Für Binjamin Wilkomirski, der in den sogenannten Kinderblöcken der Vernichtungslager der Nazis aufwuchs und als einziges Kind seiner Familie den Holocaust überlebte, gab es allen Grund, seine Vergangenheit zu vergessen. Die zerstörte frühe Kindheit und Identität für immer in seinem Kopf zu begraben und über das Unaussprechliche zu schweigen, schien viele Jahre lang seine einzig mögliche Lebensstrategie zu sein. Eine Strategie der Verdrängung, die Binjamin nicht zuletzt durch die Aufforderung seiner Schweizer Pflegeeltern, die ihn 1947 aufnahmen, verinnerlichte: Er sollte fortan Bruno heissen und das neue bürgerliche Leben, in das er hineinwuchs, als «normaler» Schweizer bewältigen. Dazu gehörte später selbstverständlich, dass Bruno jung heiratete und bald Vater von drei Kindern wurde. Nach zwanzig Jahren als Familienvater kam jedoch der Punkt, an dem die Lebens- und Vergessensstrategie scheiterte. Er erkrankte schwer, die Ehe zerbrach - das Bewusstsein Binjamins trat fast gewaltsam wieder an die Oberfläche und forderte nun vehement das Erinnern an die Herkunft und ein Brechen des Schweigens. Ein ebenso schmerzhafter wie heilsamer Prozess wurde in Gang gesetzt.
In Esther van Messeis Porträtfilm erleben wir in erster Linie, wie Wilkomirski heute auf der Suche nach seiner Geschichte ist. Wir sehen, wie er alte Fotos aufs genauste betrachtet, oder wir hören, wie er Grundrisse von Vernichtungslagern akribisch rekonstruiert und diskutiert. So entsteht der Eindruck eines rastlos unzählige Daten, Bilder und vermeintlich unwichtige Details sammelnden Menschen, der damit bei sich selbst, mittlerweile aber auch bei anderen, die Löcher des Vergessens wieder zu stopfen versucht. Seine neue Lebensmaxime beschreibt am treffendsten ein Satz aus seinem 1995 veröffentlichten Buch Bruchstücke: «Wer sich nicht erinnert, woher er kommt, wird nie genau wissen, wohin er geht.» Bezeichnenderweise eröffnet und beschliesst die Regisseurin den Film mit Bildern, die Wilkomirski zeigen, wie er in Krakau mit einer kleinen Videohandkamera Hausecken und Gehsteige aufnimmt, an denen er als Kriegswaise gebettelt hat.
Zunehmend erschöpft sich fremd geboren allerdings in der Betrachtung von Wilkomirskis Aufarbeitungstätigkeiten. Obwohl van Messel verschiedentlich Gesprächssituationen mit Wilkomirski und auch mit anderen ihm nahestehenden Menschen in den Film einflicht, vermag sie die heutige Persönlichkeit, die sich hinter diesen Handlungen verbürgt, kaum liefergehend zu zeichnen. So ist fast nichts von dem, was in seinem Alltag nebenbei an Wichtigem und scheinbar Unwichtigem geschieht, zu sehen oder kaum etwas über seine Beziehung zu seiner jetzigen Lebensgefährtin zu erfahren. Gerade bei seiner eigenen Geschichtsrekonstruktion wird ja ersichtlich, dass auch die kleinsten Details und Hintergründe nie bedeutungslos sind.
Was dieser Dokumentation allerdings im nachhinein eine ungewollte Brisanz verleiht, ist die jüngst von Daniel Ganzfried in der Weltwoche in Frage gestellte Authentizität von Wilkomirskis Buch und damit der Erzählung seiner Lebensgeschichte. Dies würde tatsächlich bedeuten, dass der Film, der solche Zweifel in keinem Moment aufkommen lässt, ein authentisches Porträt basierend aul einer fiktiven Geschichte zeichnet. Leider entstehen so, seien die Vorwürfe berechtigt oder nicht, ausgerechnet bei einem derart heiklen Thema Widersprüchlichkeiten, die einer «heilsamen» historischen Aufarbeitung in jedem Fall abträglich sind.