CHRISTINE NOLL BRINCKMANN

VOM FILMISCHEN ALLTAG DER BEATS — PULL MY DAISY (ROBERT FRANK UND ALFRED LESLIE, USA 1959)

ESSAY

Pull My Daisy markiert – mit dem fast gleichzeitig entstandenen Shadows von John Cassavetes – den Auftakt des New American Cinema, eines Zusammen­schlusses von New Yorker Künstlern, die die Erneuerung des Films im Sinn hatten. Es war keine eigentliche Experimental- oder Undergroundbewegung in der engeren, die Mainstream-Kultur ignorierenden Bedeutung; vielmehr wollte das New American Cinema mit unabhängigen Produktions- und Distribu­tionsbedingungen, mit der Mischung von Dokumentarischem, Fiktionalem und Lyrischem, mit persönlich geprägten Autorenfilmen über »the emotional and intellectual conditions of their own generation«1, mit innovativen ästheti­schen Ansätzen und kompromißloser Vitalität gegen die Erstarrung des ameri­kanischen Kinos im Trivialen angehen:

We don't want false, polished, slick films – we prefer them rough, unpolished, but alive; we don't want rosy films – we want them the color of blood.2

Zu der Bewegung gehörten neben Cassavetes und den Schöpfern von Pull My Daisy, Robert Frank und Alfred Leslie, vor allem ihr Begründer Jonas Mekas und sein Bruder Adolfas; weiterhin Lionel Rogosin, Peter Bogdanovich, Emile de Antonio, Gregory Markopoulos, Shirley Clarke sowie eine Reihe heute weniger bekannter Filmemacher, Produzenten und Verleiher.3

Die Gruppe entwickelte sich zu Beginn der sechziger Jahre relativ rasch auseinander. Cassavetes gelang der Sprung ins kommerzielle Kino (ebenso wie Peter Bogdanovich), obwohl er seine innovativen Grundsätze, insbesondere die improvisatorische Arbeit mit den Schauspielern, nie ganz aufgab. Jonas Mekas wurde, als Herausgeber der Zeitschrift Film Culture, der wichtigste Sprecher des experimentellen Films. Sein eigenes filmisches Werk konzentrierte und konzentriert sich, unendlich weit vom kommerziellen Spielfilm entfernt, auf tagebuchartige lyrische Impressionen. Auch Gregory Markopoulos fand seine Berufung in der poetischen filmischen Avantgarde. Andere, etwa Lionel Rogosin, hielten sich in der Schwebe zwischen den Gattungen und experimen­tierten mit inszenierten oder teilinszenierten dokumentarischen Formen. Emile de Antonio wurde zum Hauptvertreter des radikalen politischen Dokumentar­films der Vietnam-Ära.4 Alfred Leslie wandte sich primär der Malerei, aber auch der Theaterdekoration zu und schuf gelegentlich weitere Filme.5 Auch der Photograph Robert Frank blieb in mehreren Bereichen tätig, seine späterenfilmischen Werke und Videoarbeiten sind teils lyrisch-autobiographische Skiz­zen, teils persönlich gefärbte Low-budget-Fiktionen.6

Die Zeitschrift Film Culture setzte einen »lndependent Film Award« aus, der im ersten Jahr – 1959 – an John Cassavetes' Shadows, im zweiten an Pull My Daisy ging.7 In der Begründung wird Pull My Daisy emphatisch gegen das Kommerzkino abgehoben:

Its modernity and its honesty, its sincerity and its humility, its imagination and its humor, its youth, its freshness, and its truth is without comparison in our last year's pompous cinematic production. In its camera work, it effectively breaks with the accepted and 1,000-years-old official rules of slick polished Alton & Co. cinemato­graphic schmaltz. It breathes an immediacy that the cinema of today vitally needs ifit is to be a living and contemporary art.8

Eigentlich sollte der Film The Beat Generation heißen, wie das gleichnamige Theaterstück von Jack Kerouac, auf dem er basiert. Selbstbespiegelung, Selbst­inszenierung, Selbstironie, Narzißmus waren Teil des Programms der Beats; und obwohl die Verfilmung von zwei Künstlern in Angriff genommen wurde, die nur an der Peripherie der Bewegung standen – dem New Yorker Action-Painter Alfred Leslie und dem Schweizer Photographen Robert Frank –, sollte möglichst viel vom Geist der Beats einfließen. Allerdings mußte der Titel gleich nach der Uraufführung geändert werden: Das Studio MGM, dem die Rechte daran gehörten, verwendete ihn im gleichen Jahr für einen Action-Thriller, der jedoch nichts mit Kerouacs Stück zu tun hatte. Vielleicht ein glücklicher Not­fall, denn der neue Titel erweist sich als poetischer, verrätselter und sensueller als der erste: Pull My Daisy.9

Nur zwei Strophen des erotischen Nonsens-Gedichts, das Jack Kerouac und Allen Ginsberg gemeinsam verfaßt hatten,10 fanden Eingang in den Film:

Pull my daisy

Tip my cup

All my doors are open

Cut my thoughts for coconuts

All my eggs are broken

Hop my heart song

Harp my height

Seraphs hold me steady

Hip my angel

Hype my light

Lay it on the needy

Der Text war vorsichtig zensiert (»hop my heart song« für das ursprüngliche »hop my heart on«, seinerseits eine euphemistische Schreibweise für ein obszö­neres Homonym) und als Lied vertont worden, das den Film eröffnet. David Amram hatte es komponiert, die Sängerin Anita Ellis trägt es in der erotischen, mühelos melodischen Weise vor, für die sie berühmt war (sie doubelte zum Bei­spiel Rita Hayworths Striptease-Lied in Gilda).

So beginnt Pull My Daisy sirenenhaft, obwohl sich die Handlung um male bonding und den Besuch eines Bischofs dreht, und verspricht sexuelle Ereig­nisse, die gar nicht eintreten. In der Annonce, welche die Erstaufführung an­kündigte, plagiierte Leslie scherzhaft einen Reklamespruch, den er einer Fami­lienfilm-Werbung entnommen hatte: »At all times a splendid entertainment for the entire family – no sex – no violence.«11 Trotzdem ist das sexuelle Aroma des Eröffnungsliedes weder irreführend noch fehl am Platz, sondern bringt eine Note ein, die für die Beats signifikant war und als eine Art freiflottierende Ero­tik das ganze Werk durchzieht, seine Kameraführung, die Körpersprache der Darsteller und vor allem die Tonspur. Später, an einer lyrischen Stelle mitten im Film, klingt das musikalische Motiv wieder an, damit die Zuschauer es nicht aus dem Sinn verlieren, und es liegt auch unter dem Abspann. – Übrigens ist der Name, den sich die Produktionsgesellschaft gegeben hatte und der als allererste Information auf der Leinwand erscheint, ähnlich suggestiv, wenn auch weniger poetisch: »G-String Enterprises«. Die Anspielung wird jedoch entschärft durch den lautlichen Anklang an »shoestring«, der auf die knappen Finanzmittel des Projekts verweist (»produced on a shoestring budget« heißt es oft bei unabhän­gig hergestellten Filmen).

