ANTOINE DUPLAN

NOUS SOMMES TOUS ENCORE ICI (ANNE-MARIE MIÉVILLE)

SELECTION CINEMA

Schon während des Vorspanns äußern sich ver­schiedene Stimmen aus dem Off negativ über das Filmprojekt nach dem Tenor: »Poesie? Da­mit ist es vorbei.« Nach Mon cher sujet (1988) und Lou n'a pas dit non (1996) bezieht Anne-Marie Miéville in ihrem neusten Langspielfilm ganz klar eine Position des Widerstands: Kino ist demnach mehr als vergängliche Unterhal­tung – auch wenn die, die das Sagen haben, nach wie vor versuchen, es darauf zu reduzie­ren. Kino ist ein poetischer Akt, Kino – aus Licht gemacht – schöpft seine Inspiration aus dem Licht der Poesie und der Philosophie.

Der erste Teil des Films erinnert daran, daß die gegenwärtige Epoche eng mit der An­tike verknüpft ist. Der Dialog zwischen Aurore Clément und Bernadette Lafont ist wörtlich Platons Gorgias entnommen. Die Küche ersetzt die Agora, die Nähmaschine die Säulenhalle. Das kontrastreiche Nebeneinander von inhalt­licher Dichte, Alltäglichkeit des Dekors und schalkhafter Mimik fügt der platonischen Rhe­torik ein Lächeln bei und kündet gleichzeitig von der Langlebigkeit der Ideen. Jean-LucGodard, Komplize und Lebenspartner der Filmemacherin, tritt allein auf die Bühne: Mit den Worten von Hannah Arendt macht er sich Gedanken über das Wesen des Totalitarismus.

Auf diese ersten zwei Tableaus, die von großer intellektueller Dichte sind, folgt ein dritter, etwas leichter zugänglicher Akt: ein neues Kapitel im ewigen Liebes-Krieg zwi­schen Mann und Frau. Wir sehen wieder zuerst Godard. Die Mütze tief in die Stirn gezogen, mit schmollendem Gesicht, erweist er sich als unwiderstehlicher Komiker. Dann tritt Aurore Clément auf: unruhig und strahlend, stark und zerbrechlich. Unkappbare Bande der Liebe und Verzweiflung fesseln die beiden bejahrten Liebenden – wie alle, die sich schon seit (zu) langem lieben – aneinander. Sie durchleben gemeinsam die Wechselfälle der Existenz, den Ärger, die Unannehmlichkeiten (als erste im Restaurant angekommen, werden sie als letzte bedient). Schwere Aphorismen fallen von ihren Lippen: »Der Optimismus ist die falsche Hoff­nung der Feigen.« Aber sie haben auch An­wandlungen von Humor: »Überlassen Sie mir die Entscheidung, wo Schönheit entdecken«, schleudert ein mürrischer Godard einem fröh­lichen Typen entgegen, der die Ode An die Freude pfeift. Die Fröhlichkeit anderer kann unerträglich sein. Mit Poesie reflektieren die beiden über die Schwierigkeit des Seins (»Die Seele reist gemächlicher als der Körper«). Sie bedienen sich der Worte der einfachen Leute, um sich ihre Liebe einzugestehen. Sie respek­tieren die etwas lächerlichen Rituale, die ihre Bindung bekräftigen, wie etwa der Abendspa­ziergang. Manchmal streift sie die Versuchung, Selbstmord zu begehen. Die Ironie entschärft aber sogleich wieder diesen Impuls, und ab­gestützt auf Platon und Arendt, gibt das Hof­fen seine Rechte nicht auf. Der Humor ist all­gegenwärtig: Wenn die Nostalgie manchmal von den beiden Liebenden Besitz ergreift, sind sie sich ihrer Lächerlichkeit bewußt, wenn sie dem Klang der Glocken von damals nach­trauern. »Glaubst du, daß am Ende der Nacht die Morgenröte (>aurore<) wieder anbricht?« Und da es Aurore Clément ist, die bebend diese Frage stellt, ist man versucht mit Ja zu antwor­ten. Und Anna-Marie Miéville zu danken, die die Poesie wieder ins Kino fließen läßt und Licht ins Dunkel und den Obskurantismus der Moderne bringt.

Antoine Duplan
geb. 1957, leitender Redaktor des Ressorts Kultur von L’Hebdo, lebt in Lausanne.
(Stand: 2019)
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