CAROLINE ARNI

»... AND I SHALL LOVE AGAIN« — FRANCIS FORD COPPOLAS UND BRAM STOKERS DRACULA: SEXUELLE ANARCHIEN IM FIN DE SIÈCLE

ESSAY

A new fear my bosom vexes,

Tomorrow there may be no sexes!

Punch 18951

We are dealing with a plague, with the potential of wiping out our civilization.

– Dr. Donald Louria, Präventivmediziner, in: New York Times (2. Februar 1987)

Spätestens wenn Gary Oldman 1992 als Dracula in Francis Ford Coppolas Filmepos (Francis Ford Coppola, USA 1992) voller Zärtlichkeit versichert, daß er wieder lieben werde – »Yes, I too can love ... and I shall love again« –, verliert der Vampir alle Schrecklich­keit, die ihm Bram Stoker in seinem Roman 1897 verliehen hatte. Und man kann zu Recht die Hypothese aufstellen: »It may be that Coppola has killed Dracula at last and that he will fade out with the twentieth century.«2

Auch am Ende des 20. Jahrhunderts leistet Dracula noch, was er im ausgehenden 19. Jahrhundert leistete: Er beißt Frauen, die ihr sexuelles Begehren unverhohlen kundtun, und Frauen, die ihre Intellektualität ausleben, und er gibt Auskunft über die Befindlichkeit der abendländischen Gesellschaft einer Jahrhundertwende. Diese Befindlichkeit gestaltet sich aber 1992 offensichtlich anders als 1897: In Stokers Roman verwies Dracula seine Liebesfähigkeit in die Vergangenheit und ließ offen, wie es in Zukunft um sie bestellt sein würde: »Yes, I too can love; you yourselves can tell it from the past.«3 Und tatsächlich sollte er auf den folgenden 486 Seiten nicht lieben, sondern hemmungslos und jenseits aller Konventionen seinen Vampirismus, sprich seine polymorphe Sexualität, ausleben, die seine Opfer/Geliebten mit sexuellem Begehren und einer epidemischen Krankheit infizierte. Coppolas Dracula hingegen offenbart sich über zwei Stunden lang als romantischer, leidenschaftlicher, heterosexueller Lover. Die Liebe wird in Coppolas Dracula zum Programm, und genau darin liegt der Bezug seines Films zur Befindlichkeit westlicher Gesellschaften am Ende des 20. Jahrhunderts.

Eine Geschichte ohne Original

Näher als jede bisherige filmische Adaption wollten sich Coppola und sein Drehbuchschreiber James V. Hart an den Roman Stokers anlehnen: »I feel very strongly that I've tried to support his narrative rather than mess with it.«4 Tatsächlich aber hat Hart die Romanvorlage entscheidend verändert. Stokers Dracula verließ seine transsylvanische Heimat, um England zu erobern. Er war der Fremde aus dem atavistischen Osten der unpünktlichen Züge und der aber­gläubischen Bäuerinnen, der die zivilisierte, moderne Welt heimsuchte. Sein Vampirismus war Invasion, war Eroberung. Er biß die englischen Frauen und transformierte sie zu Vampirinnen, um Herrscher über die englische Gesell­schaft zu werden. Draculas Bisse von 1897 waren eine Kriegserklärung an die westeuropäischen Männer und an das britische Imperium: »Your girls that you all love are mine already; and through them you and others shall yet be mine.«5 Harts Dracula hingegen ist kein völlig Fremder, und er hegt keine Eroberungs­pläne. Deutlicher als Stoker identifiziert der Drehbuchautor seinen Dracula mit der legendären Figur des rumänischen Kriegerprinzen Vlad Tepes ( »der Pfäh­ler«), der 1462 die Türken besiegt und dessen Angetraute Elisabetha sich auf der Flucht vor den Türken getötet haben soll. Hatte sich Tepes jedoch der Legende zufolge bereits zu Lebzeiten durch unmenschliche Grausamkeit ausgezeichnet, so führt ihn die Vorgeschichte in Coppolas Film als heldenhaften, durchaus in den Grenzen der kriegsüblichen Ruchlosigkeit agierenden Verteidiger des Chri­stentums gegen den Islam ein. Elisabetha stürzt sich hier vom Schloßturm, weil sie – von den Türken getäuscht – ihren Bräutigam in der Schlacht gefallen glaubt, und der Kriegerprinz schwört Gott ab, um ihr gemeinsames tragisches Schicksal zu rächen. Liebesschmerz, nicht Invasion ist Handlungsmotiv und Programm in Coppolas Film: Prinzessin Elisabetha tötet sich aus Liebe; Prinz Vlad wird aus Liebe zum Vampir.6 Er sucht England nicht als Eroberer heim, sondern als verzweifelter Bräutigam, der in der Engländerin Mina Murray die Reinkarnation seiner geliebten Elisabetha entdeckt hat und diese wiedergewin­nen will.