Bei Kerouacs Theaterstück handelt es sich um einen Dreiakter, der autobiographische Episoden aus dem Leben der Beats dramatisiert.12 Nachdem Lillian Hellman, der das Manuskript vorlag, abgewunken hatte, verzichtete Kerouac auf eine Aufführung oder Veröffentlichung. Der Text lag sozusagen brach und stand, ähnlich dem erotischen Poem, für ein gemeinsames Unterfan­gen zur Verfügung. Kerouac sprach eine der Episoden zu Jazzmusik aus dem Radio auf Band — ein ungewöhnliches, akustisches Drehbuch, zu dem die Bil­der inszeniert werden sollten. Eigentlich war geplant, diese Tonfassung bei­zubehalten, doch im Zuge der Dreharbeiten wandelte sich das Projekt, wurde eigenständiger und anspruchsvoller, so daß man Kerouac schließlich bat, eine neue Tonspur für den fertig montierten Film zu sprechen. Pull My Daisy steht damit in doppelter Abhängigkeit von Kerouac, beruht auf seinem Stoff und wird von ihm kommentiert, besiegelt.

Während der Dreharbeiten trat Kerouac kaum in Erscheinung, sondern ließ seine Freunde gewähren oder wurde gebeten, den Dreharbeiten fernzubleiben, weil man seine Unberechenbarkeit fürchtete.13 Alfred Leslie kannte er bereits seit Ende der vierziger Jahre, Robert Frank seit 1957. Mit Frank hatte er eine Fotoreise nach Florida unternommen und auch zu dessen Fotoband The Americans (1959) das Vorwort verfaßt. Da Leslie und Frank sich vorgenommen hatten, einen kurzen Spielfilm zu drehen, der sich auch vermarkten ließe – zwei weitere waren geplant, die ihn zu einer abendfüllenden, 90minütigen Trilogie aufrunden sollten, die allerdings nicht zustande kam –,14 schien es aussichts­reich, an Kerouacs Erfolgsbuch On the Road (1957) und den Mythos der Beats anzuknüpfen. Die Rechnung ging zwar nicht auf, doch es gelang, zumindest einen Teil der Produktionskosten aufzutreiben, so daß die Darsteller, wenn auch bescheiden, entlohnt werden konnten.

Alle Mitarbeiter entstammten dem Freundeskreis der Filmemacher: Die Beat-Poeten Allen Ginsberg und Peter Orlovsky spielten sich selbst, auch Gregory Corso behielt seinen Namen bei, übernahm aber die im Theaterstück auto­biographisch angelegte Rolle Kerouacs; der Maler Larry Rivers verkörperte Kerouacs Freund Neal Cassady – im Film »Milo« genannt –, der wegen Dro­gendelikten in einem kalifornischen Gefängnis saß. Der Komponist David Amram trat als Musiker auf, Robert Franks kleiner Sohn Pablo als Kind. Da­gegen schlüpften der Kunsthändler Richard Bellamy (im Vorspann »Mooney Peebles«) und die Malerin Alice Neal in fiktionale Rollen: die des Bischofs respektive seiner Mutter, die bei den Beatniks zu Gast sind. Nur eine einzige professionelle Schauspielerin wirkte mit, die Französin Delphine Seyrig – hier zum ersten Mal vor der Kamera –, die später mit Alain Resnais, Luis Buñuel, Marguerite Duras und Ulrike Ottinger arbeiten sollte. Sie nannte sich »Bel­tiane« – vielleicht, wie vermutet wird, um ihren Namen nicht durch ein Expe­riment mit unbekanntem Ausgang zu gefährden.

Die Besetzung entsprach der halbautobiographischen Art, mit der Kerouac seine Texte erzählte, seiner Vermischung von Tatsächlichem mit Fiktionalem, Spontanem mit Konzipiertem, und spiegelte den verspielten Umgang der Beats mit sich selbst und miteinander. Beat-Kunst ist ja sehr stark eine Kunst des Augenblicks und eine Lebenskunst, sie kann auch oder gerade außerhalb der ästhetischen Profession entstehen und unversehens, für einen Moment, gelin­gen. Kunst und Alltag, Künstler und Laien sind dabei schwer zu trennen. Auch die Verschränkung der verschiedenen Sparten Musik und Dichtung, Malerei und Photographie, die oft in Personalunion praktiziert wurden, gehörte zum Programm. In der Performance ließen sich die Künste verbinden, der Dich­tervortrag mit Musik wurde zur eigentlichsten Kunstform der Beats. Robert C. Morgan nennt Pull My Daisy »a cross-disciplinary affair – or better put, a cross-pollination «.15

Die Dreharbeiten fanden in Alfred Leslies Loft statt – nahe der Bowery gelegen, sehr geräumig, als Maleratelier und als Wohnung genutzt. Er wurde kaum hergerichtet, denn die Leinwandstapel und Gemälde, die Zeitungsaus­schnitte an den Wänden, die Hängelampe aus Glasplättchen, der einfache Spül­stein, der alte Herd mit Kaffeekanne und zerbeulten Utensilien boten authen­tische Requisiten. Fast noch wichtiger war das Raumgefühl: tiefe Durchblicke in pragmatisch und nur halbhoch abgeteilte Bereiche bis zu den hohen weiten Fenstern, viel Platz um das wenige Mobiliar, das, stets im Fluß, unverankert herumfährt, nur ein paar Fixpunkte wie der gewaltige weiße Kühlschrank oder ein hohes Büroregal mit schwarzer Jalousie. Die Unordnung wirkt organisch; die Unaufwendigkeit, Vorläufigkeit nicht ärmlich, sondern bei aller Noncha­lance ästhetisch auserkoren. Sehr bequem die alten Korbsessel mit zerschlisse­nen Kissen, sehr gesellig der große runde Eßtisch. Es herrscht Großzügigkeit, Behaglichkeit, aber gleichzeitig ist der Raum wie eine Bühne, eine offene Fläche, die zu Kunst und Leben anregt (wenn nicht verpflichtet).

Pull My Daisy dokumentiert einen Tag aus dem Leben einer bohemehaften Kernfamilie. Die Ehefrau, eine Malerin, steht früh auf, weckt und versorgt ihren kleinen Sohn. Als sie noch beim Frühstück sitzen, schellt es, und Allen Ginsberg und Gregory Corso stehen vor der Tür. Die Mutter bringt den Jungen zur Schule; Ginsberg und Corso packen ihre Biervorräte aus und instal­lieren sich am Fenster. Sie sprechen über Lyrik, rezitieren eigene und fremde Gedichte, erfinden Wortspiele, albern herum, schauen hinaus auf den Straßen­verkehr, rauchen Gras, leben in den Tag. Später kommt Milo, der Ehemann, von der Arbeit heim, stellt seine Eisenbahnerlaterne in die Ecke, wäscht sich und bittet die Freunde, sich ebenfalls ordentlich zu benehmen, da seine Frau »den Bischof« erwarte.

