RUEDI WIDMER

LISSABONNER REQUIEM (ALAIN TANNER)

SELECTION CINEMA

Lissabonner Requiem. Eine Halluzination, so heisst Antonio Tabucchis Roman, die Vorlage zum Film. Der Untertitel birgt die zentrale Herausforderung von Tanners zweitem Lissa­bonner Projekt nach Dans la ville blanche (1983). Das halluzinative Erleben des Protago­nisten Paul, der die spirituelle Nähe zu Fer­nando Pcssoa und die eigene Lissabonner Ver­gangenheit bis zur Körperlichkeit neu erfährt, ist das zentrale Piecc de resistance, wenn Ta­bucchis Stoff als Film greifen soll.

Fühlbar will Tanner die Aufgabe nicht durch grossen szenischen oder technischen Aufwand lösen, sondern über die Intimität der Stimmungen seiner Hauptperson im atmosphä­rischen Eluss der Stadt. Der Spaziergänger Paul besetzt die Szenerien der Gegenwart und der Erinnerung so ungebrochen (und weitgehend ungeschnitten), dass die Aufnahmesituation (Handkamera, Direktton) die fiktionale Handlung stets durchdringt. Aus dem direkten Wechselspiel zwischen Person und Drehort, so der dominierende Eindruck, sollen hier innere Landschaften heraus- und widerklingen, um schliesslich vor dem Auge des Protagonisten wie des Filmes zu erscheinen: als materialisierte Halluzination ohne den Zauberstab einschlägi­ger filmischer Effekte.

Ein Zeitraum von zwölf Stunden wird dafür gesetzt. An einem hochsommerlich heis-sen Mittag macht Paul am Hafen ein mysteriö­ses Rendezvous mit einer sich ihm unsichtbar nähernden Eigur, «Fernando Pessoa», aus. Von da an geht er in einer gedehnten, in grossen Blöcken lastenden Zeitlichkeit durch die Stras­sen und Gassen. Er trifft Menschen, Bewohner der physischen Lissabonner Gegenwart sowie eines kulturellen Erbes, einer kollektiven Ver­gangenheit, die auch Brücke zum literarischen Mythos Pessoa ist.

Auf derselben Bühne unmittelbarer Kör­perlichkeit erscheinen aber auch Tote. Es sind Menschen, die Paul einst nahestanden: sein Freund Pierre, der Vater, Isabelle, die seine und Pierres Geliebte war. Isabelle hat sich damals nach einer Abtreibung das Leben genommen. Paul und das «Phantom» Pierre nähern sich dem schmerzhaften Ereignis in Gesprächen. Es treibt Paul an die Orte des damaligen Zusam­menseins mit Isahelle, so in ein einsames Haus am Meer. Mitten in der Nacht schliesslich, nachdem sich die Dimensionen in Pauls Erleben immer mehr vermischt haben, erfolgt die unmögliche Begegnung mit dem grossen Gei­stesverwandten.

Pauls schwerer Spaziergang bietet viele Ein- und Übergänge zwischen dem Realen, Manifesten und der Transzendenz des zeitli­chen Jenseits, welches von den übrigen Haupt­personen und den Dialogen angezeigt wird. Aus seiner erwähnten ungebrochenen Präsenzin der realen Lissabonner Umgebung ergeben sich aber auch Irritationen: Viele minime Be­wegungen des Hauptdarstellers Francis Erappat und viele Dialogmomente lassen sich nurmit gutem Willen nahtlos als Teil des fiktionalen Zeitraums lesen. Sie schnüren den Film aufdem naturalistischen Sprungbrett fest, statt das physisch Gegebene zum Halluzinativen hin zu öffnen.

Ruedi Widmer
geb. 1959, ist freier Journalist in den Bereichen Film und elek­tronische Medien, studierte audiovisuelle Medien und Philosophie in Paris und Zürich.
(Stand: 2018)
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