VERA ANSÉN

PRÄDIKAT: EIN ECHTER EDGAR-WALLACE-KRIMI! — WIE AUS DER BENUTZUNG EINER ERFOLGSERPROBTEN VERKAUFSMARKE DIE POPULÄRE DEUTSCHE FILMSERIE IM WALLACE-STIL ENTSTAND

ESSAY

Glaubt man den Werbetreibenden, die Wallace-Erzählungen vermarkten, «ist es unmöglich, von Edgar Wallace nicht gefesselt zu sein!» Der Kritik für Die toten Augen von London (1961) vom konservativen Filmdienst können wir einen Niederschlag dieser Easzination entnehmen:

Die toten Augen von London - Ein Gruselkrimi um Versicherungsbetrug nach Edgar Wallace. [...] Wie Edgar Wallace es befiehlt, liegt nach milchiger Nebelnacht immer ein Toter in London herum. Ein junger Inspektor von Scotland Yard tüftelt heraus, dass die Toten allesamt steinreiche und hochversicherte Herren waren. Rasch schaltet er von «Unfall» auf «Mord» um. Ein Stückchen Papier mit Blinden­schrift bringt ihn und die behilfliche Blindcnpflegerin auf rätselhafte Spuren und gänsehautzüchtende Gefahren. Ein geheimnisvolles Blindenheim, ein fragwürdiges Versicherungsinstitut, ein gorillastarker Unmensch, Blinde, Bettler, leichte Mäd­chen und schwere Jungs sind die Stationen und Menschen des Schauerdramas, das den Inspektor wie den Zuschauer geschickt von Verdacht zu Verdacht gängelt und vor der erlösenden und entlarvenden typischen Wallace-Pointe alle Verdächtigen, Mitwisser und Hinweisspender über Nacht in blutige Leichen verwandelt.1

Trotz der Ironie, um die sich der Autor zu Anfang seiner Kritik bemüht, ver­fällt er in der fortführenden Beschreibung in Denkkategorien, die dem regel­haften Wallace-Plot zu eigen sind, ln dem oben beschriebenen Film gibt es überhaupt keine blutigen Leichen, da man sie allesamt aus dem Wasser zieht. Doch spielt diese Einzelheit kaum eine Rolle, da es sich hier um einen Film einer Serie handelt, wobei der vorherige sowie folgende «Wallace» garantiert mit blutigen Leichen aufwarten konnten.

Seit dem frühen Kino finden sich neben Einzelfilmen auch Beispiele erfolg­reicher serieller Produktionen fürs Kino. Obwohl Filmserien vom Publikum in der Regel sehr positiv nachgefragt wurden, spielten sie innerhalb der herkömm­lichen Filmgeschichtsschreibung kaum eine Rolle. Allein Filmproduzenten schätzten die Idee von planbaren Erfolgen, um von ihrer Tätigkeit als Haupt­beruf leben zu können. So blieb der berechenbare Erfolg von Filmserien, der einer seriellen Produktionsweise naheliegt, weitestgehend analytisch ungeklärt.

Seitens der Produzenten überwog das Interesse am Erfolg dem Vorbehalt gegenüber dem Seriellen. So ist die Verfilmung von Stoffen des englischen Autors Edgar Wallace nicht nur von dem geltungsbedürftigen Selfmademan selbst unternommen worden, sondern auch von anderen, genau kalkulieren­den, kleineren Produktionsfirmen, ln den Dreissigern genügte Wallace’ Name, der auf seine populären Erzählungen verwies, um einem Produkt die notwen­dige Marktakzeptanz einzuräumen. In Deutschland wurde zwischen 1959 und 1972 eine Serie von Kriminalfilmen unter der Werbemarke «Edgar Wallace» konzipiert, die in der Zeit der niedergehenden Filmwirtschaft2 an den Kino­kassen einen soliden Gewinn einspielten. Ein Aspekt dieses Erfolges war, dass die Filme mit einem wenig anspruchsvollen Budget umzusetzen waren und da­bei eine grosse Gruppe von Adressaten ansprachen. Die Auswertung der Filme während der fortschreitenden Produktion, die ausserhalb Deutschlands sowie im deutschen öffentlichen Fernsehen vorgenommen wurde, steigerte in gleicher Weise Bekanntheitsgrad und Nachfrage. Die Popularität vieler Filme dieser Serie reicht bis in unsere heutige Fernsehwelt hinein. Die zeitenthobene Rezep­tion dieser Filme macht auf ein Gestaltungskonzept aufmerksam, dessen Erfolg beliebig wiederholbar scheint.