Der Bischof kommt, in Begleitung seiner properen Mutter und Schwester – ein salbungsvoller junger Mann mit schlechten Zähnen, ganz in Weiß, wohl ein Trickster, dem Milos Frau aufgesessen ist. Mutter und Schwester wirken verschüchtert, der Kulturkontrast macht ihnen zu schaffen, während die Beat-Poeten teils vorsichtig, teils dreist ein Gespräch beginnen. Die Ehefrau, sicht­lich verärgert über deren Anwesenheit, versucht Haltung zu bewahren, serviert Tee. Weitere Freunde treffen ein – »Peter the Saint« (Peter Orlovsky) sowie der Musiker Mezz McGillicuddy – und machen sich wie selbstverständlich breit. Im philosophischen Gespräch über Buddhismus und Konzepte des Heiligen im Trivialen wahrt der Bischof Würde und Witz, man kommt sich näher, der Nachmittag läuft recht gut.

Eine Gesprächspause wird zum Stimmungsindikator. Man kann freundschaftlich zusammensitzen, auch ohne zu reden, und sich der Atmosphäre hin­geben, die Augen schweifen lassen oder den eigenen Gedanken nachhängen. Die Ehefrau erinnert sich (eine Art Rückblende) an ihre Begegnung mit dem Bischof, der auf der Straße predigt, während ein Windstoß ihn in eine amerika­nische Fahne wickelt, und sie denkt an eine unerfreuliche, tätliche Auseinander­setzung mit Milo; Ginsberg träumt vom Cowboy-Spielen. Die Zeit steht still für einen Augenblick, die Kamera dreht sich um die eigene Achse und läßt die Ge­genstände sprechen. Jack Kerouac improvisiert ein Poem über die »cockroa­ches«, die zwar nicht zu sehen, aber allenthalben in der Küche zu vermuten sind.

Später möchte auch die Mutter des Bischofs etwas beitragen, und die Tochter hilft ihr, das Harmonium zu betätigen. Das inspiriert die Beats, ihrerseits Musik zu machen, sich in eine Jam Session hineinzusteigern. Unterdessen ist der Abend fortgeschritten; der kleine Junge lag bereits im Bett, er darf noch einmal aufstehen, um sein Horn zu blasen. Die Anwesenheit der Ehrengäste droht mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten. In der Ehefrau kocht der Ärger hoch. Der Bischof und seine Angehörigen brechen recht abrupt auf.

Es kommt zum Streit der Eheleute. Auch den Beats wird unbehaglich, sie

drängen darauf, mit Milo auszugehen. Die Frau bleibt verbittert zurück, während die Freunde in einer Art Polonaise den Loft verlassen, sichtlich befreit und in liebevoller, tatendurstiger Kameradschaft, Die Kamera bleibt auf dem ge­drechselten Knauf des Treppengeländers, das Bild blendet aus.

So erzählt wirkt die Handlung linear und konsistent, fast konventionell: Ein Konflikt entsteht, wächst an, löst sich teilweise (jedenfalls für die Freunde, während das Ehepaar unversöhnt bleibt). Doch das Familienleben, die bürger­lichen Anwandlungen der Frau, der aufziehende Ärger dienen nur als Folie, um das Lebensgefühl der Beats zu propagieren und sie sympathisch zu machen. Dem Ärger einfach den Rücken zu kehren gehört zu ihrer Art, mit Alltags­konflikten umzugehen. Eine Lösung würde ihrem Naturell – und damit auch dem Naturell des Films – widersprechen, der schwebenden Dominanz des Augenblicks und der Stimmung zuwiderlaufen. An die Stelle gewichtiger Er­eignisse treten kleine Gesten und zufällige Fügungen: »Nothing much happens and that is the beauty of it, its deliberate point of contact with life«,16 wie der englische Filmemacher Stephen Dwoskin schreibt. So bildet der häusliche Konflikt eigentlich nur eine Nebensache – die beiläufig auf eine konventionelle Dramaturgie verweist, in der er die Hauptsache wäre. Die tatsächliche Haupt­sache dagegen besitzt kaum dramatisches Potential, denn es geht um Zustände und Verhaltensformen, um Geschmacksäußerungen, ideologische Positionen, Selbststilisierung, Phantasie, Poesie und Musik. Diese Inhalte lassen sich nur begrenzt an einen Konflikt, eine dramatische Entwicklung heften.

Es gehört zum Charme und zur Selbstironie des Films, daß er dennoch eine spürbare Chronologie einhält, freilich ohne große Relevanz: Pull My Daisy beginnt mit Bildern vom frühen Morgen – »early morning in the universe«, wie es auf der Tonspur heißt –, Delphine Seyrig, im dekorativen Kimono, öffnet die hohen Fenster, fahles Licht fällt herein, die Wohnung ist noch unaufgeräumt, still und menschenleer. Und der Film endet am späten Abend mit einer erneu­ten Offnung nach außen: Die Beat-Gruppe verläßt lärmend das Haus, es wird wieder still. Morgen und Abend umfassen, verkapseln das Geschehen, liefern eine klassische closure, als sollte die Anarchie der Poeten gebändigt werden. Eine Geste der Ordnung und eine freundliche Strukturierungshilfe für die Zu­schauer – oder Ausdruck des kommerziellen Kompromisses, der Entschärfung, die der Film meint liefern zu müssen, wenn er uns nur die »sugarcapped teeth« einer ohnedies kindischen Bewegung zeigt, wie Parker Tyler es formuliert?17 Doch man sollte die Beat-Bewegung nicht mit einer Revolution verwechseln, nicht Ernst und Konsistenz verlangen, wo es programmatisch um Inkonsi­stenz, Risiko und Hedonismus ging – ein Programm allerdings, das einigen der Beats und ihrer Anhänger das Leben kostete. Von dieser dunklen, selbstdestruk­tiven Seite ist im Film in der Tat nicht die Rede, genausowenig wie von den tie­fergehenden Tabubrüchen und Obszönitäten vieler Vertreter der Beat-Kultur.