Stokers Dracula wird in Coppolas Film gleichsam assimiliert. Er repräsen­tiert nicht mehr das Fremde, sondern ordnet sich als Verteidiger des Christen­tums und des Prinzips Liebe in die abendländische Kultur ein und verfügt über eine Lebensgeschichte und ein Schicksal, das ihn zum Individuum und zum tra­gischen Helden macht. So stirbt Dracula im Film auch erst, nachdem er sich vom Monster in den jungen, schönen Prinzen zurückverwandelt hat. Coppolas Dracula endet als Mensch und nicht widerwillig, sondern weil er sich mit sei­nem Schicksal versöhnt; »Give me peace«, flüstert er Mina zu, worauf diese das Schwert tief in sein Herz stößt.

Harts Drehbuch interpretiert weder Stokers Roman noch die Legende von Vlad Tepes, sondern die gesellschaftliche Befindlichkeit im ausgehenden 20. Jahrhundert. Wollte sich Coppola vom Zeitgeist inspirieren lassen, »den auch Stoker gespürt haben mu߫7, so ist seine Erzählung doch vom Zeitgeist der Wende zum 21. Jahrhundert geprägt: Sein Dracula richtet sich an die Be­dürfnisse einer zeitgenössischen westlichen Gesellschaft genauso wie Stokers Dracula den Bedürfnissen der englischen Gesellschaft des Fin de siècle ent­sprach. Diese Bedürfnisse bestehen in beiden Fällen in der Bewältigung von sozialen und kulturellen Konflikten, Unsicherheiten und Instabilitäten in ihrer spezifisch historischen Gestalt.8

Sex, Perversion, Krankheit: Bram Stokers Dracula

Stokers Dracula, entstanden im Großbritannien der Jahre 1890 – 1896, unter­schied sich von vorgängigen literarischen Verarbeitungen des Vampirmotivs dadurch, daß er im Hier und Jetzt der zeitgenössischen LeserInnen angesiedelt war. Graf Dracula trieb sein Unwesen im London der 1890erJahre, seine trans­sylvanische Heimat war per Schiff, Zug und Postkutsche erreichbar, und die englischen Protagonistinnen bedienten sich modernster Technologie: Sie photo­graphierten mit Kodak-Kameras, hielten ihre Tagebuchnotizen mit Phonogra­phen und Schreibmaschinen fest und zitierten zeitgenössische popularisierte Wissenschaft wie Jean Martin Charcots Theorie über die Hysterie und die Phy­siognomik von Cesare Lombroso, Diese narrativen Elemente haben referen­tielle Funktion: Sie verweisen auf soziale Realitäten jenseits des Textes. Zu diesen Realitäten des Fin de siècle gehörten offensichtlich nicht nur Kameras, Phonographen und moderne wissenschaftliche Theorien, sondern auch die be­drohliche Präsenz eines fremden und sexuell ambivalenten Wesens. Dracula, so Stokers Botschaft an seine LeserInnen, könnte jederzeit vor deren Fenster auf­tauchen.