Dem kriminalistischen Subgenre «Edgar Wallace» lassen sich mindestens 36 Edgar-Wallace-Filme, 9 Bryan-Edgar-Wallace-Filme und weitere 7 Filme nach anderen Autoren zuordnen. Die Breite dieses Genres in den Sechzigern ist uns heute kaum mehr bewusst. Durch die Wiederaufführung im Fernsehen kam es zu einem differenzierten Genreverständnis. In der Spielzeit 1973/74 zeigte das ZDF ein knappes Dutzend «reine» Edgar-Wallace-Filme als Serie im zwei­wöchigen Abstand. Das häufig anzutreffende Phänomen, dass die redaktionell beeinflusste Wiederaufführung im Fernsehen nachträglich die Filmgeschichte zu beeinflussen scheint, ist nur schwerlich zu ignorieren. Auch die vom Fern­sehen vorgenommenen, zahlreichen Schnitte, die zum Teil damaligen Vorstel­lungen von Jugendschutz entsprachen, aber auch schlicht Zeitersparnis be­deuten sollten, beeinflussen unseren heutigen Eindruck von den Filmen, da Kinoversionen kaum mehr zur Aufführung gelangen. Die für die FernsehausStrahlung um nicht unwesentliche Pointen verkürzten Filme erfahren somit eine weiterführende Vereinheitlichung und Entdifferenzierung, die die originär möglichen Lesarten beschneiden.3

Jedoch ist bei der Etikettierung «Edgar Wallace» Vorsicht geboten. Nicht überall, wo Edgar Wallace draufsteht, ist auch Edgar Wallace drin, und fahrläs­sig wäre es zu meinen, eine Louis-Weinert-Wilton-Verfilmung4 hätte nichts mit der Edgar-Wallace-Serie zu schaffen. Gerade im Hinblick auf die Mechanismen, die sowohl den zeitgenössischen als auch den zeitenthobenen Erfolg dieser Filme ausmachen, gilt es vielerlei Aspekte zu beachten. Was hat es nun mit dem Originalitätsanspruch auf sich: ein echter Edgar Wallace? Wer begann 1959 die Produktion von Edgar-Wallace-Filmen? Wie erlangten die Filme den Ruf, einer Serie anzugehören? Welche Kriterien bestimmen über eine Zugehörigkeit zu der Serie? Und was hat die Serie so erfolgreich werden lassen?

Aspekte wie Werbestrategien, zum Beispiel die einheitliche Vermarktung durch den Verleih, der wiederholte Einsatz von kreativen inszenatorischen Teams und Schauspielerensembles, genauso wie das Vorkommen spezieller Handlungselemente und die Dramaturgie gilt es dabei zu berücksichtigen.

Bei allem, was sich über Edgar-Wallace-Filme schreiben lässt, ist es zweckmässig, einen kleinen Exkurs über Wallace selbst voranzustellen. Denn der Erfolg aller Produkte mit dem Namen des britischen Autors, der von 1875 bis 1932 lebte, liegt zum grössten Teil an seiner ihm eigenen Begabung. Wallace verstand es, in kürzester Zeit dichte Szenarien zu entwickeln, in denen er leicht nach­vollziehbare Auseinandersetzungen zwischen Gut und Böse platzierte. Er be­diente als Autor sämtliche Medien seiner Zeit, wobei allein die Absatzfähigkeit seiner Produkte für ihn massgebendes Qualitätskriterium zu sein schien. Wal­lace formulierte einfach, prägnant und in grosser Menge, was für die massen­hafte Verbreitung geeignet schien, vor allem Kriminalerzählungen.5 Er starb mit 57 Jahren in Hollywood, wo man ihn Filmszenarien entwerfen liess.6 Edgar Wallace lässt sich nicht einfach auf Grund seiner für damalige Verhältnisse im­ponierenden Produktivität zu einem begnadeten Schriftsteller erklären; denn darunter würde man damals wie heute etwas anderes verstehen wollen. Zwar war es ihm vergönnt, sich zu Eebzeiten am finanziellen Gewinn seiner Arbeit zu erfreuen, jedoch war Wallace kein erfolgreicher Geschäftsmann. Er arbeitete meist aus finanzieller Bedrängnis, da seine Ausgaben seine Einnahmen stets übertrafen. Die Schriftstellerei diente ihm als Erwerbstätigkeit, die nicht zu viel Arbeit bedeutete. Insofern war Wallace ein erfolgreicher Spieler, der es verstand, sich seiner Fantasie zu bedienen und Figurenspiele zu entwerfen, in die sich Tausende von Rezipienten rasch eindenken konnten.