Möglicherweise wäre die Handlung in Pull my Daisy stärker durchgeschlagen, hätten sich die Konflikte schärfer artikuliert, wenn die Personen ihre Dialoge selbst gesprochen hätten. Das gewählte Narrationsverfahren nimmt sie jedoch zurück. Indem Kerouac praktisch den gesamten Text mit eigener Stimme bestreitet – mit Ausnahme des Liedes zu Beginn und der Rezitation des Kindergedichts Humpty Dumpty durch den kleinen Jungen –, sind die Perso­nen in ihn eingebunden wie die Figuren eines Romans. Oder fast so, denn der Film wählt eine seltsame, originelle Mischform zwischen eigenständigem Text und eigenständiger Verfilmung. Eine Form, wie sie in den Voice-over-Erzäh­lungen anderer Spielfilme nicht vorkommt: Dort manifestieren sich die akus­matischen disembodied voices nur momentan, intermittierend, um bald wieder dem »eigentlichen« Film, in dem die Stimmen an die Körper der Figuren ge­koppelt sind, zu weichen; die Off-Stimmen bilden eine Unterbrechung, einen Sonderfall.18

Dank der Vorgehensweise, die Inszenierung auf das »akustische Drehbuch« abzustimmen, sieht man die Darsteller manchmal die Worte sprechen, die Kerouac ihnen in den Mund legt. Er verschmilzt punktuell mit ihnen, fährt sozusagen in sie hinein und erweckt die Illusion lippensynchroner Identität. Da jedoch das ursprüngliche Konzept nur teilweise beherzigt und schließlich eine neu zu den Bildern improvisierte Tonspur verwendet wurde, bleiben solche Synchronitäten auf Augenblicke beschränkt.

Im übrigen weicht Kerouac oft vom sinnfälligen Geschehen ab, berichtet als Prosaerzähler über die Situation, stellt Personen vor, erfindet Dialoge für sie, die durch die Bilder nicht gestützt werden. Manchmal erkennen wir deut­lich, daß etwas anderes gesprochen wird als der Text, den wir hören,19 manch­mal auch, daß die Darsteller die Lippen gerade nicht bewegen. Diese Form der parallelen, aber nur ungefähren Dialogwiedergabe, bei welcher der Erzähler nach Bedarf und Laune aus der Synchronität ein- und aussteigt, erlaubt es ihm, die direkte Rede zu öffnen und zu dehnen, neben gesprochenen Äußerungen sogar die Gedanken der Figuren mit einfließen zu lassen. Häufig kommt es zu einer Poetisierung der direkten Rede; Kerouac gleitet stufenlos von Alltags­unterhaltungen in lyrische, apsychologische oder ironisierend überspitzte Pas­sagen, lädt die Dialoge auf und gleicht sie den atmosphärischen Beschreibungen an, mit denen er den Film überspannt:

She says, Button your fly and go out and answer the door.

Gregory Corso and Allen Ginsberg there, laying their beer

cans out on the table, bringing up all the wine, wearing hoods

and parkas, falling on the couch, all bursting with poetry

while she's saying, Now you get your coat, get your little

hat and we're going to go off to school.

Health to you this morning, Mr, Hart Crane. No bridge.

He says, Look at all those cars out there. Nothing out

there but a million screaming ninety-year-old men being

run over by gasoline trucks. So throw the match on it.

Well, that's all right.

And she says, Come on now, got to go to school, learn all

about geography and astromomology and pipliology and all

them ologies, and poetology, and goodbyeology.

He says, I don't want to go to school.

And they're sitting there talking about Empire State

Building and dooms of bridges. And then they wave out­ –

goodbye.

He says, Well, he says, did I tell you about my poem about

the Empire State Building that had not doomed the dumb

eyes of New York all the time.

Kerouac spricht, und darin liegt der eigentliche Zauber seiner Darbietung, als sitze er mit im Zuschauerraum, spreche sowohl als Rezipient wie zugleich auch als Schöpfer des Geschehens: eine Paradoxie der Erzählsituation, die sehr fik­tional und sehr poetisch wirkt. Der Erzähler ist allwissend, allgegenwärtig, sieht alles (auch wenn er etwas anderes beschreibt), hört die Musik und eigent­lich auch die Dialoge, obwohl er sie gleichzeitig selbst produziert.

Kerouacs Stimme ist musikalisch, beschwörend, äußerst wandlungsfähig, voller Wärme und Energie, sein Vortrag stilsicher, wie aus einem Guß. Es berührt merkwürdig zu erfahren, daß die Tonaufzeichnung keineswegs einer begnadeten Inspiration und Improvisation entsprang, sondern aus mehreren, teilweise mißglückten Fassungen zusammengeschnitten ist. Sogar Neben­bemerkungen Kerouacs, die gar nicht für die Tonspur intendiert waren, wurden später von Leslie und Frank in den Film aufgenommen: ein Beispiel kollek­tiver Kunst, bei der sich alle Beteiligten einig waren, welche Stilprinzipien herr­schen sollten: Spontaneität und Revision schlossen sich nicht aus. Die man­gelnde Disziplin Kerouacs, der bei den Aufzeichnungen ziemlich betrunken war und immer wieder aus der Rolle fiel, konnte am Schneidetisch aufgefangen werden.

Alfred Leslie und Robert Frank kamen beide aus dem Bereich der visuellen Kunst. Ihre Vorstellungen von Bildgestaltung, Raumgefühl, Dekoration, Mon­tage und Rhythmus müssen gut harmoniert haben, so daß sie einander zuarbeiten konnten.20 Dennoch ist die Kamera Franks stärker als Präsenz und prägender Faktor spürbar als die Mise-en-scene Leslies. Leslie habe seine »Schauspieler« weniger geführt als beobachtet und belauscht, »eavesdropping on them«, wie Dwight MacDonald feststellt,21und damit eine sehr authenti­sche Mimik und Gestik eingefangen. Dies war auch dadurch möglich, daß ohne Ton gefilmt wurde. Die Darsteller konnten sich auf Kerouacs Textvorlage ein­lassen oder auch nicht, konnten in ihren Rollen gefilmt oder auch in einem privaten Moment von der Kamera erfaßt werden. Jede Einstellung wurde grundsätzlich dreimal aufgenommen, so daß für Variationen – und persönliche Improvisationen – in kleinem Rahmen Platz war. Dies bot auch am Schneide­tisch noch die Möglichkeit, neue Entscheidungen zu fällen, kreativ mit dem Material umzugehen.

Robert Frank hatte noch keine professionelle Filmerfahrung, doch sein photographisches Werk zeichnet sich durch verschiedene Eigenschaften aus, die ihn für den Film prädestinierten. In The Americans ist vieles vorgeprägt, das den Stil von Pull My Daisy ausmacht – auch wenn die Tristesse, Einsamkeit, ge­ronnene Zeit und verstörende Symbolik der Fotos hier einem heiteren Gestus gewichen ist. In den Fotos beweist Frank ein Auge für das Alltägliche, Un­heroische, Unfreiwillige der Motive, die erst durch das Bild sinnhaft werden; er konzentriert sich auf die Momentaufnahme, die Zufälligkeit des Augenblicks, die plötzliche Konstellation oder die unwillkürliche Gebärde, sei es der photo­graphierten Menschen, sei es der Windstöße. Aber er liebt es auch, Schauplätze ohne ihre Bewohner aufzunehmen, sich auf Spuren und lakonische Gegen­stände einzulassen: Jukeboxen, Stühle, Öfen, Fahnen, Fernseher, Särge und Autos faszinieren ihn besonders.

