JEN HAAS

F. IST EIN LIEBESFILM. PUNKT. — WARUM F. EST UN SALAUD KEIN SCHWEIZER SCHWULENFILM GEWORDEN IST

ESSAY

Kennen Sie einen Schweizer Schwulenfilm? Nein? Keine Angst, das ist nicht Ihr Problem, es gibt nämlich keinen. Vielleicht aber haben Sie spontan mit F. est un salaud geantwortet. Ich muss hier allerdings intervenieren: Nicht jeder Film mit zwei Männern, die sich lieben, ist ein schwuler Film. Auch dann nicht, wenn sie sich im Bett tummeln, sich küssen oder wild bumsen. Ein schwuler Regisseur macht auch keinen schwulen Film aus, was eigentlich einleuchtend ist. Nicht einmal die Kombination beider Kriterien ist eine hinreichende Be­dingung, und deshalb ist Marcel Gislers F. est un salaud (CH 1998) nicht not­wendigerweise einer. Er hätte einer werden können, hätte wirklich das Zeug dazu gehabt, ist es aber schliesslich nicht geworden. Gisler hat sich genauso graziös wie geschickt geweigert: «Es geht mir darum, im Kino eine intensive Geschichte zu erzählen. Wenn sich Schwule aufgrund von heterosexuellen Lovestorys die Augen ausheulen, was nicht selten vorkommt, so soll das Heteros umgekehrt in meinen Filmen auch passieren», kommentiert er seine Ab­sichten im Interview mit einer Schweizer Wochenzeitung. Und daraufhin lecken sich nun Beni und Fögi, die beiden Hauptcharaktere, gegenseitig die Brust­warzen - aus der ganzen Angelegenheit ist ein Liebesfilm geworden.

Trotzdem wird im Zusammenhang mit F. est un salaud die Homosexualität fortlaufend thematisiert - entgegen den Absichten des Regisseurs und vielleicht auch unseren eigenen. Denn wir werden heute von der Schablone der Monosexualität terrorisiert, wie der Sexualwissenschafter Gunter Schmidt in seinem Aufsatz. Gibt es Heterosexualität? ausführt. War es in den fünfziger Jahren of­fenbar noch möglich, in Thomas Manns Roman Tonio Kroger keine sexuellen Besonderheiten oder homosexuelle Entwicklungen zu finden, macht man heute nach wenigen Seiten eine schwule Kiste zwischen Tonio und Hans aus. Das heisst, die sexuelle Objektwahl wird zum zentralen Kern erklärt und Verhallen zwanghaft kategorisiert. Das tun wir als Rezipientlnnen. Genauso inszenieren es aber auch die Filmemacherinnen. Mit dem einzigen Unterschied, dass heute (fast) alle politisch korrekt kategorisieren, sogenannte Vorurteile brav vermei­den und in einem liberalen Gesellschaftsklima die Existenzberechtigung (fast) aller sexueller Identitäten predigen. Fin schwuler Film ist deshalb stets bemüht, Selbstverständnis herzustellen, wohingegen F. est un salaud - der sich nicht dazuzählt - sich dieses zu eigen macht.

Ein Argument, das erst richtig einsichtig wird, wenn wir die schwierige Beziehung einer Minderheit zum Bild, das von ihr entworfen wird, berücksich­tigen. Kennen Sie einen Schweizer Schwulenfilm? Eben, damit fängt's schon an. Denn wie Vito Russo in seinem Standardwerk The Celluloid Closet eindrück­lich erörterte, ist die Geschichte der Homosexuellen im Film viel eher dadurch gekennzeichnet, was nicht über sie gezeigt werden durfte, als was man effektiv auf der Leinwand sehen konnte. Und wenn man es letztlich doch zeigen musste - oder vielleicht gar wollte -, dann blieb es bei stereotyp kodierten Anspielun­gen. So findet eine Minderheit ihre Identität in der kulturellen Praxis des Verbergens und Andeutens, des Zeigens und Unterdrückens wieder. Ein grausames Spiel, das erst mit einer gewissen Demokratisierung des Filmschaffens und ge­sellschaftlicher Veränderungen nachhaltig durchbrochen werden konnte. Mit Demokratisierung ist der relativ einfache Zugang zu den technischen Mitteln gemeint, die das Filmemachen auch ausserhalb der grossen Produktionszentren ermöglicht; zum Beispiel in den subkulturcllen Kreisen um Kenneth Anger und Andy Warhol in den Vereinigten Staaten. Wie erlösend muss damals die Vorstellung gewesen sein, nun endlich das darstellen zu können, was zuvor jahrzehntelang unterdrückt worden war: endlich eigene Bilder entwerfen zu können.

