SUSANNA KUMSCHICK

DAS UNERHÖRTE OHR — LUSTVOLL DEM PRIVATEN LAUSCHEN IN VICTOR KOSSAKOVSKYS DOKUMENTARFILM BELOVY

ESSAY

«Was gibt es bei uns zu filmen? Wir sind ganz gewöhnliche Menschen.» Anna Feodorovna Belovas Blick in die Kamera verrät Misstrauen. Sie wendet sich ab, wirft Holzscheite auf einen Haufen im Hof ihres Hauses und beginnt dann doch aus ihrem Leben zu erzählen: dass sie in jungen Jahren der Mutter zuliebe auf einen geliebten Mann verzichtete, dass seither die Dinge ihren schlechten Lauf nahmen und sie zwei Ehemänner zu Grabe trug. Sie weint. Dann ver­schwindet sie im Stall. Wir bleiben draussen und lauschen ins Halbdunkel hin­ein. «Kommt meine Lieblinge, lasst euch von Babuschka die Fliegen vertreiben, die schamlosen.» Anna, die sich unter eine Kuh gebeugt hat, ist für unsere Augen kaum noch zu erkennen, wir hören aber die Kuh schnauben, die warme Milch laut in den Eimer spritzen, hören Anna seufzen und zärtlich mit der Kuh reden. «Milaja, Milaja, komm Liebste, sei still Töchterchen. Danke für die Milch.»

Irgendwo im gottverlassenen Norden Russlands kriechen unsere Ohren mit Anna Feodorovna Belova im Dunkeln ganz nah unter die Kuh, lauschen wie an Mutters Busen oder an des Geliebten Brust, hören Anna ächzen und seufzen, schnaufen und singen: «Komm, Schatz, setz dich her, dann tut das Herz, uns nicht mehr weh ...»

Der russische Dokumentarfilmer Victor Kossakovsky führt uns mit Belovy in die Welt der Geschwister Anna Feodorovna und Michail Feodorovich Belov, die abgelegen in einem kleinen Dorf nahe der Quelle der Newa in ihrem Ge­burtshaus leben. Wir begleiten sie in ihrem Alltag, manchmal unbemerkt, nicht immer willkommen, meistens geduldet. Die Geschwister Belov haben schon den grössten Teil ihres Lebens hinter sich. Anna ist zweimal verwitwet. Michail von seiner Frau getrennt. Anna kümmert sich um die Tiere, die Kartoffeln und den Haushalt. Michail philosophiert gern über Jelzins Politik, Gott und die Menschen und trinkt zuviel Wodka. Deshalb streiten sie, sind roh zueinander, lieben sich trotzdem, aber nicht mehr als Anna die Kuh und Michail den Hund. Es geschieht nicht viel Aufregendes im Leben der Belovs, ausser wenn ihre zwei anderen Brüder Sergej und Wassili sie besuchen. Das wirbelt nicht nur auf der einsamen Landstrasse, auf der die Brüder gefahren kommen, viel Staub auf. Wir werden in eine emotionsgeladene Familiengeschichte hineingezogen, werden Zeugen derber Streitereien, und wer genau hinhört, dem wird klar, welch be­deutende Rolle der Ton in Kossakovskys Darstellung der privaten Welt der Be­lovs spielt. Wir werden nicht nur vergessene Voyeure, sondern auch heimliche «Ecouteure», die der Regisseur zum intimen, manchmal beschämten Lauschen verführt.

Lauschen: aufmerksam zuhören; etwas zu hören versuchen; auf ein Geräusch warten; heimlich mithören

Am Anfang ist der Ton. Das ungeborene Kind hört, bevor es sieht: Schon im letzten Drittel des pränatalen Lebens ist das Ohr voll funktionsfähig. Das Blub­bern, Schwappen und Rauschen des Bauchinnern, das rhythmische Herzklop­fen und Atmen der Mutter, der Klang ihrer Stimme und Geräusche der Aussenwelt werden vom Ungeborenen bereits wahrgenommen. Aus einer noch diffusen Klanghülle nimmt das Kind Anteil an der Umgebung seiner Mutter, fest eingebettet in einer nassen, dunklen Sphäre, die Sehen und Riechen un­möglich macht, Schmecken eintönig und Tasten zu einer feuchten, unbestimm­ten Vorahnung dessen, was noch kommen wird. Mit der Geburt beginnt die grosse Entdeckungsreise der verschiedenen Sinne. Die sogenannt kreuzmodale Wahrnehmung, das gleichzeitige Erfassen von Reizen über verschiedene Sinne, entwickelt sich. Das Neugeborene, in den ersten Monaten noch mit unscharfem Blick und bewegungseingeschränkt, erlebt die Welt vor allem als eine akusti­sche. Erst mit der Zeit erfährt es, dass die Geräusche zu Dingen gehören, und beginnt, das Gehörte auch visuell zu erforschen.