In seiner Bildästhetik fällt die Marginalität vieler Personen auf, die von den Schauplätzen an den Rand gedrängt oder im Verhältnis zum gezeigten Raum klein, in Distanz erscheinen.22 Auch das steigert die Traurigkeit der Stimmung, neben der Körnigkeit, Grauheit des Bildmaterials (Frank benutzte hochemp­findlichen Film, um ohne künstliche Beleuchtung auszukommen). Typisch ist die Art, wie sich der Photograph selbst in die Bilder einschreibt, obwohl er keinen Kontakt mit der gezeigten Szene sucht: durch den Momentcharakter einerseits, aber auch durch die häufige Verkantung der Kamera, die seinen ge­staltenden Blick repräsentiert, und die bewußt in Kauf genommenen Unschär­fen oder Unter- und Überbelichtungen in einzelnen Zonen der Bilder.

Kerouac spürte in Franks Werk eine verwandte Sensibilität. Das Fazit seiner Einleitung zu The Americans lautet:

Robert Frank, Swiss, unobtrusive, nice, with that little camera that he raises and snaps with one hand he sucked a sad poem right out of America onto film, taking rank among the tragic poets of the world.23

Blättert man den Fotoband durch und läßt sich auf die Abfolge ein, so fällt auf, wie filmisch sie gestaltet ist. Einzelne Motive tauchen in rhythmischen Abstän­den wieder auf, Räume scheinen aneinander zu grenzen, Kontinuität wechselt mit klaren Zäsuren. Trotz der symbolhaften Kristallisation der Einzelbilder besitzt der Band etwas Prozeßhaftes, spontan Fließendes, er durchmißt die Be­wußtseinsmomente einer Reise.24

In Pull My Daisy entspricht der Kamerastil stark der von André Bazin für den realistischen Film geforderten Zentrifugalität25: Film, so Bazin, erfülle sei­nen Auftrag, die Wirklichkeit zu erfassen, am besten, wenn im Bild spürbar werde, daß die Welt hinter den Rändern weitergehe. Dies zum Beispiel bei angeschnittenen Objekten, deren Fortsetzung im Off von den Betrachtern er­gänzt wird – eine virtuelle Aufhebung der Bildgrenzen, die auch in der Photo­graphie möglich ist. Im Film entsteht der »zentrifugale« Eindruck vor allem durch Bewegung: Bewegungen der Kamera ebenso wie Bewegung der Objekte. Im einen Fall versichert uns die Kamera durch ihr Weitergleiten, daß die ge­zeigte »Wirklichkeit« kontinuierlich existiert; im zweiten beweisen Figuren oder Fahrzeuge, daß es ein Off gibt, in das sie verschwinden und aus dem sie wieder auftauchen können. Ihre Geräusche bleiben hörbar, auch wenn sie selbst nicht mehr sichtbar sind. Doch der letzte Punkt trifft auf Pull My Daisy nur selten zu, da er nur wenige Geräusche enthält und alle Dialoge aus der glei­chen Quelle stammen. (Daß die Tonspur dennoch eine räumliche Kontinuität stiftet, die Einstellungen zusammenbindet, macht die Montage flüssiger, ohne sich im eigentlichen Sinn »zentrifugal« auszuwirken.)

Robert Franks Kamera verfährt äußerst variationsreich, so daß grundsätz­lich jede Art von Bildkomposition vorkommt, auch ein zentrierter Aufbau mit der Hauptsache unverstellt in der Mitte. Häufiger jedoch blickt die Kamera leicht verkantet ins Geschehen hinein, am liebsten aus einiger Distanz; Möbel und Fußboden stehen dann etwas schräg, die Personen sind nur zum Teil erfaßt. Gelegentlich erfolgen solche Aufnahmen auch aus einer höheren Warte, als Aufsicht, so daß die Szene einen trichterförmigen Charakter annimmt, der in der Tat ziemlich zentrifugal wirkt – als könne das Bild rotieren und damit alle Objekte über die Ränder fliegen lassen. Da oft mehrere Menschen anwesend sind, die sich unabhängig voneinander bewegen oder in verschiedene Richtun­gen blicken, ergibt sich ein vielfältiges Kommen, Gehen und Gestikulieren in einem Gefüge ohne markierten Mittelpunkt. Manchmal bleibt das Bildzentrum nachgerade frei, alles Geschehen vollzieht sich an der Peripherie. Manchmal zieht die Kamera auch ein Stück weit mit einer Figur mit, die aus dem Bild geht, um sie dann loszulassen und auf den Gegenständen zu verharren. Großaufnahmen, die häufig in den Verlauf eingeschnitten sind, erfassen oft nur einen Teil des Gesichts, nur ein Ohr, nur die Stirn, so daß sich schon bei kleineren Bewe­gungen der Ausschnitt markant verschiebt. Robert Frank hat nicht mit der Handkamera gearbeitet, sondern die Aufnahmen vom Stativ aus komponiert. Kamerafahrten und Schwenks sind eher selten – statt dessen finden sich viele kurze statische Einstellungen in flüssiger Montage miteinander verknüpft.

Während man Kamerabewegungen in Hollywood hauptsächlich funktio­nal einsetzte, das heißt Bewegungen und Blicken der Figuren folgte, so daß sich die Technik unterordnet, »unsichtbar« wird, manifestiert sich Robert Franks Kamera wie eine weitere menschliche Präsenz. Sie sucht sich ihre Positionen eigenmächtig aus, beweist weder die Rücksicht einer dokumentarischen Ka­mera (die Großaufnahmen scheut, weil sie die Personen nicht durch die Appa­ratur verunsichern will), noch folgt sie den Regeln des klassischen Kinos. Dies wird besonders deutlich, wenn der Film lyrische Qualitäten entwickelt, Kerouac keine Dialoge spricht, sondern poetische Beschreibungen, oder wo anstelle seiner Stimme Musik einsetzt. Vor allem in der sogenannt »surrealen« Phase während der Gesprächspause, als sich die Kamera selbständig macht und in einer zirkulären Bewegung Menschen, Mobiliar und Utensilien abtastet, wird Franks dokumentierendes Interesse spürbar, sein fluktuierender Blick, der für die Kamera wählt und vereinnahmt, was er sieht. Gleichzeitig verfährt er nicht ohne Distanz, als ein Beobachter, der im Beobachten erzählt.