Unter den Ärmsten in London aufgewachsen, lernte er im Laufe seines Le­bens die Abstufungen sozialer Klassen aus eigener Anschauung kennen. Seine Aufenthalte in den britischen Kolonien gestatteten ihm einen Blick von aussen auf die Londoner Gesellschaft. Seine Erzählungen belebte er mit Figuren, die auch im britischen Ausland heimisch waren. In seinen Kriminalerzählungen beschreibt Wallace selten ein reales London. Zwar gibt es Beschreibungen der nebelumwogten Themse, des Hafens, des Scotland Yard und anderer Wahr­zeichen Londons, doch erschaffen diese die Handlung situierenden Elemente kaum eine realistische Nähe, wie sie Kriminalerzählungen gemeinhin anhaftet. Verfremdend wirkt sich zudem die soziale Dichte aus, die Wallace als Intention des Bösewichts ausweist und mit der er seine Handlungen zwischen dekadent gewordenen Feudalen und demokratisch aufstrebenden Bürgern konstruiert. Vereinfachend lässt sich resümieren: Zwischen Anwälten, Adligen und Ärzten bewegen sich die gewöhnlichen Schurken um Waisenmädchen und verliebte Ermittler, die allesamt Gefahr laufen, einem nicht selten maskierten Serientäter zum Opfer zu fallen. Dies wären einige der Zutaten zum «märchenhaften» Krimi im Wallace-Stil.7

Zum einen entwickelt Wallace innerhalb seiner «popular literature» eine übersichtliche Gesellschaft und steht dabei noch ganz in der Erzähltradition des 19. Jahrhunderts. Im von Wallace beschriebenen Handlungsraum «Lon­don» institutionalisiert er die Jagd zwischen dem moralisch höher stehenden Ermittler nach dem aussergewöhnlichen Verbrecher. Die Londoner Ermitt­lungsbehörde Scotland Yard stellt dabei den Dreh- und Angelpunkt der Investigation dar,8 auch wenn es sich um einen privaten Ermittler handeln sollte. Die normalen Verbrecher dienen der bedrohlichen Figur allenfalls als Handlanger und sind der tüchtigen Polizei altbekannt.

Zum anderen überformt er diese Gesellschaft durch die festgeschriebene Wandlung der Figuren nach mythologisch anmutenden Regeln. Georg Seesslen schreibt 1973 im Lexikon der Unterhaltungsindustrie, dass «Wallace’ Romane mehr Abenteuer- als Detektivgeschichten [seien], [...] Mysterienspiele mit ge­nau festgelegtcn Rollen und einer kaum sich verändernden Ikonographie.»9 Tatsächlich gibt es biografische Hinweise, dass Wallace die Logik einer Erzäh­lung weniger wichtig erschien als das Atmosphärische. Er überarbeitete so gut wie nie seine einmal fertig diktierten Geschichten.10 Ihre Steigerung oder Neupointierung war für ihn Aufgabe der nächsten, aber niemals der aktuellen Er­zählung. Damit schaffte der Autor sich eine Matrix, die er beliebig häufig nach gleichbleibenden Regeln durchspielen konnte. Erwart in seinem Wallace-Kosmos11 ein Spiel auf, dem seine Leserschaft mühelos folgen konnte: Böse gegen Gut, sodass der Held die Ordnung wiederherstellen muss. Nach Seesslen lässt sich Folgendes skizzieren: Siehe Abb. 2.

