DORIS SENN

EN APPARENCE (OLIVIER ZIMMERMANN)

SELECTION CINEMA

Eine junge Frau steckt ein minuziös abgepacktes Pillenset ein. Sie erhält Ratschläge und ein Schreiben für den Zoll. Ein Telephongespräch bereitet ihre Abreise vor: Marie ist auf dem Sprung nach Kanada, um ihr bisheriges Leben und damit die Drogen hinter sich zu lassen. Nur: Als sie ihre letzte Nacht in einem Genfer Stadtpark verbringt, springt ein komischer Kauz vom Baum, der sich als forscher, amüsanter, manchmal etwas nerviger junger Mann namens Lucas entpuppt, just auf der Lauer nach wirklichen Käuzen.

Eine fein gesponnene Kennenlern- und Verliebensgeschichte lässt Olivier Zimmermann in den kurzen vierzig Minuten von En apparence vor unseren Augen entstehen. Und: das Gefühl dafür, was es heißt, Vergangenheit hinter sich lassen zu wollen und doch immer wieder auf die eigene Geschichte zurückgeworfen zu sein. Marie reagiert verschlossen auf Lucas’ Fragen nach dem Vorher, will sich nicht an ein früheres Treffen mit ihm erinnern, aus Angst, ihre Drogenabhängigkeit zum Thema machen zu müssen.

Geradlinig und mit wenigen Zeitellipsen erzählt, entwickelt sich in weichen Schwarzweißbildern, die Schauplatz und Figuren immer wieder ins Halbdunkel tauchen, eine atmosphärisch dichte Szenenfolge, die mitunter jenes Zeitgefühl aufkommen läßt, das eine Nacht und einen Tag so lang werden lassen, wenn zwei sich in Sympathie annähern. Dabei haben auch Nebensächliches und Zögerlichkeiten, müßige Zeitschlenker und vermeintliche Ungereimtheiten im Verhalten der - hervorragend gespielten - Figuren ihren Platz. Ja, gerade diese lassen sie an Differenziertheit und realistischen Konturen gewinnen. Die Geschichte zieht in Bann, und man darf mit Spannung auf Zukünftiges des Regisseurs hoffen.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]