SABINA BRÄNDLI

MOUVEMENTS DU DÉSIR (LÉA POOL)

SELECTION CINEMA

Menschen im Zug von Montreal nach Vancouver. Ein Mann (Jean-François Pichette) lernt auf der Fahrt zu seiner Geliebten eine andere Frau (Valerie Kapnsky) kennen und verhebt sich in sie. Die Frau löst sich durch die Zugfahrt aus einer schmerzhaften alten Beziehung und reist mit ihrem Kind in eine ungewisse Zukunft. Auch sie verliebt sich in die Zufallsbekanntschaft. Nach verschiedenen Annäherungsversuchen beiderseits kommt es zum Finale der körperlichen Vereinigung in einem Gepäckwaggon. Das Liebespaar wünscht innigst, die Fahrt möge endlos andauern: Durch einen utopischen Schluß läßt Lea Pool den Wunsch vom Glück ohne Ende in Erfüllung gehen.

Die nach Kanada emigrierte gebürtige Genferin hat bereits mit einer Reihe einfühlsamer Frauenporträts wie La femme de l’hôtel oder Anne Trister die Befindlichkeit einer Frauengeneration getroffen. Durch die stets ästhetisch ansprechende Tristesse ihrer Opferfiguren einerseits und das Einfühlungs- und Durchsetzungsvermögen ihrer Powerfrauen andererseits eignen sich ihre Protagonistinnen hervorragend als Identifikationsfiguren. Die Ankündigung einer von ihr realisierten Nahaufnahme des keimenden Begehrens zwischen Mann und Frau weckt daher die etwas vage Erwartung an eine Darstellung aus weiblicher Perspektive.

Trotz der kunstvollen Inszenierung der Tag- und Nachtträume, die das Innenleben der männlichen und vor allem der weiblichen Hauptperson freilegen, bleibt die Charakterisierung der Figuren flach. Die Erinnerungsfetzen an Kindheitsängste und die verschlüsselten Bilder, die zurückliegendes Liebesleid offenbaren, bleiben Behauptung, denn sie hinterlassen keine spezifischen Spuren im Verhalten der Protagonisten.

Als ginge es darum, durch keinerlei spezielle Ausprägung das Identifikationspotential der Figuren zu schmälern, bleibt es bei jenen Elementen, die quasi idealtypisch zu jeder Liebesgeschichte gehören: ein paar schüchterne Blicke, eine durchplauderte Nacht, zwischenzeitliche Mutlosigkeit durch unbegründete Eifersucht und schließlich die Erfüllung der Begierde. Die räumliche Begrenzung des Zuges scheint auch die Phantasie der Filmemacherin zu beschränken: Kaum eine Episode vermag die prinzipiell jeder Begegnung innewohnende Einzigartigkeit zu illustrieren. Das Motiv der Fahrt im Zug vermittelt durch die am Fenster vorbeiziehenden Seelenlandschaften eine zusätzliche, leidlich genutzte Ebene der Darstellung. Der andere Aspekt des Motivs hingegen, der Zug als sozialer Mikrokosmos, wird regelrecht verschenkt. Zwar werden weitere Passagiere eingeführt, doch diese Nebenfiguren sind so eindimensional gezeichnet, daß sie als unvermittelt ins Rampenlicht gezogene Statisten keine Gesellschaft en miniature zu entwickeln vermögen. Eine Liebesgeschichte ohne Eigenschaften. Eine Bewegungsstudie eines soften Begehrens.

Sabina Brändli
geb. 1963, lic. phil. I, Filmwissenschaftlerin und Historikerin, Assistentin und Lehrbeauftragte an der Universität Zürich, dissertiert über Männer-Leitbilder im 19. Jahrhundert, Mitherausgeberin und -autorin von Sowjetischer Film heute, Baden 1990.
(Stand: 2019)
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