Von Seiten der Kriminalliteraturforschung wird mit Wallace ein Rückfall des Genres beanstandet: «Der Kriminalroman nach Wallace [ist] nicht mehr das [...], was er als popularisierte Form wissenschaftlichen Rationalismus einmal werden sollte.»12 Bei Wallace, der es versteht, seine Leser in Grauen und Span­nung zu versetzen, sei «das deduktive Denkvergnügen ins Schauermärchen zurückgefallen». Nicht nur, dass Wallace seine Erzählungen mit Elementen aus dem Repertoire der «gothic novel» atmosphärisch aufheizt, erregt den Un­willen der literaturwissenschaftlich gebildeten Kritiker. Als Abkehr von den Errungenschaften des 20. Jahrhunderts verurteilen sie vor allem, dass sich der begabte Mensch zur Bedrohung der demokratischen Grundordnung aus­wächst, während der Wallace-Ermittler als ihr Retter bloss über eine einfache Natur und Durchschnittlichkeit verfügt: «Kompliziertheit ist im Wallace-Kos- mos a priori sündig.»13 Er splittet die Erzählebenen so zwischen den Figuren auf, dass der Bösewicht lange Zeit allein über den grössten Wissensstand ver­fügt. Seine kriminellen Angriffe auf die öffentliche Ordnung bestimmen die gesamte Dramaturgie. Häufig sind die ausserordentlichen Verbrecher Serien­täter, deren nächste Tat der Ermittler vergeblich zu unterbinden versucht. Die Ausdehnung der Bedrohung auf das Mädchen, das der Ermittler verehrt, leitet die rasche Überwältigung des Bösewichts ein. So führt uns Wallace in einen kollektiv erlebten Terror, bei dem der Einsatz des Ermittlers von Aufklärungs­schrift zu Aufklärungsschritt der Überrundung des Bösewichts durch einen Wissensvorsprung gilt. Der Sieg des Ermittlers ist ein nahezu demokratischer Akt, den er mit Unterstützung von Scotland Yard und anderen Sympathisie­renden erlangt. Edgar Wallace’ Kriminalerzählungen sind auf Grund ihrer dramaturgischen Regelhaftigkeit und ihrer Entstehungszeit im gesellschaft­lichen Umbruch Grossbritanniens zu Beginn dieses Jahrhunderts unfreiwillig politisch. Die etablierte Gesellschaft, die das Verbrechen zuliess (hier auch zu nennen der adlige Vorgesetzte von Seotland Yard), wird von einer jungen Gesellschaft erneuert, die das Verbrechen nicht mehr zulässt (der Ermittler, das Mädchen und die Helfershelfer).14 Der mit bodenständigen Qualitäten aus­gestattete Ermittler wird zum autorisierten 1 iandlungsbevollmächtigten, um uns als Teilgewordene des Wallace-Kosmos vom Zugriff des Bösen zu befreien und mit der Gewissheit zu versehen: Alles wird gut!

Das Sich-Einfindcn des Publikums in die Wallace-Geschichten wird von den meisten Kritikern häufig «niederen Instinkten» und rein eskapistischen Sehnsüchten zugeschrieben. Damit verschliessen sie sich der Anerkennung der spezifischen Eeistung von Wallace. Durch die hohe Verbreitung seiner gleich­förmigen Kriminalerzählungen mit Hilfe aller ihm zur Verfügung stehenden Distributionsorganen erschuf er einen fiktiven Raum, der von seinen Rezipien­ten und Nachahmern als Wallace-Kosmos identifiziert werden konnte. Die Kundigen wissen, dass in diesem Spielraum spezielle, nicht alltägliche Figuren aus den Gruppen «Gut» und «Böse» regelhaft in Konflikte miteinander treten. Wallace’ persönliche Begabung war es, Szenarien zu entwickeln, die so tragfähig für die Rezipienten sind, dass diese in die Lage versetzt werden, Geschichten selbstständig fortzuschreiben. Die Möglichkeit, den Handlungsverlauf zu überschauen und vorauszusehen, intensiviert den Erlebnischarakter. Die Rezi­pienten begleiten eine Geschichte mit der Kenntnis der Spielregeln, die ihrer bisherigen Aneignung des Wallace-Kosmos entspricht. Die Auskostung der Grenzen wird anerkannt, insofern dies der Spannung dienlich ist. Werden die Regeln missachtet oder verletzt, stellt sich Enttäuschung ein, und Einzelheiten des Formates lassen es wieder stärker als Machwerk erkennbar werden.15 «Das Spiel hat sein Ziel in sich selbst. Deshalb ist es auf ständige Selbstwiederholung angelegt», führt Scheuerl unter fünf weiteren Merkmalen des Spiels aus.16 Die Aneignung des Wallace-Kosmos durch Autoren, Filmemacher und Rezipien­ten verweist in Art und Weise auf Qualitäten, die ebenso dem Spiel an sich zu eigen sind.