Unsere Ohren schlafen nie. Sie haben keine Lider, mit denen wir sie schliessen könnten. Die Schallflut, die ununterbrochen in unsere Ohren dringt, neh­men wir auf ganz verschiedene Weise wahr. Wir können uns an gleichmässige Dauergeräusche gewöhnen. Wir können beiläufig hören, Musik oder Radio beispielsweise. Wir können unsere Aufmerksamkeit auf bekannte Laute pro­grammieren, wie die schlafende Mutter, die ob dem leisesten Weinen ihres Kin­des erwacht, das Schnarchen ihres Mannes jedoch überhört. Wir können unsere Ohren spitzen und bestimmte Laute aus einem Klanggemisch herauslösen, einem einzelnen Gespräch in einem lauten Stimmengewirr folgen. Dieses prä­zise Hinhören ist je nach amorphem Tonbrei mit ungeheurer Konzentration verbunden - ein vorwiegend mentaler Prozess, der nicht mit dem mechanischen Eokussieren unserer Augen vergleichbar ist. Töne können uns auch überraschen und so unsere Aufmerksamkeit erlangen, sei es, weil sie unbekannt, besonders laut oder schrill sind und sich damit von der gewohnten Klangwelt abheben. Diese plötzliche Hinwendung bei überraschenden Gerhuschen, auf die oft eine reflexartige Kopfbewegung folgt, war in früheren Zeiten ein notwendiger hör­psychologischer Mechanismus, kündigten sich Gefahren oder eine mögliche Beute doch vor allem über Geräusche an. Töne, denen wir besondere Auf­merksamkeit schenken, sind entweder solche, die wir aktiv suchen, oder solche, die uns überraschen.

Naher Donner zischt und scheppert, ferner Donner grollt

Das Kino, das über den Ton unsere Aufmerksamkeit wecken und unsere Wahr­nehmung lenken will, arbeitet mit wahrnehmungspsychologischen Hörmustern. Vor allem im Action-Genre werden exzessiv aufmerksamkeitsheischende Ton­reize eingesetzt. Clever montiert, preschen effektvolle Töne unerwartet, schnell und laut auf die Zuhörenden ein, die es betäubt in den Sitz drückt. Sprache, Musik und Geräusche wetteifern miteinander und erzeugen eine unruhige In­tensität. Von aggressiven Tönen attackiert, gehen unsere Ohren in die Defen­sive. Potente technische Wiedergabesysteme lassen die Bässe unter den Sitzen wummern, die Höhen über die Schmerzgrenze steigen und lullen uns ein in einen Surround-Ton, der eine vereinnehmende Nähe schafft.

Kossakovsky evoziert in Belovy eine ganz, andere Art von Aufmerksam­keit. Er öffnet unsere Ohren, indem er den Tönen Zeit lässt, anzuklingen, sich zu entwickeln und auszuklingen. Er gibt den Worten Raum, macht Pausen, schallt Platz, für einzelne Detailtöne, baut sie sorgfältig auf, setzt Akzente. Da­mit weckt er unsere Ohren und schärft unser Gehör. Tonmalerei braucht Zeit - der langsame Rhythmus von Belovy, bestimmt durch eine ruhige Kameraführung und lange Einstellungen, ermöglicht eine ausgiebige Tbngestaltung. Kossakovsky fordert uns auf, uns Zeit zu nehmen, dem rhythmischen Tropfen des leisen Regens, dem entfernten Zwitschern der Vögel, Annas Summen und Michails I Idstein zu lauschen. Wir sehen Anna und Michail beispielsweise aus einiger Entfernung auf dem Feld arbeiten, Anna mit ihrem straff geknoteten Kopftuch und dem enganliegenden abgewetzten Mantel um die breiten Hüften über die Kartoffeln und den Kohl gebeugt. Michail steht im weissen Unter­hemd rauchend neben ihr. Wir hören Anna ganz, nah und deutlich mit ihren Stiefeln im aufgewühlten Boden stapfen und die Schaufel in die Erde rammen, vor Anstrengung schnaufen, wir hören Michail über seine Schwester und den kränkelnden Kohl schimpfen und Anna zwischendurch summen: «Spiel auf, liebes Brüderlein, sing liebes Schwesterlein, lass Leute neidisch sehen, wie Ge­schwister sich verstehen...» Es ist hier in erster Linie der Ton, der das Nahe und Private transportiert, denn wir sehen die beiden aus einiger Distanz.

