Besonders interessant im Zusammenhang meiner Interpretation der späteren Antomom-Filme ist - über die differenzierte Bestimmung von Antonionis Verhältnis zum Neorealismus hinaus - eine Beobachtung, die Leonardo Qua- resima zur Beziehung von Person - Landschaft bzw. Mensch - Umwelt bereits in zentralen Sequenzen von Gronaca di un amore (1950) macht: „Die Landschaft erscheint resistent, intransitiv. Zwischen der Physiognomie der Landschaft und der der Personen im Film gibt es keine wechselseitige Ergänzung.“ L. Quaresima, „Da Gronaca di un amore a Amore in città: Antonioni e il neorealismo“, In: Comune di Ferrara - Ufficio Cincma (Hg.), Michelangelo Antonioni. Idenlificazione di an autore, Parma 1983, S. 46.

Ernst Bloch, „Das Prinzip I loffnung“, in: Ernst Bloch, Gesamtausgabe, Bd. 5, S. 814 (zit. nach der seitengleichen Werkausgabe edition suhrkamp, Frankfurt/M. 1977).

Rainer Maria Rilke, „Worpswede“, in: R. M. R., Sämtliche Werke, Bd. 9, Frankfurt/M. 1965, S. 21; so zitiert nach Jauß, Studien zum Epochenwandel (wie Anm. 13), S. 18. Die Stelle nimmt bei Rilke einen für unsere Argumentation interessanten Bezug zur Stadt (das Paris von Jean-Francois Millet): „Und vielleicht scheint es ihm [dem Menschen] eine Weile, als hätte man nur Städte gebaut, um die Natur und ihre erhabene Gleichgültigkeit (welche wir Schönheit nennen) nicht zu sehen und sich mit der scheinbaren Natur des Häusermeeres zu trösten, die von Menschen gemacht ist und wie mit großen Spiegeln sich selbst und den Menschen immerfort wiederholt.“ An anderer Stelle dieser Einleitung zu Worpswede prägt Rilke Formulierungen, die - wenn man die Rhetorik der Naturerhöhung und der Melancholie bezüglich der Menschen relativiert - erstaunlich aktuell für heutige Betrachtungsweisen erscheinen: „Die Landschaft will nichtf [,] wenn sie sich bewegt“ - nämlich entgegen unserer Gewohnheit, aus Bewegungen auf Willensaktc zu schließen; sie „ist ein Fremdes für uns“. Rilke, Sämtliche Werke, Bd. 5, Frankfurt/M. 1965, S. 10.

Vgl. dazu Antonionis Äußerungen in: „Il bosco bianco“, in: Michelangelo Antonioni, Il deserto rosso, (Drehbuch hg. von Carlo Di Carlo) Bologna 1978, S. 7/8.

Vgl. dazu und allgemein zum Farbgebrauch: Roberto Campari, „Da Deserto rosso: il colore“, in: Tinazzi, Michelangelo Antonioni (wie Anm. 27), S. 161-164, sowie Carlo Di Carlo, „Il colore dei sentimenti“, in: Antonioni, Il deserto rosso (wie Anm. 41), S. 15-18.

Antonioni im Interview mit L’express, Paris, 16.1.1964; zit. nach Di Carlo, „Il co- lorc...“ (wie Anm. 42), S. 24.

Aristarco, Michelangelo Antonioni (wie Anm. 26), S. 34.

Claudia Lenssen, „Kommentierte Filmographie“ in: Roland Barthes u. a., Michelangelo Antonioni, München 1984 (Reihe Film 31), S. 162.

Burghart Schmidt, „Ernst Bloch“, in: Gernot Böhme (Hg.), Klassiker der Naturphilosophie, München 1989, S. 355. Bloch selbst spricht im Kapitel 37 („Wille und Natur, die technischen Utopien“) von „Das Prinzip Hoffnung“ vom Menschen des „bürgerlichtechnischen Naturverhältnis(ses)“ (der kapitalistischen Wirtschaft) als dem „Prügelmeister der Natur“ und sieht in einem „Marxismus der Technik“ „das Ende der naiven Übertragung des Ausbeuter- und Tierbändigerstandpunktes auf die Natur“. Bloch, „Das Prinzip Hoffnung“ (wie Anm. 39), S. 811 u. 813.

Gernot Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt/M. 1989 (cs), S. 9.

Bloch, „Das Prinzip Hoffnung“ (wie Anm. 39), S. 814.

„Mit den Erwachsenen zusammenzusein langweilte sic, sie machten ihr angst. Die gleichaltrigen Kinder gefielen ihr nicht, weil sie Erwachsensein spielten, und so war sie immer allein, zwischen den Kormoranen, den Möwen und den wilden Kaninchen.“ Antonioni, Il deserto rosso (wie Anm. 41), S. 125.

Antonioni, in: Kotulla, Der Film (wie Anm.2), S. 108/109.

Guido Aristarco: „Struttura epifanica e onda di probabilité“, in: Tinazzi, Michelangelo Antonioni (wie Anm. 27), S. 66.

Antonioni im Interview mit John Francis Lane, in: Sight and Sound, Vol. 49, Nr. 1 (Winter 1979/80); zit. nach: Lenssen, „Kommentierte Filmographie“ (wie Anm. 45), S. 214.