Diese Ebene des offenen Spiels, das die Rezeption begleitet und überdauert, bleibt zumeist unberücksichtigt. Der Zusammenhang zwischen altersunabhän­gigem Spielverhalten und einer Spielfilmserie hat unmittelbar mit der Planbar­keit von Erfolg zu tun. Denn ein Kriterium für den Erfolg einer Produktion ist auch ihre Wiederholbarkeit.17 Anders als ein situativ herstellbares Erlebnis, dessen termingebundene Nachfrage absehbar ist und darüber hinaus keine wei­tere Nachfrage produziert, besteht für die Rezeption durch die Wiederholbar­keit die Gewährleistung, dass ein dem Format immanenter Erlebnischarakter hergestellt wird, der zum anhaltenden Erfolg (Mehrfachauswertung) führt. Dies gilt für Filme, die über ein sehr dichtes oder kulturell bereits vorbereitetes Szenario verfügen. Häufige Remakes derselben Stoffe oder unerwartete Fort­setzungen sind die Reaktion von Produzenten, die ein Szenario als besonders tragfähig erkannt haben.18

Innerhalb der modernen, affektmodulierten Gesellschaft mit ihrer Er­werbsorientierung werden Erwachsenen zunehmend die Möglichkeiten zur zweckfreien Kommunikation sowie zum Erhalt des intermediären Bereiches genommen. Dieser Bereich dient jedoch nach Winnicott «als Zwischenbereich zwischen der inneren, subjektiven Denk- und Gefühlswelt und den Strukturen der äusseren Wirklichkeit, [um] subjektive und objektive Momente flexibel mit­einander zu verbinden.»19 Die Exploration neuer Räume sowie die Erschlies­sung eines vom Erwerbsleben zu unterscheidenden Handlungsrahmens im Spiel bedeuten mehr, als eskapistischen Sehnsüchten nachzugeben. Funktional besehen, handelt es sich um einen ungebundenen Kompetenzerwerb, bezogen auf eine mögliche Wirklichkeit, die zwar innerhalb individueller Curricula keine Rolle spielt, aber zum menschlichen Zusammenleben gehört. Die Aufforde­rung, das hinterhältige Böse aus der gesellschaftlichen Ordnung zu eliminieren, ist ein von Wallace stets bemühter Handlungsauftakt, in den sich das Publikum mühelos einfinden kann. Die von Verbrechen begleitete Wirklichkeit verliert ihre Unberechenbarkeit im regelgeleiteten Wallace-Kosmos. Der einfache Er­mittler lernt in nachvollziehbaren Schritten, sich der Intention des Bösewichts zu entziehen und seinem gefährlichen Treiben ein Ende zu setzen. Die Popula­rität der Edgar-Wallace-Erzählungen lässt sich somit auch inhaltlich und nicht bloss werbetechnisch analysieren. Zweifellos gehört zu einer langjährig erfolg­reichen Filmserie mehr als nur eine populäre Vorlage.