Das hat zunächst mit der Klarheit und Lautstärke der Geräusche und Stimmen zu tun, doch physische Nähe ist akustisch nicht automatisch mit Laut­stärke gleichzusetzen, denn bei zunehmender Nähe wird der Ton nicht einfach lauter, sondern erfährt zusätzlich eine Timbre-Veränderung. Je kleiner die Di­stanz, desto höher ist der Anteil an hohen Frequenzen. Das Gewitter ist dafür ein gutes Beispiel: Naher Donner zischt und scheppert, ferner Donner grollt dumpf.

Nähe und Privatheit kreiert Kossakovsky jedoch vor allem durch Töne, die durch ihre Bedeutung Intimität evozieren und damit auch Aufmerksamkeit wecken: Körpergeräusche wie leises Atmen, angestrengtes Schnaufen, Schnar­chen oder Schluchzen, auch Kleiderrascheln oder das innige Schlecken des Hundes, das Malmen der Kuh oder Detailtöne wie kaum hörbares Wasser­rinnen, leises Tropfen, das Knistern brennenden Holzes. In Belovy entsteht keine Nähe, die uns überrascht, überrumpelt oder gar bedroht, eher eine, die wir durch aktives Lauschen selber suchen.

Der Tonmeister: Schmetterlingsfänger mit löchrigem Netz

«Es ist, als ob man einen Wal in eine Sardinenbüchse zwängen wollte», be­schreibt der französische Komponist Pierre Boulez in einem Interview das schwierige Unterfangen, ein Musikstück realitätsnah auf einen Tonträger zu bannen. Gleiches gilt für die filmische Tonaufnahme. Töne sind allgegenwärtig, sie dringen aus allen Richtungen an unsere Ohren, sie durchdringen sogar Wände, sie scheren sich nicht um Hindernisse, sind alle gleichzeitig vorhanden - Schritte, Lärm, Wortfetzen, Wind, Vogelgezwitscher, Hundegebell - zusam­men ergeben sie eine höchst unstrukturierte, chaotische Lautsphäre. Die filmi­sche Tonspur ist immer eine Interpretation dieser ursprünglichen akustischen Ereignisse, sie ist immer eine fiktionahsierte Gestaltung dessen, was aus der natürlichen Klangwelt hörbar gemacht werden soll.

Die Manipulation beginnt schon bei der Tonaufnahme. Als erster Lauscher wählt der Tonmensch einen Ausschnitt der akustischen Welt aus. Mit Kopf­hörer und Mikrophonen harrt er der Töne, die da kommen, und versucht, ähn­lich einem Schmetterlingsfänger mit Netz, bevorzugte Laute mit seinen verlän­gerten künstlichen Ohren einzufangen - die Mikrophone kommen im übrigen trotz technischer Innovationen nie unserer natürlichen Hörfähigkeit gleich. Selbst ein sensibles Richtmikrophon ist nicht in der Lage, auch nur einen Bruch­teil der fokussierenden Leistung des menschlichen Hörvorgangs zu erbringen, sondern wandelt primär alle in der Achse liegenden Schallwellen, ungeachtet ihres Sinns und ihrer Zusammensetzung, in elektrische Impulse um.

In derTonmontage und Mischung werden Sprache, Geräuschatmosphären, spezifische Geräusche und Musik, die meist als einzelne Tonaufnahmen vorlie­gen, zusammengefügt, bearbeitet und zu einem höchst artifiziellen Tongebilde gestaltet. Der Manipulation der Töne sind vor allem bei der digitalen Klang­bearbeitung keine Grenzen gesetzt, denn jeder gespeicherte Ton kann einzeln verändert werden. Die Dramaturgie der Tonmischung wiederum nimmt den Prozess des selektiven Hörens teilweise schon vorweg, indem sie via Lautstärke oder klangliche Dominanz Töne in den Vordergrund schiebt, um so die Auf­merksamkeit des Publikums zu lenken.