Doch, um Himmels willen, was für Bilder wurden entworfen? Der eng­lische Kulturwissenschafter Richard Dver nennt die schönen Filmchen aus den siebziger Jahren - von denen die Schweiz ja bekanntlich keine vorweisen kann - «Affirmationsfilme». Auch wenn wir sie nicht kennen, können wir uns vor­stellen, worum es geht: Sie sind politische Bewegungsfilme und haben sich dem Programm verschrieben, die Homosexualität sichtbar zu machen und als etwas Positives darzustellen. «Gay is good» lautet ihr Motto – eine Analogie zu «black is beautiful», einem Slogan aus der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Daran wäre an und für sich nichts auszusetzen, hätten sie nicht der ihr folgenden Generation Filmemacher ein fast unheimliches Schema aufgesetzt: Dadurch,dass nämlich in unzähligen Dokumentarfilmen - und später auch in fiktionalen Filmen - der vermeintliche Prozess der Identitätsfindung durch das Goming-out als allgemeingültig festgehalten wurde, die Existenzberechtigung der Lesben und Schwule in der Friktion mit ihrer feindseligen Umwelt begründet und die Schwulen schliesslich mit Aids verschwägert wurden, hat die Kategorisie­rung einfach neue Vorzeichen bekommen. Sie ist korrekt geworden, trotzdem aber eine Kategorisierung geblieben. Die Theatralisicrung der Homosexualität schreitet weiter: Der durchaus wohlgemeinte, politisch korrekte und als fort­schrittlich deklarierte Output Hollywoods hängt letztlich dem Offenbarungs­gedanken der siebziger Jahre nach: Kommerzielle Klamotten, wie Philadelphia (1993), The Birdcage (1995) und In & Out (1997) sind im Kern simple Coming-out-Geschichten nach dem schon fast klassischen narrativen Muster: ver­stecken - bekennen - zur «wahren» Identität finden. Das ist, was man sich unter einem Schwulenfilm vorstellt: Er stellt Selbstverständnis her, bildet Iden­titäten, inszeniert «Lesben» und «Schwule», um schliesslich alles an sein Plätz­chen zu verweisen.

Marcel Gisler entzieht sich diesem Mechanismus konsequent. Er ist kein politisch korrekter Konstrukteur, viel eher ein rauher Romantiker. Und F. est un salaud ist trotz seiner dunklen Momente eigentlich eine unschuldige Romanze: Der jüngere Beni verliebt sich in Fögi, den Leadsänger einer Rockband. Seine Zuneigung, eine Mischung aus Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Be­wunderung, wird vom arroganten Fögi nur zögernd erwidert. Die Beziehung schlittert angesichts der devoten Haltung Benis und Fögis stärker werdenden Drogensucht in ein Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten und nimmt sado­masochistische Züge an. Fögi hält sich seinen Beni als Geldquelle, indem er ihn auf den Strich schickt. Beni übernimmt die Rolle des von seinem Herrchen ge­haltenen Hundes bis zur letzten Konsequenz. Während eines Aufenthalts an Frankreichs Mittelmeerküste bereitet der orientierungslose Fögi den gemein­samen Abgang vor - er kommt um, Beni überlebt.

