JEAN-LUC GODARD

SÄTZE ÜBER KINO UND GESCHICHTE — REDE ZUM ADORNO-PREIS

ESSAY

Die folgenden Sätze sind schon einmal vor etlichen Jahren während eines Gesprächs mit Herrn Serge Daney gesagt worden, als es um die ersten Arbeiten für eine „Einführung in die echte, die einzige, die wahre Kinogeschichte“ ging.

Das Kino war ein Ort, ein Territorium. Wenn ich überhaupt eine Erinnerung an die Vorführungen in der Avenue de Messine habe, dann an einen Ort ohne jede Geschichte; ja es war nicht einmal die Entdeckung eines neuen Kontinents, denn selbst das Gefühl einer solchen Entdeckung war gänzlich unbekannt.

Ich kannte Spengler und Husserl, nicht aber Murnau, und niemand hatte mir gesagt, daß sie in demselben Land wie Bismarck und Novalis lebten. Ich kannte Lulu, aber die von Alban Berg und nicht die aus Canary Murder Case. Und ich wußte nicht, daß die Töne von Sacre du printemps aus derselben Zeit wie die Bilder von Vampire stammten.

Man hatte so etwas noch nie gesehen. Eine Welt, die keine Geschichte hatte und die sich dennoch ihre Zeit mit dem Erzählen vertrieb. Und die ohne Lektüre auskam. Die Schrift war ja seit Rimbaud und Mallarmé das Schreckgespenst. Die weiße Seite war der Feind. Warum noch schreiben nach Joyce und den Duineser Elegien? Vor der weißen Leinwand geschah bei verlöschendem Licht genau das Gegenteil dessen, was Nicolas de Staël in den Selbstmord trieb. Ein zweites Licht nahm in der Dunkelheit Gestalt an. Die Leinwand war kein Hindernis mehr, sondern ein Freund, das Tuch der Veronika und das Hemd des Samariters.

Wir entdeckten das Recht, unsere Hausaufgaben zu machen, ohne in die Schule gehen zu müssen. Es herrschte ein absolutes Freiheitsgefühl. Ein Mann, eine Frau, ein Auto - das war eine Italienreise. Ersetzen Sie einen Jaguar durch eine Tasse Tee, und Ozu tritt an die Stelle von Rossellini. Selbst wenn wir keine Filme machen konnten, wußten wir, daß wir es könnten, und das gab uns ein wenig von der Würde wieder, die die beiden Weltkriege uns geraubt hatten.

Ich glaube an den Menschen in dem Maße, wie er Werke macht. Die Menschen müssen geachtet werden, weil sie Werke machen; das können ein Blumen-Strauß oder Rollschuhe sein, ein Konzert oder Gleichungen fünften Grades. So gesehen bin ich kein Humanist. François Truffaut hat gesagt: „Politik der Autoren“. Heute aber hat man nur das Wort „Autor“ bewahrt, während das eigentlich interessante Wort das erste von beiden war. Wer erinnert sich noch an den farblosen Sheriff Marshall, doch kein Einwohner Berlins hat die gleichnamige Brücke vergessen, das heißt die Tat, mithin das, was nach dem Willen Goethes der Anbeginn der Welt ist.

Zuerst die Werke, hat Langlois uns gelehrt, dann die Menschen. Wenn ihr jene achtet, werdet ihr diese achten. Nicht umgekehrt. Wir sehen es an dem armen Jugoslawien. Sind sie gut, sind sie böse? Man ist mit seinem Latein am Ende. Man verbringt seine Zeit, über den Horror und die Misere zu klagen - aufrichtig, wenn man ein einfacher Bürger ist, mit Hintergedanken, wenn man der Regierung angehört. Und man vergißt darüber den Krieg, die Tat, oder den Frieden, der ja auch eine Tat ist; und die Welt steht köpf, die Marionetten spielen mit Wilhelm Meister und der harte Microsoft mit dem Schicksal der Völker.

Ich könnte also sagen: Ja, da hat etwas existiert, das ziemlich einzigartig war. Das Kino. Und wie das bei Einzelkindern der Fall ist, ist es schiefgegangen. Etwas in der Art muß wohl vor dreitausend Jahren geschehen sein, als Mykene verschwand, oder bestimmte Tier- oder Pflanzenarten vor mehreren hundert Millionen Jahren.