Tatsächlich wurde die Bedrohung, die Dracula in Stokers Roman repräsen­tiert, von der englischen Gesellschaft als so real empfunden wie eine Schreib­maschine. Als »compendium of fin-de-siècle phobias«9 thematisiert der Roman alles, wovon sich die zeitgenössische Gesellschaft bedroht sah: die schwindende Durchsetzungskraft des englischen Imperialismus und das Eindringen kolonialisierter Völker in die englische Kultur, die ungebrochene Macht des Adels in einer verbürgerlichten Gesellschaft, den Zusammenbruch der Geschlechterordnung und die Fragilität der bürgerlichen Ehe- und Sexualmoral. Die Gren­zen zwischen den Geschlechtern, den Klassen und Ethnien schienen sich auf­zulösen.10

Die mit der Sexualität und der Geschlechterordnung verknüpften sozialen Phobien werden – ein Jahrhundert später – erneut aktuell. Von dem ganzen Bündel an Themen, die in Stokers Roman präsent sind, entwickelt Coppolas Film nur gerade das der »sexuellen Anarchie«11 in einer Art und Weise, die über eine bloße Illustrierung des Romans hinausgeht. Stoker schuf mit Dracula eine Figur, welche die Inversion der bürgerlichen sexuellen Ordnung als Bedrohungder nationalen Gesellschaft darstellte. Vampire praktizierten eine polymorphe Sexualität jenseits aller Konventionen: Der Dandy Dracula begehrt den Hals des Grundstückmaklers Jonathan Harker ebenso wie denjenigen der schönen Adligen Lucy Westenra, während seine drei transsylvanischen Artgenossinnen ihrerseits gleichermaßen nach Jonathans und Mina Murrays Blut verlangen, Die schöne Lucy und die intellektuelle Mina entfalten, einmal gebissen, einen sexuellen Hunger, der so gar nicht ins Bild der asexuellen viktorianischen Frau passen will. Kein Vampir und keine Vampirin kümmert sich um die Bande der Ehe, um Treue, und im Gegensatz zum ehelichen, heterosexuellen Akt repro­duziert der vampirische Akt Nicht-Leben. Vampirismus ist in jeder Hinsicht das Andere, die Perversion der bürgerlichen sexuellen Ordnung: bisexuell, ambivalent in seiner geschlechtlichen Identität, offensiv, unehelich, nichtrepro­duktiv. Und er steht sinnbildlich für eine sehr reale Heimsuchung der englischen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts: Der Anspruch emanzipierter Frauen, der sogenannten New Women, ihre Sexualität und Intellektualität auszuleben, die öffentliche Präsenz und kulturelle Selbststilisierung homosexuel­ler Dandys, die Kritik an der bürgerlichen Ehe- und Sexualmoral stellten die Gesellschafts- und Geschlechterordnung des 19. Jahrhunderts radikal in Frage. Wahrgenommen als »sexuelle Anarchie«, schienen diese Phänomene sozialen und kulturellen Wandels die Grenzen zwischen den geschlechtlichen Identitä­ten zu verwischen, die Geschlechterordnung zu destabilisieren und die Regeln der bürgerlichen Moral zu brechen.

Diese Bedrohung wurde als Bedrohung für die Gesundheit des »Gesell­schaftskörpers« imaginiert. Die pervertierte Sexualmoral wurde in Stokers Ro­man zum Medium einer epidemischen Krankheit, die das Individuum und die Gesellschaft gleichermaßen bedrohte: Der Vampir infiziert sein Opfer, macht es krank und damit sich gleich. Die von Dracula gebissene Lucy führt sich auf wie eine anämische Hysterikerin und droht, ihre »Krankheit« an ihren Verlob­ten weiterzugeben. Als apokalyptische Form der sexuellen Anarchie bringt die sexuelle Epidemie das Krisenempfinden des Fin de siècle auf den Punkt.12 Die Syphilis war die Krankheit, die symbolisch alle Ängste der Jahrhundertwendein einem Bild zusammenfaßte: in jenem des verseuchten, degenerierten, tod­kranken Körpers als Effekt käuflicher, ehebrecherischer und mitunter homoerotischer Sexualität. Der Vampirismus war syphilitisch, und das Eindringen des Fremden war Degeneration.13 Attackiert von einer hysterischen Frauenbewegung und infiziert durch eine syphilitische Sexualität, schien das zivili­sierte und fortschrittliche Europa in Agonie zu verfallen.

