VALÉRIE PÉRILLARD

DIE SALZMÄNNER VON TIBET (ULRIKE KOCH)

SELECTION CINEMA

Die Ethnologin Ulrike Koch dokumentiert in Die Salzmänner von Tibet eine untergehende Lebensform. Es gelingt ihr, poetisch einen Ein­blick in die harten Lebensbedingungen von vier tibetischen Salzmännern zu vermitteln, die mit rund 160 Yaks eine dreimonatige Reise zu den Salzseen unternehmen, um dort Salz zu ge­winnen. Dieses werden die Männer gegen Ger­ste und andere Nahrungsmittel eintauschen.

Die vier Salzmänner, Vertreter einer No­madengruppe, sind: Margen, die »alte Mutter«, der für Kochen, Abwaschen und andere haus­hälterische Arbeiten verantwortlich ist, Pargen, der »alte Vater«, der sich um die Rationierung des Fleischs und die Durchführung der Rituale kümmert, weiter Zopön, der für die Tiere zu­ständig ist, und schließlich Bopsa, der »Neu­ling«, der seine Initiation zum Salzmann erlebt.

Der ruhige, kontemplative Schnitt ermög­licht es der Zuschauerin und dem Zuschauer, ein ganz anderes Zeitgefühl als das unsere mit­zuerleben. Hektik ist ein Fremdwort in dieser wiederkehrenden Abfolge von kilometerlan­gen Märschen, von Zelte aufstellen, Feuer anfa­chen, Nachtessen kochen, essen und schlafen. Neben dem Zeitgefühl ist auch das Raumgefühl ein anderes: endlose, weite Ebenen, in denen sich die Landschaften kaum verändern, wäh­rend sie zu Fuß durchschritten werden.

Faszinierend mag in unserer nüchternen Welt wirken, wie ritualisiert ihr Alltag ist – so sprechen zum Beispiel die vier Männer mit den windgegerbten Gesichtern während der Reise ab einem gewissen Punkt in einer Geheimspra­che miteinander, die in den Untertiteln folge­richtig mit kryptischen Zeichen übersetzt wird. Die Filmemacherin mußte in einer gewissen Distanz zum Salzsee bleiben, da dieser heilig ist und sich ihm keine Frau nähern darf – der Kameramann Pio Corradi filmte dort allein. Ein schönes Sinnbild für das organische Leben der Salzmänner ist die Szene, in der Pargen am Salzsee mit erstaunlicher Handfertigkeit kleine Yaks aus Gerstenmehl knetet, die vor der Rück­reise der Göttin des Salzsees geopfert werden.

Der Film kommt ohne Kommentar aus, einzelne Statements geben Einblick in den Zu­sammenhang zwischen Leben, Religion und Rituale der Salzmänner. Da die chinesischen Behörden keine Drehbewilligung geben woll­ten, mußte der Film mit einer kleinen digitalen Amateurvideokamera gedreht werden; die Bil­der wurden später auf 35 mm aufgeblasen. Gerne schaut man die schönen Bilder von Pio Corradi an, gerne läßt man sich vom ruhigen Rhythmus mittragen. Und doch bleibt ein Un­behagen zurück: Auch wenn es sicher richtig ist, daß mit dem Untergang der Salzmänner ein letztes Stück Autonomie im von China besetz­ten Tibet verlorengeht, handelt der Film in erster Linie von der Trauer über eine unter­gehende Lebensform, und als solcher haftet ihm eine rückwärtsgewandte Nostalgie an. Moderne Einbrüche in die archaische Welt wer­den zwar nicht verschwiegen – die Lastwagen, die neuerdings zu den Salzseen fahren, werden verschiedentlich gezeigt –, doch möchte man gerne mehr erfahren über diese Konfrontation von alter und neuer Welt. Wie gehen die Salz­männer mit der Konkurrenz der Lastwagen um. Gibt es solche, die dafür, und solche, die dagegen sind? Welches Bild haben die Last­wagenfahrer von den Salzmännern? Stehen beide Salztransportformen einander versteinert gegenüber, oder entsteht aus dieser Konfronta­tion eine neue Dynamik? Es bleiben offene Fragen.

Valérie Périllard
ist Volkskundlerin und Regieassistentin in Zürich.
(Stand: 2019)
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