THOMAS SCHÄRER

EIN KLARER FALL (ROLF LYSSY)

SELECTION CINEMA

Ein klarer Fall ist bereits die zweite Verfilmung des Prozesses gegen den des Mordes an seiner Frau angeklagten Berner Zahnarzt Bruno Zwahlen. Rolf Lyssy ist um Authentizität bemüht, rekonstruiert das Geschehen nach Prozeßakten und Zeitungsartikeln in semi- dokumentarischer Manier. Er stützt sich dabei vor allem auf Material, das Hanspeter Born in seinem Buch Mord in Kehrsatz (1989) zusammengetragen hat.

Der Berner Journalist Loosli führt als Ich- Erzähler durch die Geschichte, ist lange und wiederholt aus dem Off zu hören, liefert Informationen, die im Gang der Handlung nicht untergebracht werden konnten. Mehrere Indizien - eine vom Angeklagten Seiler kurz zuvor abgeschlossene Lebensversicherung für sich und seine Frau, die bevorstehende Scheidung, Blut auf dem Ehebett - scheinen für seine Schuld zu sprechen. „Ein klarer Fall“, wie Loosli von der Berner Zeitung nach Seilers Verhaftung seinen Bericht titelt. Der Oberstaatsanwalt Gerber ist vom ersten Untersuchungstag an von Seilers Schuld überzeugt und ermittelt ausschließlich gegen ihn. Sechs Wochen sitzt dieser ohne Rechtshilfe in Untersuchungshaft. Gerbers Studienfreund Guggisberg übernimmt schließlich Seilers Verteidigung und widerlegt mit Akribie Anklagepunkte und Hypothesen des Staatsanwaltes. Er deckt gravierende Verfahrensmängel auf, die zu einem zweiten Prozeß und schließlich zum Freispruch führen.

Das Streben Lyssys nach Authentizität wird auch formal sichtbar. Die Kameraführung ist unprätentiös, dem Lauf der Handlung untergeordnet. Die Tonspur wird von sanften Querflötentönen bestimmt. Viele Rückblenden sind doppelt angelegt. Auf verbale Aussagen folgt die Verbildlichung. Diese inszenatorischen Merkmale, gepaart mit größtenteils nicht überzeugenden schauspielerischen Leistungen, verleihen dem Film eine Schwerfälligkeit, die im Kontrast zur spannenden whodunnit-Konstellation steht.

Leider verpaßt es Lyssy auch, den Bogen von der Rolle der Justiz im Einzelfall Seiler zum „Normalfall“ zu schlagen. Zwar zeigt und kritisiert er den Filz rund um den Oberstaatsanwalt: Man kennt sich seit dem Sandkasten, Studium oder Militär und will sich gegenseitig schadlos halten. Nur Guggisberg durchbricht mit zunehmendem Engagement für seinen Klienten und gegen Ungereimtheiten in der Prozeßführung den „Nichtangriffspakt“ des Establishments. Doch über weite Strecken kritisiert Ein klarer Fall Personen statt Strukturen. Daran ändert auch das Schlußbild nichts, das Justitia mit verbundenen Augen zeigt.

Dramaturgisch verwickelt sich der Film in einen unfruchtbaren Widerspruch: Mit der gleichen Emphase, mit der er die Vorverurteilung Seilers durch den Oberstaatsanwalt denunziert, beschuldigt die mise en scene die Eltern des Opfers, dämonisiert das Ehepaar und insbesondere Frau Locher und entlarvt sie letztlich als Täter. Lyssy scheint sich davor zu scheuen, das murder mystery ungelöst zu lassen. Ein Rätsel wird es dem Rezensenten bleiben, wieso Rolf Lyssy relativ kurz nach der beachtlichen filmischen Bearbeitung des Falles Zwahlen durch Bernhard Giger (Tage des Zweifels, 1991) das Thema erneut aufgriff - ohne im wesentlichen neue oder andere Aspekte zu beleuchten.

Thomas Schärer
geb. 1968, studierte Geschichte und Film-/Theaterwissenschaft in Zürich und Berlin, seit 1991 freie (film)journalistische Arbeiten, ab 1992 Programmgestaltung an der Filmstelle der Zürcher Hochschulen.
(Stand: 2019)
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