Sinnbildlich für eine ebenso integre, solidarische, heldenhafte und gesunde wie männliche westliche Kultur schließen sich in Stokers Roman die Freunde Lucys und Minas – ein Anwalt, ein Arzt, ein amerikanischer Abenteurer und ein Adliger – angesichts der vampirischen Bedrohung zusammen und besiegen die transsylvanische Gefahr. Der Roman endet indes nicht dort, wo Dracula zu Staub zerfällt, sondern in einem Epilog, der die LeserInnen über die Heirat nahezu sämtlicher Protagonistinnen und der Geburt eines wohlgeratenen Soh­nes unterrichtet. Das Finale ist zugleich der Sinn der Erzählung: Stokers Ant­wort auf die sexuelle Anarchie des Fin de siècle besteht in der Reaffirmation der bürgerlichen Gesellschafts- und Geschlechterordnung, in der Männer und Frauen in Ehen zusammenfinden, rotbackige Söhne zeugen und so den Fort­bestand der (männlichen) westlichen Gesellschaft und Kultur sichern.

Sex, Liebe, Krankheit: Francis Ford Coppolas Dracula

Auch die Gesellschaften der kommenden Jahrtausendwende verfügen mit Aids über eine Krankheit, anhand deren sich sexuelle Anarchien thematisieren lassen. Nicht zufällig greift Coppola in den neunziger Jahren explizit auf Stokers Dracula zurück, und nicht zufällig macht er dessen Horrorgeschichte zu einer Love-Story und Dracula zu einem Helden der romantischen Liebe. Der Dra­cula vom Ende des 20. Jahrhunderts übertritt die Geschlechtergrenzen und die Konventionen der bürgerlichen Sexualität nur noch als wörtliches Zitat des Sto­kerschen Romans. Er weist kaum mehr die sexuellen Ambivalenzen und Per­versionen auf, die Stokers Dracula als derart bedrohliche Figur charakterisiert hatten – auch wenn Coppola unzählige Effekte und viel Schminkmaterial dar­auf verwendet, diese Bedrohlichkeit nachempfindbar zu machen, Der Dracula unseres Jahrzehnts offenbart sich immer dort, wo er nicht mit Stokers Worten spricht, wo er Tränen vergießt und mit weinerlicher Stimme deklariert: »The luckiest man that walks on this earth is the one who has found true love.« Oder wo er Mina mit der zärtlichen Beharrlichkeit dessen verfolgt, der weiß, daß sie die Liebe seines Lebens ist. Oder wo er nicht zubeißt, wenn sie in seinen Armen liegt, weil es ihm nicht mehr um simple Lust, sondern um das Leben der Ge­liebten geht. Draculas Begehren hat eine eindeutige Richtung eingeschlagen: Er will seine verlorene Braut zurück, und die ganze vampirische, effektvoll insze­nierte blutspritzende Irrfahrt über Lucys Hals und Renfields Leiche sind Mit­tel zum Zweck und der tragische Nebeneffekt einer leidenschaftlichen Liebe.

Indessen bleibt Dracula auch als tragischer Liebhaber eine Bedrohung, die er – ganz selbstaufgeklärtes Individuum – auch als solche erkennt: In einem heroischen Akt von Selbstverzicht verweigert er vorerst Mina, die zu ihrer Identität als Elisabetha und zu ihrer Liebe zum rumänischen Prinzen zurück­gefunden hat, sein Blut und damit die Möglichkeit, sich als Vampirin mit ihm zu vereinigen: »I cannot let this be ... I love you too much to condemn you.« Was er ihr ersparen will, ist die Transformation zur Vampirin, wie sie Minas Freundin Lucy vollzogen hat, ist die Verwandlung zum lüsternen, kindsmor­denden, irrsinnigen Biest, zur anämischen, hysterischen Untoten, die ihren Verlobten begehrt und ihn sich gleichmachen will. Der Vampirismus bleibt Sinnbild einer epidemischen Krankheit, die sich im sexuellen Verkehr über­trägt. Nun ist es aber hier weniger die geschlechtlich ambivalente, perverse Sexualität, die das Milieu der Krankheit abgibt, als vielmehr die promiskuitive Sexualität, die vermeintliche Kompensation für Liebe ist und mit dieser nicht zusammenfällt. Es ist der sexuelle/vampirische Akt, den Dracula mit Lucy nachts – rasend vor Eifersucht und Wut über Minas Heirat mit Jonathan – voll­zieht, der diese endgültig infiziert.