Die Wiedergabe der gestalteten Tonspur(en) im Kino zeugt vom Bemühen, einen virtuellen Raum zu gestalten. Auch sie kann nur eine bescheidene Rekon­struktion des ursprünglichen Klangraumes bieten, ist die Reduktion auf zwei oder mehrere Lautsprecher doch immer eine Simplifizierung der komplexen akustischen Raumverhältnisse der wirklichen Welt, in der jedes Schallereignis seinen Ort hat, der sich in den Charakteristiken wie Frequenzgang, Verzöge­rung und Hallanteile manifestiert. Selbst Dolby-Stereo-Verfahren und neuste Surround-Techniken, die eine differenzierte räumliche Schichtung ermögli­chen, können diesen vielfältigen Hörraum nicht wiedergeben. Das konditio­nierte Publikum nimmt die absolute Künstlichkeit des Tonraumes unserer stan­dardisierten Wiedergabesysteme jedoch kaum bewusst war. Die Eingrenzung der Dynamik - die vor allem in der TV-Akustik im höchsten Masse erfolgt -, die Einebnung der räumlichen Bezüge und die unbestimmte Tonperspektive sind Konventionen, die kaum als störend empfunden werden.

Kino und TV privilegieren die Sprache, was unter anderem damit zu tun hat, dass auch in der wirklichen Welt Stimmen der Umgebung zuallererst unsere Aufmerksamkeit beanspruchen. Die Sprachverständlichkeit steht damit im Vordergrund und führt vor allem im klassischen Hollywoodfilm oder in billig produzierten und synchronisierten TV-Filmen zu einer klinisch wirkenden Tonspur, die fast nur aus einem dominanten sprachbetonten Vordergrund und höchst dünnen Hintergrundgeräuschen besteht.

Die Vertreter der Dokumentarfilmbewegung Direct Cinema, die in den sechziger Jahren ausgiebig von der Erfindung der ersten portablen Kameras und Tonbandmasehinen für Direktton profitierten, unterwanderten das Primat der Sprachverständlichkeit und kreierten mit ihrem «unstrukturierten Ge­räuschteppich» ein ästhetisches Stilmittel, das auch in Bewegungen wie der Nouvelle vague ausgiebig eingesetzt wurde und zu neuen Arbeitsweisen mit der filmischen Tonspur anspornte. Mittlerweile hat die «schlechte» Tonqualität, das heisst Störgeräusche, unebener Frequenzgang und fehlende Höhen, neben dem unscharfen und wackeligen Bild «Authentizitätscharakter» erlangt. Eine solche Tonspur gilt als Zeichen realitätsnaher Abbildung und wird auch im Spielfilm für Passagen verwendet, die Realitätsnähe suggerieren sollen.

Ton und Bild auf getrennten Wegen

Eine der ausgeprägtesten Eigenarten vieler Dokumentarfilme ist die fehlende Klarheit des Originaltons. Sprache ist oft schwer verständlich, Atmosphären­geräusche und undefinierbare Geräusche wetteifern mit Dialogen, die Tonqua­lität (Lautstärke, Tonvolumen usw.) variiert oft von Szene zu Szene. Die Klar­heit des synchronen Direkttons hängt grundsätzlich vom Grad der Kontrolle über die vorfilmische Situation ab. Es sind in erster Linie die kommentierende Voice-over-Stimme und kontrollierte Interview-Situationen, die die Verständ­lichkeit der Sprache ermöglichen.