Antonio Costa, „Lo sguardo del,flâneur’ e il magazzino culturale“, in: Tinazzi, Michelangelo Antonioni (wie Anm. 27), S. 68. - Der städtische Blick ist übrigens gerade nicht die Regel im italienischen Kino: man vgl. die stark ländlich-süditalienische bzw. frühbourgeoise Raum- und Blickperspektive des italienischen Kinos bis zum heutigen Tag.

Eliade, Kosmos und Geschichte (wie Anm. 9), S. 125.

Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik (wie Anm. 47), S. 12.

Antonioni, in: Kotulla, Der Film (wie Anm. 2), S. 86.

Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik (wie Anm. 47), S. 64.

Berghahn, „Die Nacht. La notte“ (wie Anm. 32), S. 395.

Berghahn, „Die Nacht. La notte“ (wie Anm. 32), S. 393.

Berghahn, „Die Nacht. La notte“ (wie Anm. 32), S. 394.

Die Beziehung von Nouveau roman und Kino ist in diesem Zeitabschnitt, mit den Drehbuchautoren Alain Robbe-Grillet und Marguerite Duras, sozusagen personell manifest in den Filmen L'année dernière ä Marienbad (1961) und Hiroshima - mon amour (1959) von Alain Resnais. Sie werden auch am häufigsten von Kritikern in bezug zum filmästhetisch Neuen bei Antonioni 1959 bis 1961 angeführt. Antonioni selbst nennt Resnais 1961 in einem Vergleich mit eigenen Filmen, allerdings nur im Zusammenhang der Farbgestaltung und des Eingriffs in die Landschaft (in: Kotulla, Der Film [wie Anm. 2], S. 109). Zutreffend erscheint mir Berghahns frühe Differenzierung: „Resnais sucht in Hiroshima noch die verlorene Zeit, Antonionis Figuren in Mailand jedoch verlieren die Zeit. Ihr Regisseur hat den seelischen Innenraum verlassen.“ Berghahn, „Die Nacht. La notte“ (wie Anm. 32), S. 396. - Line eingehende vergleichende Untersuchung zentraler Strukturmerkmale des Nouveau roman und der Filme Antonionis steht noch aus.

Michel Butor: „Présentation de M. A.“, in: Michelangelo Antonioni, La nuit, Paris 1961, S. 12.

Vgl. im weiteren Zusammenhang dazu auch Antonionis schon zwei Jahre zuvor im Godard-Interview gemachten positiven Äußerungen zur US-amerikanischen Pop-art (in: André Bazin u. a., Michelangelo Antonioni [wie Anm. 45], S. 325/326). Allgemein läßt sich ab Blow up eine Einbeziehung von Popkultur-Elementen in die Objektwelt der Filme (z. B. Musikgruppe „Vardbirds“ oder Hasch-Subkultur in Blow up, elektronische Musik schon ab Deserto, zahlreiche Poptitel in Zabriskie Point), aber auch in ihre Visualisierung feststellen (vom Farbgebrauch bis zur Nutzung des Teleobjektivs zur Vermeidung von Schärfentiefedifferenzierung), worin auch immanent eine postmoderne Vermischung unterschiedlicher Kulturebenen stattfindet.

Aus der letzten Szene (des fingierten Tennisspiels) ließe sich leicht ein „Die Welt“ bzw. „die Wirklichkeit als Imagination“ bzw. „Einbildung“ machen - wenn es denn bei Antonioni um solche monolineare Deutung, um Ein-Deutigkeit ginge. Am verwirrendsten für solcherlei Exegese ist etwas früher der Blick auf eine (im filmischen Bild) physisch präsente Leiche, die die,ganze’ Filmargumentation von der entgegengesetzen Seite her aufzuheben scheint.

Lenssen, „Kommentierte Filmographie44 (wie Anm. 45), S. 181.

Böhme, Natur und Subjekt (wie Anm. 33), S. 9.

67 Brockhaus Enzyklopädie (Der Große Brockhaus), Bd. 15: Moe-Nor, Mannheim 1991, S. 373.

Vgl. den Titel der Kant-Untersuchung von Hartmut und Gernot Böhm, Das Andere der Vernunft, Frankfurt/M. 1983.

Alberto Moravia, „Auch die Kunst Antonionis ist explodiert“, in: Antonioni, Zabriskie Point, (Drehbuch) Frankfurt/M. 1985 (TB), S. 86-89.

Wobei „Norm“ nicht als materielles Substrat mit Sanktionsgewalt (etwa im Sinne von Schulenbildung o.ä.), sondern als eine Art innerer Meßlatte zu verstehen ist, an der man nicht umhin kann, sich zu orientieren - ggf. auch ex negativo. Prozessual vergleichbar mit dem Kino von Luis Bunuel, das in diesem Gedankenspiel sozusagen ein anderes Ende der normativen Skala verkörpern würde: die kme- matographische Repräsentanz der primären Triebnatur...

Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M.21974 (STW), S. 55.

Irmbert Schenk
geb. 1941, Dozent für Medienwissenschaft an der Universität Bremen, forscht und lehrt mit einem Schwerpunkt auf der italienischen und deutschen Filmgeschichte.
(Stand: 2019)
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