Coppolas Film interpretiert nicht Stokers Roman, sondern engagiert sich in einem gesellschaftlichen Diskurs um Liebe, Sexualität und Krankheit, während Stoker einen gesellschaftlichen Diskurs um Sexualität, Perversion und Krankheit führte. Coppolas Dracula problematisiert das Verhältnis von Sexua­lität und Liebe im Kontext einer moralischen Diskussion, die – angesichts der Gefahren der promiskuitiven Sexualität im Zeitalter von Aids – Liebe und Monogamie zur sicheren Zuflucht für das sexuelle Begehren erklärt. Der Vam­pirjäger Van Helsing fragt Jonathan, der in Transsylvanien die zweifelhafte Bekanntschaft dreier Vampirinnen macht, ob er »during your infidelity with those creatures« deren Blut getrunken habe, und versichert auf dessen Verneinung: »Good, then you have not infected your blood with the terrible disease that distroyed poor Lucy.« Es ist die Untreue, der polygame Akt, das unkontrolliert fließende Blut, durch das sich die »Krankheit« Vampirismus überträgt. »Blood is too precious a thing in these times«, warnt Dracula Jonathan, und die wieder­holte Einblendung mikroskopischer Aufnahmen von Blutzellen tut das ihrige, um den Zuschauerlnnen deutlich vor Augen zu führen, daß Coppola die Meta­pher Syphilis durch die Metapher Aids ersetzt. Es ist schließlich die hetero­sexuelle, selbstlose Liebe, welche die Krankheit transzendiert. Um den Preis, ihn damit ganz zu verlieren, erlöst Mina Dracula von seinem vampirischen Dasein und verleiht damit ihrer Beziehung die Reinheit der idealen Liebe, »stronger than death«.

Coppolas Absicht war es, einen Film über die »Liebe als göttliche Kraft, Liebe als Licht, Liebe als Ursprung des Lebens« zu machen.14 Tatsächlich hat er einen Film über die romantische – die ewige, ausschließliche, heterosexuelle, monogame – Liebe gemacht. Dies ist mehr als »business as usual in terms of the representation of heterosexual male sexuality«.15 Im Kontext einer Gesellschaft, in der Aids nicht nur ein biomedizinisches, sondern auch ein moralisches Thema ist, wird Coppolas Dracula zu einer konservativen Reaktion auf kultu­relle Unsicherheiten im Umgang mit Sexualität: Monogamie und Heterosexua­lität sind des Regisseurs Antworten auf die »sexuelle Anarchie« unseres Fin de siècle. Schloß Stokers Roman mit dem Bild der Ehe, des männlichen Nach­wuchses und der tugendhaften Frau ab, so endet Coppolas Film mit dem romantischen Liebespaar: Prinz und Prinzessin ewig vereint in barocker Deckenmalerei.

Der Körper der Frau, das Blut der Männer

Mit dem rassistischen Diskurs, der das Fremde als Bedrohung konstruierte, verknüpfte sich in Stokers Roman ein Geschlechterdiskurs, der die emanzipier­ten, sexuell anspruchsvollen und gebildeten New Women des Fin de siècle als Verkörperung der Gefahr verstand. Nicht zufällig wurden die schöne, blonde, leichtsinnige, einem Flirt immer zugeneigte Lucy Westenra und die intellektuelle, gebildete Lehrerin Mina Murray zu den Opfern des Vampirs. In einer viktorianischen Gesellschaft, die Weiblichkeit als ebenso asexuell wie aus­schließlich gefühlsgeleitet verstand, stellten solche Frauen eine Abweichung dar, welche die soziale Ordnung destabilisierte. In Stokers Dracula sind ihre Körper die durchlässigen Grenzen der Gemeinschaft, durch die das Fremde eindringen kann.16 Opfer und Täterinnen zugleich, werden sie invadiert und reproduzieren die Invasion in die Gemeinschaft hinein, indem sie deren Män­ner begehren und damit bedrohen. Der männliche Körper des Wahnsinnigen Renfield hingegen vermag die vampirische Gefahr lediglich zu imitieren: In darwinistisch aufsteigender Folge frißt Renfield Fliegen, Spinnen, Vögel und Katzen, um sich wie Dracula Leben einzuverleiben – ohne aber dabei den Vam­pirismus weitergeben zu können. Es ist der Körper der Frau, der die Repro­duktion des gefährlichen Fremden möglich macht.