Kossakovsky arbeitet in Belovy weder mit Kommentar noch mit Inter­views. Seine Protagonisten sind redselig und drücken sich auch sonst akustisch vielfältig aus. Anna spricht mit sich selber, allen und allem, zärtlich mit den Kühen, fluchend mit dem Gartenzaun, sie singt und summt, weint und keucht. Michail unterhält sich mit dem Hund, philosophiert laut vor sich hin, hustet und schneuzt. Wenn sie beisammen sind, eskalieren ihre Worte oft im Streit. Kossakovsky wählte expressive Menschen aus, die eine konfliktreiche Ge­schwisterliebe leben, und fand in der ruhigen ländlichen Gegend die Voraus­setzung für «störungsfreie» Tonaufnahmen. Akustisch klar und verständlich erlangen die Worte und andere Geräusche der Geschwister draussen wie drin­nen vorherrschende Dominanz, und kreieren oft eine weitaus grössere Nähe zu den Protagonisten, als das gleichzeitige Bild impliziert. Kossakovsky bearbei­tet den Ton intensiv, scheut sich auch nicht vor Verfremdungen und akustischen Interpretationen, jedoch immer nur so weit, dass wir an eine Realitätsnähe glau­ben können.

Die Tonqualität bleibt in Belovy konstant, die Geräuschatmosphären kreie­ren eine weiche Gleichmässigkcit, die kaum je den narrativen Raum zerstückelt oder die Künstlichkeit der Tonproduktion als Ganzes aufdeckt. Auch einzelne Geräusche purzeln nicht willkürlich auf die Tonspur, sie sind bewusst ausge­wählt und bedeutungsvoll eingesetzt. Der Hahnenschrei, die Grillen und das entfernte Hundegebell werden zu deutlichen akustischen Zeit- und Ortsanga­ben, transportieren Stimmungen wie das ausgelassene Vogelgezwitscher und der periodisch ertönende Kauzruf oder das rhythmische Wassertropfen. Sie geben dem Bild Tiefe, erweitern den Hörraum, sind jedoch nur selten im Zen­trum der Aufmerksamkeit, denn die Wahrnehmung der Geräusche geschieht im allgemeinen auf einer unbewussten Ebene. Manchmal werden einzelne Geräu­sche besonders hervorgehoben, so das Malmen der wiederkäuenden Kuh, die schnurrende Katze, Michails Schnarchen, Annas Seufzen, auch hier immer nur so weit, dass wir noch an eine Realitätsnähe glauben können.

Musik, die Kossakovsky in extradiegetischer Form spärlich einsetzt, dient mehrere Male dazu, anekdotische Szenen aus dem Alltag der Belovs zu verbin­den. Es sind unterhaltsame Momente, die von der Musik ironisch kommentiert werden und dadurch eine Leichtigkeit erhalten, vor allem, nachdem Anna und Michail sich wieder einmal in den Haaren liegen.

Wir sehen Michail mit seinem Traktor auf einer endlosen Feldstrasse besof­fen Kurven fahren und den Hund hechelnd hinterherrennen. Dazu hören wir ein fröhliches südamerikanisches Lied - im Norden Russlands eine unerwar­tete, fremde Musik. Michails einsame kleine Ausflucht hoch zu Traktor könnte durch den galoppierenden Rhythmus, die übermütigen Flöten und die aus­gelassenen Jauchzer jedoch kaum besser kommentiert werden.

Gleiches gilt für die Szene, in der die Brüder Belov bei einer ausgiebigen russischen Sauna gezeigt werden; die Badesz.ene wird von einer in dieser Situa­tion überraschenden Liebesschnulze begleitet. «The night was young, the moon was yellow...», säuselt eine Männerstimme zu süssen Geigen. Glamouröse Ballroom-Musik der amerikanischen vierziger Jahre, die an entschlossene Män­ner mit gestärkten Kragen und weiche Frauen in wallenden Röcken denken lässt. Männer, die aufrecht kontrollierten Schrittes den Ballraum durchtanzen, Männer, die sich, die Welt und ihre ergebenen Frauen fest im Griff haben. Eine Welt, die gegensätzlicher nicht sein könnte zum Bild der alternden Brüder, die, nackt, ihre weissen Ärmchen und dünnen Beinchen schlenkernd, wie junge Bu­ben übermütig umherhüpfen, in den See springen und mit ihren Bäuchen flach aufs Wasser schlagen. Und dies im Nachhall von Annas Worten aus dem voran­gegangenen Streit: keine richtigen Männer gäbe es mehr seit dem Krieg. Nur Faulenzer und Nichtsnutze mit leblosen Schwänzen.