Ende der Fünfzigerjahre nehmen sich zwei eher mittelständische Produktions­firmen - Preben Philipsen und Kurt Ulrich - der Verfilmung beliebter Wallace- Romane an, die vom Goldmann-Verlag bereits seit 1922 als Taschenbücher ver­trieben werden. Philipsen fusioniert mit Rialto und findet in Constantin-Film einen mächtigen Partner. Constantin bildet mit Goldmann einen Medienver­bund in Sachen Edgar Wallace, und beide werben fortan zusammen.20 Rialto- Preben-Philipsen produziert Der Frosch mit der Maske (lysy) und Der rote Kreis (1960). Kurt Ulrich realisiert Der Rächer (1960), dessen Rechte er schon lange besass. Alle drei Filme sind ähnlich erfolgreich gelaufen, und die Rialto, welche die Zugkraft des Namens Edgar Wallace erkannte, sicherte sich die Ex­klusivrechte an allen weiteren Wallace-Stoffen für Deutschland. Als weitere Produktionsfirmen Wallace-Stoffe mit Hilfe des Constantin-Verleihs heraus­bringen, besteht die Rialto auf ihrem Exklusivanspruch.21 Doch die Aneignung von Wallace’ Plotstrukturen blieb nicht seiner Leserschaft Vorbehalten, auch andere Autoren hatten sich des Wallace-Kosmos bemächtigt, sodass es den interessierten Filmemachern nicht schwerfiel, auf Goldmann-Taschenromane von Bryan Edgar Wallace, Louis Weinert-Wilton oder Victor Gunn zurück­zugreifen. «Wer Edgar Wallace liebt, wird auch von Weinert-Wilton begeistert sein!»22 Das geneigte Publikum war begeistert. Nicht etwa, weil ihre Lieb- hngsromane verfilmt wurden, sondern weil den Filmemachern eine Trans­formation des Wallace-Kosmos gelungen war. Das Rezeptionserlebnis eines Romans fand sein Äquivalent in der filmischen Umsetzung. Sorgfältig besetzte Filme bedienten sich kontextverwandter Erfolge der damaligen Medienland­schaft. So wurde der Wallacc-Ermittler bereits frühzeitig mit Joachim Fuchs­berger besetzt, der durch die Trilogie 08/05 (Paul May, D 1954/55) vom Kino­publikum bereits als «unaufdringlicher Pragmatiker in allen Lebenslagen»23 geschätzt wurde. Bis in die Nebenrollen verpflichtete man bekannte Schau­spieler, die zur atmosphärischen Dichte der Erzählung beitrugen. Durch die Einflechtung komischer Figuren als Helfershelfer boten die Filme frühzeitig auch ironische Lesarten. Der Ikonografie von Wallace folgend, wurden die Figuren mit physiognomisch eindrucksvollen Typen besetzt, deren Mimik alles andere als unverdächtig war. Stilsicher geworden, verzichteten die Filme­macher zunehmend auf vorlagengetreue Drehbücher und bedienten sich nur noch per Anleihe der originalen Romantitel und Plotideen.24 Die von unter­schiedlichen Teams gestalteten Filme erlangten ihre jeweilige Authentizität durch filmische Gestaltungsmittel wie Licht- und Schattenführung, Bauten und Requisiten. Neben dem einheitlichen Vertrieb des Verleihs finden sich bei diesen Filmen im Wallace-Stil gleich bleibende kaufmännische und gestalte­rische Produktionsteams sowie der Einsatz von Schauspielerensembles. Das Publikum bekam die vertrauten Darsteller in neuen Rollen zu sehen. Inhaltlich lässt sich der Einzelerfolg der Filme mit den dargestellten Handlungselementen in Bezug setzen. Filme, in denen Familienzwist und Erbschaft, maskierte Verbrecher und Entführungen sowie unterirdische Bereiche, Schlösser und Butler vorkamen, wurden populärer als Filme mit einer Mordseric, einem pathologi­schen Mörder, einer Erpressung oder einem verdeckten Ermittler. Mit dieser Aufzählung sind nur einige der extrahierbaren Handlungselemente erwähnt. Die Filme, die hauptsächlich in Berlin und Hamburg produziert wurden, lies­sen das neblige London, seine geheimen Winkel und beeindruckenden Schlös­ser für eineinhalb Stunden Wirklichkeit werden. Obwohl nur wenige Bilder von London, Big-Ben-Klänge und Ähnliches die Aufnahmen deutscher Häfen und Schlösser unterbrechen, empfand das Publikum den gezeigten Wallace- Kosmos schön und aufregend. Vertraut geglaubte Räume wurden aufgeheizt durch ungeahnte Gefahren und versteckte Geheimgänge. Ungeahnt? Weit ge­fehlt. Untersuchen wir die Misserfolge der Serie, so stossen wir auf unverzeih­liche Fehlleistungen der Filmemacher. Das geneigte Publikum liess sich nicht für dumm verkaufen, wenn seither mit dem Prädikat «ein echter Edgar-Wallace-Krimi» geworben wurde. Variationen im Genre wurden durchaus wahr­genommen und bewertet. Das Publikum der Edgar-Wallace-Serie teilt sich Ende der Sechziger. Der überwiegende Teil des verbleibenden Kinopublikums ist die Jugend, welche die schrillen Farbfilme im Kino sieht, während die Älte­ren im Familienverbund die alten Klassiker der Serie in der Wiederaufführung im Fernsehen konsumieren. Die Auslagerung der Drehorte der Wallace-Filme nach Südeuropa (vor allem Italien) sabotiert jede Zuordnung zur ursprüng­lichen Kinoserie. Formale und inhaltliche Aspekte werden so weit vom Muster variiert, dass die Intention, die zur Investition in diese Filme führte, hinterfragt werden müsste. Das variationsfähige Erfolgsrezept der Edgar-Wallace-Filme kann den Machern nicht bewusst gewesen sein, betrachtet man die letzten Ver­suche der Rialto, mit dem Verkaufsargument «Edgar Wallace» Filmproduktio­nen populär machen zu wollen.25