Kerouac scheint diese besonderen filmischen Qualitäten zu honorieren, wenn er viele Bilder unkommentiert läßt, ihnen ein Eigenleben zugesteht. Dies geht so weit, daß die Tonspur – und damit die dominante fiktionale Narration – eine Person ganz unterschlägt: Ab und zu ist eine attraktive junge Frau zu sehen, die während des ganzen Films im Bett liegt. Meist ist sie von einem Schrank verdeckt, so daß zwar gelegentlich ein Zipfel von ihr aufscheint, sie aber nur dann wirklich sichtbar wird, wenn die Kamera sich ihr eigens zu­wendet. Dieses verbale Unterschlagen hat eine geheimnisvolle Wirkung, gibt dem Geschehen zusätzliche Tiefe und einen Anflug von libertiner Anarchie. Die erotische Aura des Eröffnungsliedes kommt wieder in den Sinn. Besonders wirksam ist eine kurze Interaktion, die einzige Anerkennung der Präsenz der jungen Frau innerhalb der Handlung: Als die Mutter des Bischofs Harmonium spielen will, sucht man ein Kissen für sie, das der Frau in rüder Weise unter dem Kopf weggezogen wird. Die Selbstverständlichkeit, mit der man ihre Bequem­lichkeit stört, deutet auf große Intimität bei geringem Respekt. Offenbar gehört sie zum Mobiliar. – Laut Produktionsberichten war die Darstellerin zunächst als Ehefrau Milos vorgesehen, und eine Szene mit ihr im Bett sollte Pull My Daisy eröffnen. Nach Änderung der Pläne fanden ein paar der vorab gedrehten Aufnahmen Platz im Film; zu Kerouacs Text gehörten diese Momente nicht.

Eine weitere Änderung des ursprünglichen Konzepts betrifft die Außenaufnahmen. Als Theaterstück bewahrte das Script die Einheit des Ortes, ein für den Film eher klaustrophobischer Verzicht. Erst nach Abschluß der Dreh­arbeiten erkannten Leslie und Frank diesen Nachteil und »öffneten« die Hand­lung zur Straße hin: Alle Außenaufnahmen – die Blicke aus dem Fenster, die Begegnung mit dem predigenden Bischof, seine Ankunft und Abfahrt – sind nachträglich hinzugefügt und erfüllen ihre Funktion vorzüglich. Was weiter oben als narrative closure beschrieben wurde, die Ausrichtung von Anfang und Ende nach draußen, bedeutet auf der Ebene der Raumerfahrung also eine Ent­grenzung: Filmische Öffnung und fiktionale Schließung erfolgen simultan.

»This is rea-al-ity, captured forever by the sacred box of the angel Robert Frank«, formulierte Gregory Corso.26 Betrachtet man Pull My Daisy als filmische Aufzeichnung biographischer Personen, so läßt sich in der Tat einiges über die Beats, ihre Alltagsgebärden und -gebärdungen entnehmen – auch wenn der Status, die Aussagekraft einzelner Momente ambivalent bleiben muß. Außer­dem ist der Film »sweetly self-aggrandizing«, wie Jim Hoberman es aus­drückt.27 Doch ein solcher Gestus gehört zur Beat-Bewegung ebenso dazu wie die Selbstinszenierung oder die Selbstironie, die den eigenen Narzißmus nur scheinbar in Frage stellt.

Gerade der Laienstatus der Darsteller, aber auch die freundschaftliche Atmosphäre der Dreharbeiten im gewohnten Ambiente machten es möglich, Aut­hentisches mit zu erfassen – und bezeichnenderweise fühlt man eine Ver­krampfung nur in jenen Personen, die sich »schauspielerisch« verhalten, sich nicht selbst spielen. Es gehört zur besonderen Faszination des Mediums Film, daß intentionale ästhetische Gestaltung mit unkontrollierbaren Momenten zu­sammenfließt, beides manchmal zu unterscheiden ist, manchmal untrennbar und simultan existiert. Die Filmemacher scheinen solche Unwägbarkeiten mit einbezogen zu haben, in der Hoffnung, den Beats durch die Polarisation von Selbst- und Fremddarstellung eine Authentizität zu verleihen, die sich durch die Fiktion hindurch behauptet.

Ebenfalls im Konzept angelegt ist die Polarisierung von Männern und Frauen, die auch auf der unwillkürlichen Ebene ausgelebt wird: Die Beats pfle­gen ständigen physischen Kontakt miteinander, als ob sie gegenseitige Nähe brauchten, während sie sich von den Frauen eher räumlich distanzieren und auch keinen Blickkontakt suchen. Die Ehefrau Milos, »the wife« – die nicht einmal einen Namen hat, genausowenig wie die Mutter und die Schwester des Bischofs, von der »Illegalen« hinter dem Schrank ganz zu schweigen –, ist meist allein im Bild oder geht eigenen Geschäften nach, als folge sie einem anderen Szenario als die übrigen Personen. Tritt sie in Beziehung zu den Männern, dann als Störenfried, als spaßverderbende Mutterfigur oder engstirnige bürgerliche Hausfrau, die dazwischenfährt und Ärger macht. Trotzdem wirkt der Film nicht eigentlich misogyn, sondern eher ausgliedernd, als sei es selbstverständ­lich, daß Frauen einer anderen Sorte Lebewesen angehören als Männer. Bereits in der Wahl einer professionellen Schauspielerin für die wichtigste weibliche Figur, die damit wie ein Fremdkörper heraussticht, drückt sich diese Aus­gliederung aus. Daß »the wife« als Malerin eingeführt wird, also eigentlich eine Künstlerkollegin darstellt, hat für ihre Rolle keine Konsequenz. Die Ge­schlechterrollen-Verteilung der fünfziger Jahre ist hier sehr präsent, präsenter als in vielen Werken des Mainstream.

Schon die ersten beiden Beats, die auftreten, Ginsberg und Corso, sind als Paar angezogen – »hoods and parkas«, wie Kerouac auf der Tonspur bemerkt – und bewegen sich in selbstverständlichem Rapport miteinander, als sie ihre Alkoholvorräte absetzen und sich einen geeigneten Platz im Loft suchen. Ihre Gesten sind füreinander bestimmt, ihr Gespräch, intensiv und entspannt zu­gleich, kann mühelos springen von poetologischen zu banalen Dingen, von der Rezitation zum Klamauk. Ihre dauernde Bereitschaft zur somatischen Unruhe ist auffällig – eine fast kindliche Motorik, die jedoch gezielt für kleine Perfor­mances genutzt wird: Cowboy-Spielen, Tanzen, auf dem Boden Liegen, Auf­einanderspringen, expressiv und ausladend Musizieren. In die Männerfreund­schaft eingeschlossen ist auch der kleine Pablo. Der Vater, Milo, begegnet ihm mit einer Zuwendung, die mütterlicher berührt als das Verhalten der Mutter. »Up you go, little smoke«, sagt Kerouac in dreifacher, immer musikalischer werdender Steigerung, als Milo das Kind hochhebt, um es endgültig zu Bett zu bringen. (Die lyrische Zärtlichkeit, mit der Kerouac diese Worte intoniert, hatte allerdings der Zigarette gegolten, die er im Tonstudio rauchte – es handelt sich um eines der Einsprengsel, die Frank und Leslie ohne sein Wissen in die Ton­spur übernahmen.)