Kossakovsky lässt Ton und Bild immer wieder ganz eigene Wege gehen. Die Tonspur von Belovy besteht damit nicht nur aus einem raffiniert gestalte­ten Synchronton, sie ist nicht einfach Bestätigung der sichtbaren Ereignisse, sie steht in einem konzeptuellen Dialog mit dem Bild: Der Ton lässt uns das Bild anders betrachten, und das neue Bild bringt uns dazu, den Ton verschieden zu hören, was uns wiederum dazu führt, im Bild etwas anderes zu sehen, was uns erneut etwas im Ton entdecken lässt und so fort. Oft befinden wir uns in einem ganz anderen Hörraum als dem auf der Leinwand verortbaren Bildraum. Es ist der unsichtbare Raum, aus dem wir Töne zu hören bekommen, deren Quelle wir nicht sehen. Es ist dies der Moment, in dem der Hörer gezwungen wird, genauer hinzuhören, weil er das Gehörte nicht sieht, es ist dort, wo ihm das Sehen vorenthalten und er zum Lauschen ins Unsichtbare gezwungen wird. Dort spitzt der «Ecouteur» die Ohren, und seine Phantasie wird angeregt. Denn der Hörer wird vor allem dann zum «Ecouteur», wenn es ihm nicht so einfach gemacht wird zu hören und er gezwungen ist, genau hinzuhören, weil man ihm etwas vorenthält, das er sehen oder hören möchte, sei es unsichtbar oder schwer hörbar. Er wird vor allem dann auch zum «Ecouteur», wenn er Unerhörtes hört, wenn er Intimes hört - einen Streit am Küchentisch der Geschwister Belov zum Beispiel.

Dem Unhörbaren lauschen - dem Unsichtbaren lauschen

«Wo ist das Geld? Versäufst alles und willst mir dann an die Gurgel, du Lump!» faucht Anna. «Mit meinem Verstand könnte ich Milliarden nach Hause brin­gen!» lallt Michail. «Dabei ist deine letzte Unterhose kaputt!» - «Zeig mir nicht die Zähne!» Michail steht schwankend vom Küchentisch auf und verlässt den Raum. Auch Anna erhebt sich und kommt Richtung Kamera, welche die bei­den aus einiger Entfernung beobachtet hat. Anna beachtet die Kamera nicht, geht rechts an ihr vorbei aus dem Bild, das immer noch den nun verlassenen Tisch mit der leeren Wodkaflaschc zeigt. Aus dem Off hören wir Anna jeman­den wecken. Es folgt eine Einstellung, in der wir Anna in einem anderen Raum einem jungen Mann das Bettlaken vom Kopf wegziehen sehen. Dieser kuschelt sich jedoch schnell wieder ein. Anna verlässt den Raum, und während wir dem Jungen zuschauen, wie er sich verschlafen langsam doch aus dem Bett schält, hören wir den Streit zwischen Anna und Miehail weitergehen. Wir sehen immer noch den Jungen, der den Wortwechsel mitanhören muss. «Weder das Haus noch die Kuh gehören dir. Alles, was du hast, sind dreckige Eier zwischen den Beinen!» Gleich dem Jungen, werden wir zu Lauschern des Unsichtbaren in einem anderen Raum, hören unangenehm Intimes, das einen die horchenden Ohren rot werden lässt.

Die Kamera gesellt sich nun wieder in einiger Entfernung neben die Strei­tenden am Küchentisch, deren Worte sich zu überschlagen beginnen. Als Anna zu weinen anfängt, folgt unerwartet eine Einstellung auf das Haus von aussen und ein langsamer Schwenk über den nahen Eluss, die etwas trostlose Land­schaft mit den kargen vorwinterlichen Bäumen. Wir hören Anna im etwas lei­seren Off: «Deine brau hatte recht, als sie dich verliess. Du gehst der ganzen Welt auf den Wecker!» schluchzt sie. «Und du schämst dich nicht einmal vor den Fremden, die hier filmen!» - «So halten sie das wahre Leben fest», erwidert Michail trocken. Die Filmleute, entsteht der Eindruck durch den Kamerablick, der immer noch über die nahe Umgebung des Hauses schweift, haben sich nach draussen verzogen. Als ob ihr Blick - und damit auch unser Zuschauerblick -sich beschämt abwenden würde von der intimen Welt, die sich vor ihnen auftut. Als ob der Voyeur nicht mehr ganz dabeisein will, die privaten Räume verlässt, Annas Weinen und Michails hilfloses Besoffensein nicht sehen will, sich nach draussen verkriecht, um trotzdem heimlich weiterzulauschen.