Die populären Filme im Wallace-Stil zeichnen sich durch handwerkliche Routine, ausgewogene Besetzung und schauspielerisches Engagement bis zu den Nebenrollen aus, wobei die Erzählstrategien von Wallace erfolgreich ins Filmische transformiert wurden. Mit dieser ernsthaften Ausgestaltung des mär­chenhaften Krimi-Kontextes waren sowohl Zuschauer zu begeistern, die sich den Wallace-Kosmos bereits über andere Medien angeeignet hatten, als auch neue Rezipienten, denen sieh durch die Filme die Idee eines Spielraumes à la Wallace auftat. Der Erfolg von Filmen entsteht nicht im luftleeren Raum. Mit einer Kontextualisierung Gewinn bringender Filme lassen sich Muster identi­fizieren, die unter intelligenter Variation der Variablen unendlich wiederholbar erscheinen. Es ist wahrscheinlich nicht unmöglich, von Edgar Wallace nicht ge­fesselt zu sein! Wer sich aber der Faszinationsgabe von Edgar Wallace anzu­nehmen weiss, vermag seinerseits ein Millionenpublikum zu fesseln.

1 Mmdienst 16 (1961), S. 154.

Die Nachkriegsfilmwirtschaft erlebte ih­ren Höhepunkt in den Jahren 1955 bis 1957, da­nach stagnierten die Besucherzahlen, und viele Produktionsfinnen sahen ihre Existenz lang­fristig bedroht.

Vgl. Brandts Beschreibung der Neu- kontextualisierung von Serienformaten, in: Ul­rich Brandt, Krimistandards, Heidelberg 1995, S. 454 ff.

Hier handelt es sich um den deutschspra­chigen Autor Alois Weinert, der seine im Wal- lace-Stil angelegten Kriminalerzählungen aus­lagerte und den anglisierten Namen Louis Weinert-Wilton wählte.

An die 1000 Kriminalerzählungcn, 173 Kriminalromane und 17 Theaterstücke sind neben seiner Zeitungsarbeit entstanden. Vgl. Georg Seesslen, «Im Fegefeuer von law and or­der», in: Die Horen, Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 172 (1993), S. 23.

Credits erhielt er u.a. für das Drehbuch von King Kong (USA 1933).

Die Transparenz und Regelhaftigkeit, nach der Edgar Wallace seine Erzählungen kon­figurierte, erleichterte nicht nur der Leserschaft deren Aneignung. Autoren wie zum Beispiel die direkten Nachfahren Bryan und Penelope übernahmen seinen erfolgreichen Stil.

Vgl. Hans Bütow, «Scotland Yard», in: Merian 9: London (1957), S. 68 ff.

Georg Seesslen / Bernt Kling (Hgg.), «Ro­mantik und Gewalt»: Ein Lexikon der Unter- haltungsindustne, Bd. 1, München 1973, S. 323.

David Glover, «Looking for Edgar Wal­lace», in: History Workshop Journal yj (1994), S. 159.