Während des bischöflichen Besuchs kommt es immer wieder zu nervösen Umplatzierungen, die sich aus der ungewohnten Situation ergeben. Ginsberg zum Beispiel zwängt sich zunächst zwischen Mutter und Schwester auf das Sofa, eine gutgemeinte, aber unbequeme Geste der Höflichkeit, die allen Betei­ligten Unbehagen verursacht, Die Schwester zieht sich den Rock übers Knie, die Mutter läßt ihre schweren Beine unbewegt wie zwei Säulen stehen – beide bleiben starr, so daß eine Annäherung zweifelhaft erscheint. Vielsagend ist, daß es bei dem tatsächlichen Ereignis, von dem Kerouacs Script inspiriert war, etwas anders zuging: »The two little old ladies sat on the couch. Allen made room for himself between them and put his head on the ladies' knees, insisting >Let's talk about sex<.«28 Später sitzen die Beats um den runden Tisch, Corso schaukelt, alle sind in ständiger, nun wieder zwangloser Bewegung. Einerseits strahlen sie große persönliche Autonomie aus, wirken selbstbestimmt und physisch frei, anderseits dokumentieren sie ein fast süchtiges Gruppengefühl. Gegen Ende des Abends verziehen sie sich gemeinsam auf das Sofa und türmen sich aufein­ander wie Schulkinder.

Neben ihrem programmatisch kindischen Gehabe kennzeichnet die Beats eine genuine Kindlichkeit. Wie Joyce Johnson, eine Freundin in der Beat-Szene, im Rückblick nach zwanzig Jahren über die Thematik von Pull My Daisy sagt: »I think it was about the right to remain children.« Und sie be­scheinigt dem Film, daß er ihre Freunde so festgehalten habe, wie sie in ihrem Gedächtnis gespeichert sind, als »solidified memory«.29

Von Anfang an war Pull My Daisy unter dem Gesichtspunkt der Improvisation diskutiert worden. Der Gestus des Films, der den Gestus der Beats einzufangen sucht, wirkte spielerisch-spontan – insbesondere vor dem Hintergrund der Fünfziger-Jahre-Filmästhetik, die vom klassischen Hollywoodkino, seiner handwerklichen Präzision und Studiokontrolle, dominiert war. Auch steckte die neue Dokumentarfilmbewegung, das Direct Cinema, mit seiner Befreiung der Filmarbeit von den Zwängen des Stativs und des Tonstudios, noch in der Vorbereitungsphase. Im Zuge der Legendenbildung um die besessene Kreati­vität Jack Kerouacs, von dem behauptet wurde, er schreibe auf Endlospapier, ohne abzusetzen, und revidiere nie, neigten viele Kritiker und Rezipienten des Films dazu, ihn ebenfalls als Produkt einer schrankenlosen, glückhaften Impro­visation aufzufassen. Jonas Mekas, der davon ausging, man habe Pull My Daisy ganz ohne Drehbuch aus einer Laune des Augenblicks gedreht, nannte ihn

the first truly »beat« film, in the sense that beat is an expression of the young gene­ration's unconscious rejections of the middle-class way, the businessman's way; an outburst of spontaneity and improvisation as an unconscious opposition to the mechanisation of life.30

Auch die Legenden, die sich um die Dreharbeiten rankten, gaben dieser Auf­fassung Nahrung. Einen Eindruck davon vermittelt David Amrams Autobio­graphie:

It was a madhouse. If things were getting dull, Allen and Gregory would start cutting up, take off their clothes and threaten to jump out of the window or pour water on anybody that looked like they weren't interested. There were also a few onlookers sitting around getting high. Most of us were drinking wine and trying to think up outrageous jokes that we could pull on Robert Frank so that he would laugh so hard that he wouldn't be able to film us in action.31

Im Gegensatz zu solchen Berichten wirkten Informationen darüber, daß alles mehr oder weniger nach Konzept verlaufen war, Proben stattfanden, der Loft sorgfältig und professionell ausgeleuchtet wurde, von jeder Einstellung mehrere Varianten existierten, die am Schneidetisch nach dramaturgischen Gesichts­punkten kombiniert werden konnten, wie eine Verleumdung, bis Alfred Leslie sie 1968, in einem Artikel für die Village Voice,32 emphatisch bestätigte: »This film was no more random or improvised than Antonioni or Rossellini.« Doch es gab schon vorher Stimmen, die dem spontanen Gestus mißtrauten, das Kon­zept der Filmemacher überhaupt als Betrug empfanden. »Designing improvi­sation«, wie Parker Tyler es ausdrückt, »as fresh as a frozen pea«.33

Aus heutiger Sicht steht und fällt die Beurteilung von Pull My Daisy mit dem Begriff von Improvisation, den man anlegt, mit dem Verständnis für künstlerische, insbesondere filmische Prozesse und für die Ästhetik der Beats (auf die Parker Tyler stets allergisch reagierte). Möglicherweise antizipierte er auch schon neue Strömungen: Sehr schnell, nachdem Pull My Daisy herausge­kommen war, sah der Film bereits altmodisch aus, weil sich die experimentelle Filmästhetik dynamisch in Richtung Spontaneität verschob – spätere innova­tive Werke arbeiteten zum Beispiel, vor allem auch im Dokumentarbereich, mit einer elastischen Handkamera. Auch die subkulturellen Gestalten, die bald den Undergroundfilm dominieren sollten,34 waren exotischer und schriller, aber auch subjektiver, intimer, camphafter und exhibitionistischer als die selbst­inszenierten Beats, die sich vor der Kamera produzierten, nicht aber entblö߭ten. – Diese historische Entwicklung mag dafür verantwortlich sein, daß Pull My Daisy eine Zeitlang fast in Vergessenheit geriet.

Jonas Mekas, »A Call for a New Genera­tion of Film-Makers«, in: Film Culture 19 (1959), S. 74.

»The First Statement of the New Ameri­can Cinema Group« vom 28. September 1960, in: Film Culture 22/23 (1961), abgedruckt in: P. Adams Sitney (Hg.), Film Culture Reader, New York 1970, S. 79 ff.

Zum New American Cinema und seinem Umfeld vgl. David James, Allegories of Cinema. American Film in the Sixties, Princeton 1989, mit weiteren Nachweisen.

De Antonio organisierte auch den Verleih von Pull My Daisy.

Vgl. Jack Sargeant, The Naked Lens. An Illustrated History of Beat Cinema, London 1997, S. 24.