Und plötzlich geschieht etwas vollkommen Unerwartetes. Wir sehen Anna und Michail wieder am Küchentisch streiten. Er schreit sie an, steht auf, haut mit der Faust auf den Tisch, schlagartig ist der Ton weg, einfach nicht mehr da. In dieser absichtlich künstlichen Tonlosigkeit sehen wir Michail nach der Wodkaflasche greifen und sie drohend über Annas Kopf schwingen. Sie nimmt sie ihm aus der Hand, es folgen heftige Drohgebärden, böse Blicke und sich schnell bewegende Münder, deren tonlos ausgestossene Gemeinheiten wir nur ahnen können. Die Kamera bewegt sich mit den beiden, die sich keifend gegen­überstehen. In dieser Bewegung wird überraschend wieder der Junge sichtbar, der schon längere Zeit am Tisch gesessen und den Streitenden zugehört haben muss. Bewegungslos mit verängstigtem Blick bekommt er unerhörte Dinge zu hören, die uns vorenthalten bleiben.

Unerwartet wird uns der Ton entzogen, wir sehen keine vollständigen Kör­per mehr. Der Raum verliert ohne die Geräusche des Direkttons an Tiefe, die Szene verliert an Realität, wird entortet, stofflos. Die aggressiven Drohgebär­den des streitenden Paares wirken plötzlich stilisiert, scheinen zeitlupenartig zu verlangsamen und im Tableau-ähnlichen Bild zu erstarren. Wir sehen einen ritualisierten Paarkampf: der besoffene Mann mit der aufgezogenen Wodka­flasche in der Hand, die abwehrende Frau, die ihm die Masche wegzunehmen versucht, beide mit verzerrten Gesichtern, Wüstes aus den offenen Mündern speiend, umeinander tanzend mit Gesten hilfloser Aggression.

Es gibt keinen anderen Moment in der Geschichte der Belovs, in dem ge­lauscht werden kann wie in diesem: das Lauschen ins Leere, das Hineinhorchen in ein stummes Bild, in dem unserer Phantasie freien Lauf gelassen wird, in dem Platz geschaffen wird, in unser eigenes Innere zu horchen. Es ist dies auch der Zeitpunkt, in dem uns deutlich bewusstgemacht wird, dass wir schon lange «Ecouteure» des Privaten geworden sind. Auf dem Höhepunkt einer scham­losen Auseinandersetzung wird uns der Ton weggenommen, die Ohren ab­sichtlich zugehalten, wir sollen nicht mehr zuhören. Dieses plötzliche Eehlen, diese unvermittelt stumme Tonspur lässt uns aufhorchen, vielleicht auch für einen Augenblick erleichtert entspannen, froh, dieses Gezänk nicht mehr länger hören zu müssen. «Ecouteur» sein ist anstrengend. Doch der Entspannung ist zuviel, denn fehlender Ton macht auch unruhig und lässt gespannt auf wieder­einsetzende Geräusche warten. Wir verharren aufmerksam lauschend in Warte­position, ähnlich der Situation, wie sie nach dem Ausruf «Horch, es kommt jemand!» eintritt: Die entstehende Ruhe erfüllt ihren kommunikativen Sinn. Sie wird Ton. Auf ein Geräusch warten ist einer der angespanntesten Momente des Lauschens.

Kossakovsky bedient sich eines Stilmittels, das selten gebraucht wird, wahr­scheinlich auch, weil der plötzliche Abbruch des Tones zuerst an technische Fehler denken lässt. Diese künstliche Tonabsenz hat nichts mit Stille gemein, im Gegenteil, die tonlose Szene bringt die imaginierte Lautstärke der heftig Streitenden um so mehr zum Ausdruck. Gefühle der Stille hingegen werden gerade nicht durch die Absenz von Geräuschen kreiert, es sind vor allem ein­zelne Töne wie geflüsterte Sprache, leises Summen der Insekten, sanftes Rau­schen und Wehen des Windes, das Schlagen einer Uhr, entfernte Tierlaute, durch die sie verdeutlicht werden. Auch Kossakovsky evoziert in Belovy Stille, Stille als währende Grundstimmung der ländlich abgeschiedenen Welt, in der die Geschwister leben. Er braucht sie aber auch dramaturgisch als beruhigendes, friedbringendes Element - vor allem nach dem Sturm der anstrengenden ge­schwisterlichen Auseinandersetzungen.