Um seinem Wunsch nach einer ergreifenden Geschichte, nach der puren Liebcsgeschichtc gerecht zu werden, greift Gisler zu interessanten stilistischen Mitteln und plaziert seine Figuren in ein gesellschaftliches Vakuum. Bereits die Romanvorlage, Martin Franks ter fögi ische souhung, bietet dazu interessante Ansätze. Der 1979 verfasste Mundartroman fällt dadurch auf, dass die Ge­schichte trotz seines Schauplatzes Zürich in einem stilisierten, sich fast verselb­ständigenden Berndeutsch geschrieben wurde. Lokale Eigentümlichkeiten wer­den hier sprachlich vollständig unterwandert. Ahnliches geschieht in Gislers Filmfassung. Hier ist die Stadt Zürich physisch zwar noch erkenntlich - wenn auch nicht mehr so prominent wie in Franks Vorlage. Der Bellevue-Platz und das blaue Züri-Tram müssen als Orientierungshilfen ausreichen. Die franzö­sische Synchronisation verfremdet jedoch alle lokalen Bezüge. Gisler erklärt die Synchronisation mit dem Umstand, dass in der Schweiz, keine geeigneten Schauspieler für die beiden Hauptfiguren gefunden werden konnten. Die Rol­len wurden mit zwei Franzosen besetzt. Seine Entscheidung für die französi­sche Sprache reiht sich in seine angestrebte Absicht der Abstraktion ein. Naht­los. Der effektive Schauplatz wird damit unwichtig und das gesellschaftliche Umfeld als Reibungsfläche minimiert. Gisler kann sich ganz auf die Aspekte der Liebesgeschichte konzentrieren. Ähnliches hat übrigens auch Wong Kar Wai in seinem Liebesdrama Happy Together (Hongkong 1997) mit seinen bei­den männlichen Protagonisten unternommen, wenn auch etwas überspitzter und ironischer als Gisler: Die beiden Chinesen werden vom Regisseur ans an­dere Ende der Welt, von Hongkong nach Buenos Aires, versetzt. Völlig isoliert werden die beiden Charaktere in Happy Togetber auf ihr Hotelzimmer und letztlich sich selbst zurückgeworfen. In seinem letzten Film Die blaue Stunde (D 1992) erreichte Gisler Ähnliches durch eine räumliche Begrenzung auf seine Berliner Wohnung. In F. est un salaud steigert er die Isolation durch die zusätz­liche Einengung des Schauplatzes auf das gesellschaftliche Biotop Rockband. Schwule Charaktere erlangten in der Tradition des Affirmationsfilms ihre Iden­tität und Legitimation ausschliesslich durch die Kontrastierung und Auseinan­dersetzung mit der dominanten heterosexuellen Gesellschaft. Angesichts dieser fehlenden Umstände muss man sich die Frage erlauben, ob die Figuren Beni und Fögi überhaupt noch als «schwul» bezeichnet werden können, weil sich ihre Identität im eben beschriebenen gesellschaftlichen Vakuum aufzulösen droht.

Wen wundert's also, dass F. est un salaud das Coming-out als narrative Struktur völlig abhanden kommt. Den verlockenden Elementen Offenbarung, des Findens zur wahren Identität, auch Befreiung konnte Gisler offensichtlich widerstehen. Die im Foucaultschen Entwurf einer Geständnisgesellschaft sich wiederfindende typische Struktur des Coming-outs, das Entdecken des «An­dersseins», das Eingeständnis einer abweichenden Identität und schliesslich die Offenbarung gegenüber dem persönlichen Umfeld findet auch im Film ihr po­puläres Pendant. Im traditionellen Schwulenfilm wird der Ausspruch «Ich bin schwul» zum narrativen Tamtam (ein Klassiker von 1977 heisst auch entspre­chend The Word is Out [Mariposa Film Group, USA]), in F. est un salaud wird kein einziges Wort darüber verloren. Das hat Vorteile: Gisler findet plötzlich zwei sich liebende Männer vor, die er auf ganz andere Spiele fixieren kann. Und sie tun es auch, in einer Spirale gegenseitiger Abhängigkeit, in einem sadomaso­chistischen Verhältnis, im Drogenrausch und in der endlosen Sehnsucht nach Liebe. Nur wenigen Filmen mit Hauptcharakteren in einer homosexuellen Konstellation gelingt eine solche Transformation der Konfliktlinien. Wieland Specks Westler (D 1985) zum Beispiel gehört dazu, er konzentriert sich auf die grenzüberschreitende Liebe zwischen einem West- und Ostberliner. Ein paar Vertreter des «New QueerCinema», wie Gregg Araki und Todd Haynes, haben einen ähnlichen Anspruch und lassen sich bewusst nicht vom gegenwärtigen Diskurs terrorisieren. Sie verlagern ihr Interesse auf ganz, andere Inhalte.

