CLAUDIA WEILENMANN

GERHARD MEIER - DIE BALLADE VOM SCHREIBEN (FRIEDRICH KAPPELER)

SELECTION CINEMA

In Niederbipp halten die Schnellzüge nicht an. In diesem Durchschnittsdorf am Jurasüdfuß, im Haus, in dem er 1917 geboren wurde, lebt und schreibt der Schriftsteller Gerhard Meier noch heute. In seinen Romanen wird es als „Amrein“ zum „Zentrum der Welt“. Diese erstaunliche Metamorphose sinnlich erlebbar zu machen und einen Zugang zu schaffen zu Meiers dichten, aber schwierigen, weil handlungsarmen und nachdenklichen Texten, gelingt Kappeier in kongenialer Weise. Wie schon in Der schöne Augenblick (1985/86), einem Film über die frühen Dorfphotographen, und Adolf Dietrich, Kunstmaler (1991) Fragt er auch hiernach dem Verhältnis von Kunst und (Dorf-) Leben in der Schweiz.

In ruhigen Einstellungen begleitet die Kamera den 78jährigen an die Orte, die seinen Alltag und sein Schreiben prägten. Dazu gehören das Elternhaus, der Garten, die Aarelandschaft, das Technikum in Burgdorf, das er frühzeitig verließ, und auch die Lampenfabrik, in der Meier während 33 Jahren arbeitete. Nach 20 Jahren „Literaturabstinenz“ („us Angscht vor der Literatur, wie ne Süüffer, entweder er suuft, oder er suuft ned“) begann er während eines Sanatoriumsaufenthalts mit 40 Jahren wieder zu schreiben. Als er 1971 die Arbeit in der Fabrik aufgab, sorgte seine Frau Dora Meier-Vogel als Kioskverkäuferin für den Lebensunterhalt. Von ihrer Wärme, ihrem Humor und ihrem Erzähltalent und überhaupt von der Liebesgeschichte zwischen Gerhard und „Dorli“ lebt auch der Film. Das Paar hält gemeinsam Rückschau und unternimmt, begleitet vom Filmteam, zwei Reisen, die auch physisch in jene Weite führen, die in Meiers Sprache und seinem radikalen Ernstnehmen des Nahen immer schon da ist. Die erste führt auf die norddeutsche Insel Rügen, wo Meiers Mutter herkam und wo seine Sensibilität für Sprache (die Mutter lernte nie Schweizerdeutsch) wurzelt. Die zweite nach Jasnaja Poljana bei Moskau, wo der von ihm verehrte Tolstoi lebte und begraben liegt.

Wie beim Wandern und Flanieren in der Niederbipper Umgebung zeigt der Film auch bei diesen größeren Reisen sehr schön, wie die äußere Bewegung bei Meier die innere des Reflektierens anregt und vorantreibt. Etwa wenn er in Moskau und St. Petersburg nachdenkt über die Spannung zwischen dem „großen“ Leben (der Zaren) und dem der kleinen Leute (seinem eigenen) oder über die Notwendigkeit von Heimat, die aber nicht in Ideologie ausarten dürfe. Immer wieder frappierend ist dabei die Formulierungskraft Meiers auch im Mündlichen, seine verhaltene Ironie genauso wie seine große Bescheidenheit und die Versöhntheit mit dem Gang seines Lebens, das ihn vom „geborenen Provinzler“ zum „überzeugten Provinzler“ habe werden lassen. Das glaubt man ihm um so mehr, als er es auch genießt, „für ein paar Tage das Leben in größeren Ausmaßen zu praktizieren“, so am Petrarca-Fest in Weimar, wo Peter Handke (außer ihm befragt der Film keine Literaturexperten) Meiers „natürliche Art, in Frieden zu erzählen“, würdigt. Von der dokumentarisch-biographischen Ebene heben sich die schwarzweiß gefilmten Passagen ab, zu denen Ausschnitte aus Meiers literarischem Werk gelesen werden und die so die Transformation andeuten, die Niederbipp erfährt, wenn es in Meiers Sprache zu Amrein wird.

Claudia Weilenmann
geb. 1960, Studium der Germanistik, Europäischen Volksliteratur und Pädagogik, lebt in Zürich.
(Stand: 2019)
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