Es gab etwas, ein Bild, ein Bild, das nur eine Bewegung war - nicht ein Bild, wie man es im Fernsehen sieht, das nur die Ankunft oder die Abfahrt zeigt, niemals aber das, was vom einen zum andern geht und vom andern zum einen zurückkommt - und diese Bewegung, diese Tat, dieses bestimmte Bild sagte uns etwas, was man nicht hören wollte. Man zog es vor, die Sprache darüberzulegen - wie bei diesen erbärmlichen flotten Kommentaren. Unter diesem Gesichtspunkt ist, wenn Sie so wollen, das Werk, für mich, das Kind. Und der Mensch ist der Erwachsene, ist Elternteil. Und mit dem Kino geschah es, daß das Kind den Eltern zeigte, wer sie waren, und gleichzeitig sprach es davon, was es selbst war. Und die Eltern haben nichts wissen wollen. Sie haben Angst bekommen. Und Hitler hat angefangen herumzuschreien und zu strafen, und Roosevelt hat einen „New Deal“ vorgeschlagen, denn es wurde gefährlich, nicht Geschichten zu erzählen, sondern die Geschichte zu sehen.

Aber um sie zu sehen, muß man sie übereinanderschichten und machen, was Lévi-Strauss, Einstein und Kopernikus gemacht haben. Wenn man sagt, daß Kopernikus um 1540 die Idee aufgebracht hat, die Sonne drehe sich nicht mehr um die Erde, und wenn man dann sagt, daß um fast dieselbe Zeit Vesalius De humanis corporis fabrica veröffentlicht hat, dann hat man Kopernikus in dem einen Buch und in dem andern Vesalius. In dem einen Buch das Universum und das unendlich Große. Und in dem andern das Innere des menschlichen Körpers, das unendlich Kleine. Und wenn vierhundert Jahre später der Biologe François Jacob scheibt: Kopernikus und Vesalius im selben Jahr ... ja, dann macht er damit nicht Biologie, sondern Jacob macht Kino. Und die Geschichte gibt es nur da. Sie ist Nahaufnahme. Sie ist Montage.

Dasselbe gilt, wenn Cocteau sagt: Gesetzt den Fall, Rimbaud hätte gelebt, wäre er im selben Jahr wie Marschall Pétain gestorben. Wir haben das Porträt des jungen Rimbaud und das des alten Marschalls von Frankreich von 1948, und der Blick wandert vom einen zum andern, und hier hat man eine Geschichte, man hat Geschichte. Die Geschichte Ihres schrecklichen Hegel, wenn Sie so wollen, oder die Ihres freundlichen Benjamin. Nicht eine gesprochene Geschichte, sondern eine gesehene, und wenn Marx vom „Stottern der Geschichte“ spricht, wenn seine Art zu reden Gewicht hat, so weil es bereits ein Bild ist und weil Niepce und Nadar schon ihre ersten Klischees entwickelt hatten.

Ich habe aus diesen Gründen das erste Kapitel meines Werkes über das Kino „alle Geschichten“ genannt, dann folgte „eine Geschichte allein“ und dann „allein das Kino“ - was heißen soll: Allein das Kino kann das machen, was aber auch heißen soll: Das Kino war sehr allein gegenüber dem Wortschwall der Erwachsenen, so allein, daß ... Jean Vigo niemals den Heidegger-Preis bekommen wird, obwohl er so viel „unterwegs“ war.

Meine, wie Sie wohl erraten haben, maßlos ehrgeizige Idee, eine Idee, die selbst Michelet nicht hatte, als er seine großartige Histoire de France schrieb - die Sixtinische Kapelle der Geschichtsschreibung -, meine Idee ist, daß die Geschichte allein ist, sie ist vom Menschen fern. Das ist meine Idee. Fernand Braudel sagt etwas dieser Art, wenn er sagt, es gebe zwei Geschichten: eine nahe Geschichte, die in schnellen Schritten auf uns zueilt - das ist das Fernsehen oder Der Spiegel, und bald Goya und Matisse auf CD-ROM (ROM wahrscheinlich für Römer, Pax Romana, Pax Americana) -, und eine ferne Geschichte, die uns mit langsamen Schritten begleitet, und das ist Kafka, das ist Pina Bausch, das ist Fassbinder, um nur von den größten Künstlern bei Ihnen zu reden.