Zu Robert Franks Filmographie vgl. Mar­tin Schaub, »FotoFilmFotoFilm: eine Spirale. Robert Franks Suche nach den Augenblicken der wahren Empfindung«, in: Cinema 30 (1984), S. 75-94, sowie John Hanhardt, »Ken­ner des Chaos. Die Filme und Videos«, in: Sarah Greenough / Philip Brookman (Hgg.), Robert Frank: Moving Out. Ausstellungskata­log Washington 1994, deutsche Ausgabe Zürich 1995, S. 232 ff. und 311 ff.

Beide Filme waren zu einer gemeinsamen Uraufführung zusammengespannt, die am 11. November 1959 im New Yorker Cinema 16 unter dem Titel »The Cinema of Improvisa­tion« stattfand. Sie wurden in der Folge oft ent­weder von der Kritik in einen Topf geworfen oder aber polemisch gegeneinander ausgespielt: Vgl. Parker Tyler, »For Shadows, Against Pull My Daisy: An Argument«, in: Film Culture 24 (1962), S. 29.

Abgedruckt in: Sitney (wie Anm. 2), S. 424.

»The metaphor involved is of course erotic «, schreibt Parker Tyler. »There is also a piquant, consciously disrespectful reference to the romantic cliché of pulling off a daisy's petals to learn whether one is loved.« Under­ground Film: A Critical History (1969), neue Ausgabe New York 1995, S. 88 f.

Das Gedicht war bereits 1950 entstanden und unter dem Titel »Fie My Fum« veröffent­licht worden. Es ist, in seiner ungekürzten Form, im Pull My Daisy-Script abgedruckt, das 1961, mit einem Vorwort von Jerry Tallmer, von der Grove Press, New York, herausge­bracht wurde.

Die Annonce erschien in Variety vom 15.4.1959. Vgl. Blaine Allan, »The Making (and Unmaking) of Pull My Daisy«, in: Film History 2 (1988), S. 199.

Zum Verhältnis des Stücks zur Wirklich­keit vgl. Allan (wie Anm. 11), S. 187 ff., und einen zweiten Aufsatz desselben Autors, »Oh, Those Happy Pull My Daisy Days«, in: Moody Street Irregulars: A Jack Kerouac Newsletter 22/23 (1989/90), S. 5.

Vgl. die Aussagen Alfred Leslies und Robert Franks in Sargeant (wie Anm. 5), S. 34 und S. 41.

Als flankierende Projekte waren eine Verfilmung von Horace McCoys They Shoot Horses, Don't They? und The Sin of Jesus, nach einer Kurzgeschichte von Isaac Babel, geplant. Nur das letztere wurde später, allerdings von Robert Frank allein, verwirklicht. Vgl. Allan (wie Anm. 11), S. 189 f.

Robert C. Morgan, »Pull My Daisy, Fie My Fum — the Everlasting Underground Film of the Fifties«, in: Moody Street Irregulars: A Jack Kerouac Newsletter 22/23 (1989/90), S. 15.

Stephen Dwoskin, Film Is. The Interna­tional Free Cinema, Woodstock 1975, S. 51.

Tyler (wie Anm. 7), S. 29.

Zur Verwendung des Voice-overs im Hollywoodkino vgl. Sarah Kozloff, Invisible Storytellers. Voice-over Narration in American Fiction Film. Berkeley / Los Angeles 1988.

Zum Beispiel wiederholt der Bischof, statt auf der Straße zu predigen, immer wieder das Wort »bastard«: Vgl. »An Interview with Ro­bert Frank«, in: Sargeant (wie Anm. 5), S. 42.

Nach der Fertigstellung von Pull My Daisy kam es jedoch zu einem endgültigen Zer­würfnis zwischen den beiden Filmemachern. Vgl. die Interviews mit Leslie und Frank in Sargeant (wie Anm. 5), S. 34 f. und S. 44.

Zitiert bei Tony Floyd, »Pull My Daisy: The Critical Reaction«, in: Moody Street Irregulars: A Jack Kerouac Newsletter 22/23 (1989/90), S. 11.

Martin Schaub zeichnet eine Entwicklung nach: »Die ersten New Yorker Aufnahmen Franks zeigen einen immer deutlicheren Hang zur >décadrage<. Da war offensichtlich etwas ins Wanken geraten. Das Bild wandert über die ganze Fläche. Das hat noch etwas Demonstratives an sich, etwas Formalistisches. In allen 83 Bildern von The Americans wird die >zu­fällige< Cadrage selbstverständlich.« Schaub (wie Anm. 6), S. 78.

Robert Frank, The Americans, New York 1959, S. 8.

Zum filmischen Charakter der Photogra­phien Franks vgl. Schaub (wie Anm. 6), passim, und Sarah Greenough, »Fragmente, die ein Ganzes ergeben. Zur Bedeutung in fotografi­schen Sequenzen«, in: Greenough/Brookman (wie Anm. 6), S. 96 ff.

Der Begriff der Zentrifugalität des Films findet sich insbesondere in dem Aufsatz »Théatre et cinéma«. Doch der Gedanke klingt auch anderweitig in André Bazins Aufsatz­sammlung Qu'est-ce que le cinema? an, die zwischen 1958 und 1965 herauskam und 1990 noch einmal als einbändige Ausgabe in Paris verlegt wurde (S. 160 dort).

Zitiert, vielleicht auch erfunden von Da­vid Amram, Vibrations. The Adventures and Musical Times of David Amram, New York 1968, S. 314.

Jim Hoberman, The American New Wave, 1958-1976, Buffalo 1982, S. 36.

Laut Aussage von Carolyn Cassady, zi­tiert in Ann Charters, Kerouac. A Biography, San Francisco 1973, S. 405.

Joyce Johnson, Minor Characters (1983), zitiert nach Floyd (wie Anm. 21), S. 13.

Jonas Mekas, »New York Letter: Towards a Spontaneous Cinema«, in: Sight and Sound 28 (1959), S. 129.

Amran (wie Anm. 26), S. 313.

Vom 28. November 1968, S. 54.

Tyler (wie Anm. 7), S. 29.

Beispiele für den filmischen Underground der sechziger Jahre sind etwa Ken Jacobs' Blonde Cobra (1959-63), Jack Smiths Flaming Creatures (1963), Ron Rices Chumlum (1964) sowie zahlreiche Werke von Andy Warhol.

Der vorliegende Text ist die überarbeitete Fassung eines Kapitels aus: Olaf Hansen / Thomas Liese­mann (Hgg.), Demokratie und Kunst in Amerika, Triest 1996, S. 67-80. Für Anregungen danke ich Mariann Lewinsky und Till Brockmann.

Christine Noll Brinckmann
geb. 1937 in China, seit 1989 Ordinaria für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Sie gab, zusammen mit Mo Beyerle, das Buch Der amerikanische Dokumentarfilm der 60er Jahre (Frankfurt am Main 1991) heraus; ihre Aufsatzsammlung Die anthropomorphe Kamera erschien 1997 in Zürich.
(Stand: 1998)
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