Auch in Coppolas Dracula, der auf den Diskurs des bedrohlichen Fremden weitgehend verzichtet, ist der Körper der Frau der zentrale Ort des Gesche­hens. Lucys Körper vervielfältigt die epidemische Gefahr, indem sie vampirisch wird, und Minas Körper ist Gegenstand der Konkurrenz zwischen Jonathan und Dracula, die beide Mina/Elisabetha als ihre Braut beanspruchen. Ihr Kampf gilt dem Verfügungsrecht über den Körper der Frau. »She is now my bride«, schleudert Dracula Minas Ehemann Jonathan entgegen, nachdem er sie gebissen und sie von seinem Blut getrunken hat. Auf Jonathans Flucht aus Transsylvanien folgt in Überblendung der romantische Flirt zwischen Mina und Dracula; Minas Heirat mit Jonathan geht über in Draculas letzten und entscheidenden Biß in Lucys Hals.

Der Kampf zwischen Eigenem und Fremdem in Stokers Roman ist bei Coppola zum Kampf zwischen zwei konkurrierenden Liebhabern geworden, die beide Anspruch auf Körper und Treue ihrer Geliebten erheben. In beiden Erzählungen aber ist der Körper der Frau Opfer und Täter: wehrlos ausgelie­fert und lustvoll dargeboten zugleich. Hier wie dort ist der Körper als Medium und Reproduzent der Zerstörung (Vampirismus, Syphilis, Aids) umkämpft.

Die Kontrolle über den latent gefährlichen Körper der Frau scheint am Ende des 20. Jahrhunderts so zentral wie vor hundert Jahren. Und diese Kon­trolle kommt dem Liebhaber/ Ehemann zu, denn die Frauen selbst müssen sich schließlich wie Lucy eingestehen: »I couldn't control myself.« Lucy wird zur Hülle, in der das männliche Blut zirkuliert und sich konkurrenziert: dasjenige Draculas, das sie nachts trinkt, und dasjenige ihrer Freunde, die sie mit Blut­transfusionen zu retten versuchen. Zur 1992 in Coppolas Film reaffirmierten romantischen Heterosexualität gehört offensichtlich die männliche Kontrolle über den weiblichen Körper genauso wie zur reaffirmierten nationalen, bür­gerlichen Gesellschaftsordnung 1897. Sie scheint noch immer konstitutiv für die Konstruktion der heterosexuellen Beziehung.

Die Selbstthematisierungen der Gesellschaften am Ende des 20. Jahrhunderts finden ihren metaphorischen Ausdruck nicht mehr im Bild der Degeneration, sondern in vielfältigen postmodernen »endisms«17: Befürchtet wird das Ende der Geschichte, das Ende des Subjekts, das Ende aller Werte. Die Bedeutung von Coppolas Film liegt wie diejenige von Stokers Roman darin, eine Antwort auf zeitgenössische kulturelle Unsicherheiten zu geben, die gesellschaftliche Identität zu stabilisieren und sie ins nächste Jahrhundert hinüberzuretten. For­mal ein postmodernes Opus, das die ganze Geschichte des Vampirfilms zitiert, kaleidoskopisch, nichtlinear und fragmentarisch erzählt, gibt Coppolas Dracula auf die »postmodernen« kulturellen und sozialen Verunsicherungen zutiefst »moderne« Antworten: die Verklärung einer heroischen Vergangenheit, die Stilisierung des genialen, heldenhaften, männlichen, sein Schicksal meisternden Individuums, die Zelebrierung der heterosexuellen romantischen Liebe, die männliche Macht über den weiblichen Körper.