Es gibt also diese Sache, die unbedingt innerhalb des Kinos bleibt, eine verkrustete Puppe, aus der niemals ein Schmetterling schlüpft - man weiß es jetzt -, diese Sache ist die Montage. Meine Idee, als Landarzt oder Kinogärtner, war es, daß eines der Ziele des Kinos die Erfindung oder Entdeckung der Montage war, so wie ich es gerade am Beispiel von Kopernikus und von Vesalius einfach dargestellt habe, und daß man sie in den Schulen unterrichten sollte - man darf ja wohl noch träumen? Zum Beispiel, was ist der Unterschied zwischen zwei ehemaligen Präsidenten der französischen Republik, Charles de Gaulle und François Mitterrand? Ich würde sagen, wenn man diesen Unterschied wissenschaftlich darstellen will, wird das Kino folgendes sagen:

Es handelt sich um zwei Franzosen, die ein Territorium hatten, es gab einen Krieg und Eindringlinge. In einem bestimmten Augenblick ist einer der beiden, François Mitterrand, gefangengenommen worden, und sein Aufstieg zur Macht hat begonnen, indem er aus Frankreich flüchtete und wieder zurückkam. Der andere, de Gaulle, hingegen ist aus seinem Land geflohen und hat seinen Kampf im Ausland aufgenommen. Das ist der Unterschied, das ist die Montage, das ist ein Moment der Geschichte, das ist ein Moment des Kinos.

Das Wort Montage wurde viel verwendet. Heute heißt es: die Montage bei Welles, bei Eisenstein, oder andererseits die Abwesenheit der Montage bei Rossellini. Ach, diese Dummköpfe, würde Bernanos sagen. Die Montage! Das Kino hat sie nie gefunden, die Tobis und RCA haben ihm nicht die Zeit gelassen, etwas ist unterwegs verlorengegangen, seine Sprache, und das Reden, die Wörter haben überhandgenommen, gewiß nicht das Reden und die Wörter der Kinder von Jeronimo, auch nicht Narziß und Goldmund. Das wird ganz offenkundig, wenn man die Ansagerin beobachtet, die Ihnen die Nachrichten des Tages oder Nacht daherplappert und dabei zu Ihnen weder von uns noch von sich selbst, noch von den andern spricht. Wenn das Kino groß und erwachsen hätte werden können, anstatt ein verwaltetes Kind, ein von den Erwachsenen verwaltetes Kind zu werden, dann würde dieses menschliche Desaster, die Ansagerin, über großartige Nachrichten wie die von Kopernikus und die von Vesalius sprechen, und das wäre sehr viel klarer, und sie wäre unsere große Schwester.

Ja, was suchte die Montage? Griffith war nicht bestrebt, durch die einmal festgelegte Großaufnahme der Schauspielerin näherzurücken, wie es die Legende will. Er suchte eine Annäherung zwischen etwas Fernem und etwas Nahem, vor allem in der Zeit. Eisenstein hingegen hat den Winkel gefunden, El Greco und Degas waren seine Vorläufer. Wenn man die berühmten Bilder mit den drei Löwen in Panzerkreuzer Potemkin betrachtet, wenn diese drei Löwen wie montiert wirken, dann weil es drei Blickwinkel gibt, und nicht weil es montiert ist. Die Deutschen wußten nichts von der Montage, aber sie haben sie auf ihre Weise erforscht, indem sie zunächst von dem Bühnenbild, dem Licht und einer Philosophie der Welt ausgingen, die Sie wohl „Aufklärung“ nennen. Alle suchten etwas, von dem man heute nicht sagen kann, was es ist, etwas, das nirgendwo sonst existiert hatte und das, wenn man so sagen darf, ohne Kommentar auskam. Es war die Kraft des stummen Films. Können wir uns noch die Kraftanstrengung vergegenwärtigen, Moliere ohne Ton zu drehen? Selbst der bemerkenswerte Tartuffe von Beno Besson besitzt nicht die dämonische Größe von Jannings in Murnaus Film. Und verwenden schließlich selbst die Sterne, die zu den Physikern von den Geheimnissen des Universums sprechen, nicht ebenso beredte und tiefe Bilder wie jene der bescheidenen Straßenbahn in L’Aurore?

Es gibt einen großen Kampf zwischen den Augen und der Sprache. Die Augen sind die Völker. Die Sprache ist die Regierung. Wenn die Regierung von dem spricht, was sie sieht und dementsprechend handelt, ist das gut, denn es ist die Sprache der Medizin. Sie sagt: Das ist ein Tumor, und setzt zum Schnitt, zur Montage, zur Nahaufnahme an. Mit dem Kino gab es eine Ahnung, daß Dinge möglich wären, wenn man sich ein wenig anstrengte, sie bei ihrem Namen zu nennen. Das Kino hatte vor allem eine neue - bis dahin noch nie gesehene - Art, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen, und eine Weise, die kleinen und großen Ereignisse zu sehen, welche schlagartig populär und sofort von der ganzen Welt beansprucht wurde. Mit einem Wort, das Kino war zum Denken, folglich zur Heilung der Kranken geschaffen.