Gisler widerstand in letzter Konsequenz auch einer Adaption der Ge­schichte in die neunziger Jahre. Dabei hätte sich - auf den ersten Blick - alles ganz einfach gestaltet: Statt eines Rocksängers wäre ein Techno-DJ in die Rolle des Rebellen geschlüpft. Beni wäre zu einem naiven Raver geworden, im kul­turellen Umfeld von Zürich hätten sich ja genügend Anreize finden lassen. Aber wie hätte sich eine solche Liebesbeziehung in Zeiten der Krankheit Aids gestaltet? Eine weitere Frage, der man sich heute nicht mehr entziehen kann, weil die Immunschwächekrankheit seit den frühen achtziger Jahren zu einem wesentlichen Identitätsmerkmal der Schwulen wurde. Wie tragisch dies die all­tägliche Realität auch gestaltet, Aids hat die Sichtbarkeit der Schwulen schlag-artig erhöht und sie zu einer noch plastischeren Menge gemacht. Kein Wunder fand der erste mit dem Academv Award ausgezeichnete Film mit einer homo­sexuellen Grundthematik, Philadelphia, über Aids den Zugang zu seinen schwulen Protagonisten. Dies demonstriert eindrücklich, wie Aids als Meta­pher Homosexualität, Krankheit und Tod aneinanderkettet. Zum Glück ent­zieht sich Gisler diesem Diskurs, indem er auf eine Zeitinsel flüchtet. Nur wenig erinnert in F. est un salaud an eine tatsächliche zeitliche Periode. Letzt­lich geht es Gisler nicht darum, die siebziger Jahre als Vor-Aids-Zeit zu ro­mantisieren, sondern darum, ein historisches Vakuum zu schaffen. Das Kammerspielartige, das einige Kritiker dem Film vorwarfen, gereicht ihm daher keineswegs zum Nachteil.

Ob dies nun Marcel Gislers Anspruch gerecht wird und ausreicht, ein heterosexuelles Publikum zum Weinen zu bringen? Wahrscheinlich kaum, denn zwei sich liebende Männer auf der Leinwand schreien nach wie vor nach einer Erklärung. Dies macht sich der schwule Film brav zur Hausaufgabe. F. est un salaud hingegen versucht, sich dieser raffiniert zu entziehen. Und jetzt? Jetzt hat die Schweiz noch immer keinen schwulen Film. Weinen müssen wir trotz­dem nicht, und wenn Sie das nächste Mal jemand fragt, ob Sie einen Schweizer Schwulenfilm kennen, antworten Sie getrost: «Zum Glück nicht!»

Literatur

Vito Russo, The Celluloid Closet: Homosexualityin the Movies, New York 1982.

Richard Dyer, Now You Seeit: Studies on Lesbian and Gay Film, London / New York 1990.

Gunter Schmidt, Sexuelle Verhältnisse. Über das Verschwinden der Sexualmoral, Reinbek bei Hamburg 1998.

Martin Frank, ter fögi ische souhung, Zürich 1998.

Jen Haas
geb. 1968, studierte Soziologie, Film- und Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich und arbeitet als freier Journalist in Zürich.
(Stand: 2018)
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