THOMAS SCHÄRER

WILD BOY (JOSY MEIER, STEFAN JUNG)

SELECTION CINEMA

Die Kamera nähert sich Philipp behutsam. Von außen, von der Straße ist er beim Abwaschen in der Küche zu sehen. Irgendwann wagt sie sich in seine Wohnung. Wer Philipp ist, erschließt sich durch seine Äußerungen nach und nach. Er ist als schwuler, heroinsüchtiger Stricher mit literarischen Ambitionen dreifach stigmatisiert. Er träumt von einer zukünftigen Kraft, die es ihm ermöglichen soll, vom Heroin wegzukommen. Er ist 32. Kein Alter eigentlich, aber für jemanden wie Philipp, der ein an Abgründen und künstlichen Paradiesen (Baudelaires Bezeichnung für Drogen) reiches Leben führt, bedeutet diese Zahl ln-die-Jahre-Kommen. Er kennt sich gut. In eigenen Texten, die im voice-over zu hören sind, aber auch im Gespräch mit (der von Bild und Ton unbemerkt bleibenden) Josy Meier, reflektiert er über seine Sucht, seine Homosexualität, seine Enttäuschungen mit Menschen und die Suche nach Liebe und Lebenssinn. Er hat etwas zu sagen und ergeht sich nicht in Selbstmitleid: „S Heroin enttüscht dich nöd. Du hasch kei Heroin, wo seit, du, ich ha kei Znt für dich.“ Mit kritischer Distanz erörtert er sein Schwulsein: „Ich fing zu fixen an, um einen Vorwand zu haben, auf den Strich zu gehen. Nur so konnte ich zu meiner Homosexualität stehen.“ Er wünscht sich einen Mann, einen heterosexuellen „Märchenprinzen“, der seinetwegen schwul wird. Er sei sehr feminin, deshalb soll cs ein „männlicher Mann“ sein. Der Ausgleich, den jeder Mensch im Partner, in der Partnerin suche, sei in einer schwulen Beziehung schwer zu finden. Er erzählt von seiner Sehnsucht, die ihn in die Bahnhofklos treibt, von den flüchtigen Bekanntschaften, dem spanischen Schlafwagenschaffner mit dem großen Schwanz.

Der Gefahr eines talking head-Films begegnen Josy Meier und Stefan Jung mit vielfältigen formalen Mitteln. Die Kamera scheint sich immer wieder zu verselbständigen, um mit Fensterläden im Gegenlicht oder mit dem dauernden Wechsel von Farbe und Schwarzweiß sinnliche Spiele zu treiben oder in irrer, stroboskopischer Fahrt durch die Umgebung des Drogenumschlagplatzes Letten zu rasen. Eine weitere Gefahr, die im Thema lauert, meistert der Film: Er ist nicht morahsierend- didaktisch. Wohl ist Philipp auf dem Friedhof zu sehen, wo seine zwei Brüder liegen. Wohl sehen wir Taucher, die aus der Limmat beim Lettensteg eine Leiche fischen, doch stellt der Film keine Kausalität zu Philipps Sucht her. Philipp ist erst in zweiter Lime Opfer. Vor allem ist er ein denkender Mensch mit Sinnlichkeit und Stolz.

Josy Meier zeigt in Wild Boy eine Fähigkeit, die sich schon in Der Kunde ist König, einer Dokumentation über den Drogenstrich von Frauen im Seefeld, manifestierte: sich marginalisierten Menschen einfühlsam und differenziert zu nähern und dabei auch formal zu überzeugen.

Thomas Schärer
geb. 1968, studierte Geschichte und Film-/Theaterwissenschaft in Zürich und Berlin, seit 1991 freie (film)journalistische Arbeiten, ab 1992 Programmgestaltung an der Filmstelle der Zürcher Hochschulen.
(Stand: 2019)
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