Mir persönlich wurde das ganz langsam klar, als ich bemerkte, daß ich seit meiner Geburt von jener zweiten Geschichte begleitet wurde, von der Braudel spricht, jener, die uns langsamen Schrittes begleitet. Ich habe nach vielen Filmen bemerkt, ich und andere auch, daß man die Konzentrationslager nicht gezeigt hatte. Ich interessiere mich für diesen Aspekt der Dinge wahrscheinlich wegen meiner Vergangenheit, meiner Klassenherkunft, meines Schuldgefühls, meines Vaters, der mir seine Liebe für Deutschland übertragen hatte, mit einem Wort wegen Siegfried oder Die zwei Leben des Jacques Forestier1. Mir schien es, daß es zu den ersten Dingen des sozusagen befreiten Kinos gehört hätte, die Lager zu zeigen, etwa in dem Sinn, wie man am Anfang den Gang des Menschen mit Mareys chronophotographischcm Gewehr gezeigt hat. Aber man wollte nicht sehen. Man hat es vorgezogen, zu reden und zu sagen: Nie wieder!

Und es ging ja gewissermaßen gleich wieder aufs schönste los: Vietnam, Algerien - das noch nicht zu Ende ist -, Biafra, Afghanistan, Palästina. Ich habe beispielsweise bemerkt, daß das Wort Muselmann von irgendeinem Kapo in Dachau oder Mauthausen erfunden wurde, um einen völlig entkräfteten Juden zu kennzeichnen. Die Geschichte begleitet uns wirklich sehr langsam, braucht es doch fünfzig Jahre, um diesen Juden in einer Muslim-Uniform in den Ruinen von Sarajevo und Srebrenica wieder aufzuspüren.

Das Kino hat weniger die Welt selbst als die Welt bei der Betrachtung des Kinos betrachtet. Und als das Fernsehen aufkam, hat es sich sehr schnell an die Stelle der Welt gesetzt und hat sie nicht mehr betrachtet, das heißt nicht mehr wahrgenommen und bewahrt. Und die Presse hat daran nichts geändert, sie hat teil an der Macht, so gut sie kann. Wenn also Ingrid Bergmann einen Schlüssel in ihrer Hand versteckt, sieht man nicht mehr, daß dieser Schlüssel uns betrachtet. Und das ist in dem Augenblick passiert, als man die Welt nicht mehr in dem Zustand sehen wollte, in den die Lager sie versetzt hatten.

Das Kino oder vielmehr der Kinematograph ist in jenem Augenblick verschwunden. Er ist verschwunden, weil er selbst diese Lager angekündigt hatte. Genauso wie Wien und seine Musik den ersten Weltkrieg angekündigt hatten, hatte der Kinematograph den zweiten vorausgesehen. Aber einem Charlie Chaplin, der als Person bekannter war als Napoleon und Gandhi und dem jedermann glaubte, Chaplin hat man nicht geglaubt, als er den Diktator hergestellt hat. Als Renoir sowohl die große Illusion als die Spielregel beschrieb, wurde das von niemandem beachtet. Und dasselbe passierte, als vor der Kristallnacht irgendein Filmkritiker bemerkte, daß der erste Gangsterfilm das Werk von zwei deutschen Juden war, dem Amerikaner Ben Hecht und dem Österreicher Sternberg.

Les signes parmi nous (Die Zeichen unter uns) - so lautet ein Roman von Charles Ferdinand Ramuz. Das Kino ist nur ein Hausierer gewesen, der uns mit diesen billigen Zeichen versah. Aber wir leben nicht mehr in der Zeit der Hausierer. Jetzt beginnt der wirkliche Kampf, der Kampf zwischen Geld und Blut. Ihr Spengler hat ihn vor bald hundert Jahren beschrieben. Und jeder begeht auf seine Weise diese scheußliche Jahrhundertfeier. Was tun? Hören wir den Philosophen, den einzigen, der Till Eulenspiegel verteidigt, ich meine Dany le Rouge, wie er 1968 frohlockend ausrief: „Helas, en avant!“

Deutscher Titel des Romans Siegfried et le Limousin (1922) von Jean Giraudoux - Anm. d. Übers.

12. September 1995

Aus dem Französischen von Hanns Zischler

Jean-Luc Godard
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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