In einem nächsten Werk will Francis Ford Coppola die »wahre Geschichte über Aids« verfilmen. Cure soll das »Doku-Drama« heißen, und es soll die Suche nach einem Impfstoff thematisieren.18 In gewisser Weise hat Coppola diesen Film bereits vorweggenommen. Der biomedizinischen Abhandlung hat er eine moralische Botschaft vorausgeschickt: Es ist der Sex aus purer Lust, die untreue, promiskuitive Sexualität ohne Liebe, die Medium der Ansteckung ist, und es ist die idealistisch überhöhte romantische, heterosexuelle Liebe, die von der Krankheit erlöst. Die Authentizität, die Coppolas Dracula beanspruchen kann, besteht nicht in einer romangetreuen Verfilmung, nicht in den sorgfältig nachempfundenen Kostümen und den sorgsam recherchierten Trinksitten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sondern sie liegt dort, wo Coppola eine sich wandelnde Sexualmoral implizit als »sexuelle Anarchie« thematisiert, indem er ihr mit Antworten begegnet, die eine fragil gewordene Ordnung restabilisie­ren: »And I shall love again... «

Das Zitat aus dem englischen satirischen Wochenblatt stammt aus: Elaine Showalter, Sexual Anarchy. Gender and Culture at the Fin-de-siècle, New York 1990, S. 9.

Nina Auerbach, Our Vampires, Oursel­ves, Chicago/London 1995, S. 209.

Bram Stoker, Dracula, London 1993 (London 1897), S. 55.

James V. Hart zit. nach Henry Sheehan, »Trust the Teller«, in: Sight and Sound 1, Bd. 3 (1993), S. 14.

Stoker (wie Anm. 3), S. 394.

Eine ähnliche Modifikation der Roman­vorlage vollzog bereits der Fernsehfilm Bram Stoker's Dracula von Dan Curtis (USA 1973). Die einzige Neuerung, die Hart dieser Vorlage gegenüber einführte, ist Elisabethas Selbst­mord statt ihrer Ermordung durch die Türken.

Francis Ford Coppola im Gespräch mit Peter Krobath, vgl. ders., »Wie ein Diktator. Gespräch mit Francis Ford Coppola«, in: Zoom 2 (Februar 1993), S. 24/25, S. 24.

Nach Margrit Dorn besteht darin die Funktion jedes Filmgenres, vgl. dies., Vampirfilme und ihre sozialen Funktionen. Ein Beitrag zur Genregeschichte, Frankfurt am Main 1994.

Auerbach (wie Anm. 2), S. 7.

Vgl. dazu die vielfältigen literatur- und kulturwissenschaftlichen Interpretationen von Stokers Roman, z. B.: Stephen D. Arata, »The Occidental Tourist: Dracula and the Anxiety of Reverse Colonization«, in: Victorian Studies 33 (Sommer 1990), S. 621-645; Christopher Craft, »>Kiss Me With Those Red Lips<: Gender and Inversion in Bram Stoker's Dracula«, in: Showalter Elaine, Speaking of Gender, New York/London 1989, S. 216-242, Daniel Pick, »>Terrors Of the Night<: Dracula and >Degene­ration< in the Late Nineteenth Century«, in: Critical Quarterly (Winter 1988), S. 71-87; Da­vid Glover, Vampires, Mummies and Liberals, Bram Stoker and the Politics of Popular Fiction, Durham/London 1996.

Showalter (wie Anm. 1).

Ebd., S. 188.

Zum Bild der Degeneration vgl. Daniel Pick, Faces of Degeneration. A European Dis­order, c. 1848 – c. 1918, Cambridge 1989.

Krobath (wie Anm. 7), S. 24.

Richard Dyer, »Dracula and Desire«, in: Sight and Sound 1, Bd. 3 (1993), S. 8-12, S. 12.

Vgl. Theresa Wobbe, »Die Grenzen der Gemeinschaft und die Grenzen des Ge­schlechts«, in: Theresa Wobbe / Gesa Linde­mann, Denkachsen. Zur theoretischen und in­stitutionellen Rede vom Geschlecht, Frankfurt am Main 1994, S. 177-207.

Showalter (wie Anm. 1), S. 2.

Krobath (wie Anm. 7), S. 25.

Caroline Arni
geb. 1970, Studium der Geschichte und Soziologie in Bern und Basel, arbeitet am Institut für Soziologie der Universität Bern.
(Stand: 2018)
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