Der Begriff «Wallace-Kosmos» wird von Seesslen (wie Anm. 5) erstmals angeführt.

Georg Seesslen (wie Anm. 5), S. 29.

Seesslen / Kling (wie Anm. 9), S. 324.

Mit den von Kompetenzstreitigkeiten ge­prägten Dialogen zwischen dem Ermittler und seinem adligen Vorgesetzten allein hat uns Wal­lace ein modern bleibendes Dialogwerk hinter­lassen, dessen Analyse noch aussteht.

Als «Spielverderber» darf der Film Das siebte Opfer (D 1964) gelten. Als gut ausgear­beiteter Bryan-Edgar-Wallacc-Film hat dieser die Sympathie des geneigten Publikums mit dem Ende verspielt, wo Trude Herr aus Jux von ihrem Angebeteten erschossen wird, weil das siebte Opfer noch fehlte! Dieser Scherz brachte den Produzenten bemerkenswerte Tiefstbesu- cherzahlen.

Hans Scheuerl, «Zur Begriffsbestimmung von Spiel und Spielen», in: Hermann Rohrs (Hg.), Das Spiel - ein Urphänomen, Wiesbaden 1981.

«Ertolg muss ein Produkt bestätigen, an­sonsten lässt sich auch nur schlecht von Qua­lität sprechen. Fünf Aspekte ziehe ich zur Bewertung einer Produktion heran: Quote, veröffentlichte Kritiken, Wirtschaftlichkeit, brancheninterne Kritik und Wiederholungs­fähigkeit.» Statement von Dr. Matthias Esche, freier Produzent beim ndf, Köln (Diskussions­runde «Qualitätsfernsehen», 14.6.1999, Me­dienforum NRW).

Vgl. die Entstehung der Indiana-Jones­Trilogie (1981/84/89) oder Lethal Weapon (1987/89/92/98).

Vgl. auch Donald W.Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart81995.

Die Filmplakate bilden den jeweiligen Ta­schenbucheinband in Originalgrösse ab. Ver­weise von Buch auf Film und umgekehrt wer­den in die Werbung mit eingebaut.

Horst Wendtland zu den Rechtestreitig­keiten: «Es gibt heute viel bessere Krimi-Auto ren als Edgar Wallace. In England ist er ganz uninteressant. Deshalb war es auch nicht schwer, die Rechte zu bekommen.» In: Der Spiegel 39 (1964), 139.

Dieser Werbeslogan steht auf dem von Constantin-Film gestalteten Werbeplakat zu Die weine Spinne (1963) an derselben Stelle, wo sonst der Slogan «Es ist unmöglich, von Edgar Wallace nicht gefesselt zu sein!» platziert wurde. Dies gilt ebenso für Der Teppich des Grauens (1962).

23 Reclams deutsches Filmlexikon, Eintrag zu J. Fuchsberger, Stuttgart 1984, S. 107. Fuchsberger spielte fünfzehnmal den Ermittler. Der distanzierter wirkende Heinz Drache spielte achtmal den Ermittler und wechselte, wie es bei der Serie üblich war, in seinem letzten Wallace das Rollenfach zum Bösewicht.

Die Abbildung des Goldmann-Buchein­bandes des originären Edgar-Wallace-Romans auf dem Filmplakat wich dem Werbeslogan: «Es ist unmöglich, von Edgar Wallace nicht ge­fesselt zu sein!», der fortan in einem identisch grossen Feld an gleicher Stelle rot unterlegt positioniert wurde.

Neben dem kläglichen Ende der Serie gab es 1996 Bemühungen, in Zusammenarbeit mit RTL eine Fernsehserie nach Edgar Wallace zu konzipieren. Bei ansehnlichen Einschaltquo­ten, die das Interesse am Wallace-Kosmos bele­gen, wurden sich die Rezipienten schnell einig, dass die Handlungskonfiguration mitnichten berücksichtigt worden war. Fünf weitere 90- Minüter aus dem Produktionsjahr 1998 will RTL erst gar nicht zur Aussendung bringen.

Vera Ansén
geb. 1972, studierte nach der Ausbildung zur Medienkauffrau in Köln Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft und arbeitet derzeit an ihrer Dissertation.
(Stand: 2018)
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