LILIAN RÄBER

KRÄUTER UND KRÄFTE (JÜRG NEUENSCHWANDER)

SELECTION CINEMA

Ist die Natur eine aktive Kraft, oder steht sie uns passiv gegenüber? Jürg Neuenschwander packt diese Frage in seinem Dokumentarfilm Kräuter und Kräfte doppelt an. Er sucht in der Umgebung, in der er aufgewachsen ist - dem Emmental -, nach Menschen, die sogenannte alternative Heilmethoden pflegen oder konkret mit übernatürlichen Kräften arbeiten. Ein Pendler, ein Kräuterdoktor und eine Geistheilerin und ihre Praktiken werden porträtiert. Aber Neuenschwander geht weit über das Porträt hinaus, indem er sich selbst als Kind dieser Landschaft und schließlich auch als Patient von Rosmarie Megerts Wünschelrute einbringt. Er beschreibt, wie ihm in der Schulzeit die kindliche Faszination für die magischen Welten ausgetrieben, wie alles als erklärbar bezeichnet wurde. Zur Schule ging er in den sechziger Jahren, als die Landwirtschaft definitiv mechanisiert wurde. Doppelt wurde Neuenschwander damals ein Wissen entfremdet, nach dem er heute wieder sucht.

Die Bilder assistieren ihm bei der Suche. Wenn die Kamera langsam über ein Panorama schwenkt, dann liegt die Emmentaler Natur tatsächlich passiv vor unseren Augen. Die schönen Hügelketten mit den sanften Stimmungen bieten sich der Betrachterin oder dem Betrachter dar und erstellen eine enorme Distanz. Ganz anders wirken die dunklen Tobel und Gruben, in denen die Kinder früher herumgekraxelt sind - dort fällt kaum Licht hin, dafür fließt hier jener Bach mit der gefährlichen Wasserschwelle. Wie damals die Kinder taucht die Kamera hinter den Vorhang aus Wasser in die verbotene Zone. Der Blick wird beinahe ertränkt, und die Unmittelbarkeit der Bilder läßt die Natur aktiv werden. Magie ersteht. In derselben Grauzone funktionieren die Naturheilkräfte, die der modernen Medizin versteckt gegenüberstehen. Diese Parallele, die über einen empathischen Blick hergestellt wird, ist die Stärke des Filmes. Die Behandlungsmethoden, die gezeigt werden, erscheinen dadurch in einem anderen Licht. So eröffnet sich die Bereitschaft im Publikum, das Ganze nicht als fremdes Phänomen zu betrachten - die Philosophie der Naturheilkräfte, die der Kräuterdoktor erklärt, kann zugelassen werden, ohne daß sich sofort die Frage nach dem belegbaren Erfolg stellt. Untermalt wird der Film durch die dissonanten Klänge des European Chaos String Quintet, in denen sich Rationalität und Magie zu vermischen scheinen.

Allerdings überzieht der Autor mit neunzig Minuten die angemessene Länge. Der Aufbau, der anfänglich streng und gut strukturiert war, verzettelt sich, und gegen Ende wirkt der Film streckenweise gar repetitiv.

Lilian Räber
geb. 1967, ist Historikerin und arbeitet als freie Filmjournalistin - vorwiegend für die WochenZeitung, lebt in Zürich.
(Stand: 2019)
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