Dem Hören zuhören

Annas und Michails tonloser Streit führt in eine Szene über, in der sich die Situation entspannt hat. Michail sitzt schnarchend mit vornübergebeugtem Kopf am Küchentisch, Anna heizt den Ofen an. Ruhig knistert das Holz, rhyth­misch schnarcht Michail - ein friedliches, etwas groteskes Bild. Anna steht auf und bewegt sich aus dem Blickfeld der Kamera. Michail schnarcht immer noch, plötzlich verliert er das Gleichgewicht, kippt um, rutscht unter den Tisch und schläft weiter. Im Off hören wir Anna lachen. Dann sehen wir sie mit Kopf­hörern am anderen Ende des Küchentischs sitzen, vor sich ein laufendes Ton­bandgerät. Sie hat nicht über ihren umgekippten Bruder gelacht - ein über­raschendes kleines Tondetail -, sie lacht über das, was sie auf dem Band hört. Ganz leise wird der Singsang Annas eigener Stimme erkennhar. Ist es das uns verweigerte Stück Ton aus der vorangegangenen Streitpassage, das ihr Kossa-kovsky abspielt?

Anna hört sich selber zu. Ein ungewohnter Akt. Es scheint ihr erst jetzt wirklich bewusst zu werden, was sie alles gesagt hat, was sich abgespielt hat und was die Fremden an Intimitäten mitbekommen und aufgenommen haben. Wir, das Publikum, finden uns wieder in der Rolle der Voyeure, schauen Anna lange zu, wie sie sich schämt, verlegene Blicke in die Kamera wirft, den Kopf zur Seite wendet, auf die Hände guckt, wie sie zu weinen beginnt, um gleich wieder zu lachen. Nur an ihren Reaktionen können wir uns vorstellen, was sie wirklich hört, und versuchen, die vergangene Tonspur an unserem inneren Ohr vorbeiziehen zu lassen. Lange hören wir ihr zu beim Zuhören und können nicht mithören. Einmal mehr sind wir angestrengte «Eeouteure», verhinderte Lauschende, denen etwas vorenthalten wird, das sie gern hören möchten, und deren Phantasie es überlassen wird, die Situation zu deuten.

Das Band ist zu Ende. Anna legt die Kopfhörer beiseite, wischt die Tränen ab, steht auf und geht, von der Kamera diskret gefolgt, in ein Nebenzimmer, aus dem bald darauf Akkordeonmusik ertönt. Sie kommt zurück und beginnt zu singen: «Stampfen mit den Füssen, wackeln mit dem Po, so ein schönes Mäd­chen findest du nirgendwo!» Sie zieht ihre Stiefel aus, tanzt mit den nackten Füssen auf dem Holzboden und dreht sieh immer schneller im Kreis. «Frierst du nicht allzusehr, Fischlein unter dem Eis, sag mir Liebchen, machen dich meine Blicke nicht heiss?» Die Kamera gesellt sich zu ihr, dreht mit und in die­ser Bewegung sehen wir den Bruder immer noch am Boden liegen, hören ihn laut schnarchen. Anna beachtet ihn nicht, sie tanzt und singt für uns, verflogen die Scheu, sie lacht und weint, singt ein sehnsüchtiges Lied von ungelebter Liebe, schwenkt kokett ihren fülligen Hintern im abgetragenen Rock. Anna, eine vergangene Schönheit, die zu tanzen wusste und deren Sirenengesang wohl schon manches Ohr gelockt hat - zum lustvollen Lauschen.

Literatur

Mirhel Chion, L'Audio-Vision, Paris 1990.

Thomas Vogel (Hg.), Über das Hören, Tübingen 1996.

Harald Wolff, Geräusche und Film, Frankfurt am Main 1996.

Belovy (Die Belovi), Russland 1992. Regie und zum Teil Kamera: Victor Kossakovsky, s/w, 58 Minuten, Russisch (englische, deutsche Untertitel).

Susanna Kumschick
geb. 1964, Ethnologin und Filmwissenschafterin, lebt in Zürich.
(Stand: 2018)
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