MARTIN STINGELIN

REFLEXION DER SCHAULUST UND SCHAULUST DER REFLEXION — ZUM HISTORISCHEN SPANNUNGSVERHÄLTNIS ZWISCHEN PSYCHOANALYSE UND FILM AM BEISPIEL VON PEEPING TOM

ESSAY

Das historische Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Film gehorcht der Ambivalenz gegenseitiger Faszination und Skepsis, das heisst, jeder sieht sich im Anderen mit jener Dialektik von jubilatorischer Selbstverkennung und be­fremdlicher Selbsterkenntnis, wie sic nach Jacques Lacan für das so genannte «Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion»1 charakteristisch ist. Der Refle­xion der Schaulust als Grundtrieb in der Psychoanalyse steht die Schaulust der Reflexion als Triebgrund im Film gegenüber.

Tatsächlich sind die Psychoanalyse und der Film einer Zwillingsgeburt ent­sprungen. 1895, im selben Jahr, in dem Sigmund Freud in seinem an Wilhelm Fliess gerichteten «Entwurf einer Psychologie» die Grundbegriffe zur reiz- und triebökonomischen, dynamischen und topischen Beschreibung des psy­chischen Apparates entwickelte, und wenige Monate nachdem sich dem Seelen­forscher durch den «Traum von Irmas Injektion» das Geheimnis des Traumes enthüllte hatte und die Psychoanalyse durch die Publikation der gemeinsam mit Josef Breuer verfassten Studien zur Hysterie zum ersten Mal ins Bewusst­sein der Öffentlichkeit getreten war, fand im Keller des «Grand Café» auf dem Pariser Boulevard des Capucines die erste öffentliche Filmvorführung der Brü­der Auguste und Louis Lumière statt. Seither ringen die Geschwister Psycho­analyse und Film miteinander um die Darstellung des Unbewussten, das heisst um die Frage: Wie gibt sich das Unbewusste zu erkennen? Durch das Sprechen hat die Psychoanalyse es ans Licht gebracht und in Form von Fehlleistungen wie Versprechen, Verlesen und Verschreiben augenfällig gemacht, aber ist es deshalb schon sichtbar? Kann es technisch aufgezeichnet und dadurch der For­schung und dem allgemeinen Publikum zugänglich gemacht werden? Was ans Licht drängt, drängt seit der Jahrhundertwende ins Kino; die Psychoanalyse sah sich deshalb durch den Film herausgefordert, ihre Position im Spannungs­feld zwischen Sichtbarkeit und Sagbarkeit genauer zu bestimmen, wollte sie diese Position behaupten.

Dabei steht auf der Seite der Psychoanalyse einerseits die Faszination durch den Pilm. Unter den ersten Verfechtern der psychoanalytischen Sache gab es leidenschaftliche Kinogänger wie Sändor Ferenczi, der 1909 in New York bei einem gemeinsamen Kinobesuch mit Brill und Freud bei einer «jener primiti­ven Filme voll wilder Verfolgungen wie sie damals im Anfang der Kine­matographie üblich waren», «in seiner jungenhaften Art ganz in Aufregung» geriet, wie ihr Begleiter Ernest Jones in seiner grossen Freud-Biografie berich­tet: «Freud jedoch schaute nur stillvergnügt zu.»2.ou Andreas-Salomé hielt in ihrem Tagebuch des Jahres 1912/13 fest, dass das Kino für die Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung «keine kleine Rolle» spiele, und erwog als Umkehrung dieses Einflusses, ob nicht die «Rücksicht auf unsere seelische Konstitution die Zukunft des Filmtheaters bedeuten könnte»3. Diese Leiden­schaft war durchaus eine Leidenschaft der psychoanalytischen Erkenntnis und ihrer Visualisierung im Medium des filmischen Bildes. Es gab sehr weit gehende Versuche, im Film sogar den psychischen Apparat als solchen zu vergegen­ständlichen, sichtbar zu machen und zu veranschaulichen, doch diese Versuche legten eher die Frage nach der mediengeschichtlichen Bedingtheit psychoana­lytischer Konzepte nahe, als diese zu erklären.4 In seinem nicht verwirklichten «Entwurf zu einer filmischen Darstellung der Freudschen Psychoanalyse im Rahmen eines abendfüllenden Spielfilms» reflektierte Siegfried Bernfeld 1925 die technischen Voraussetzungen der Psychoanalyse im Medienverbund von Grammofon, Film, Telefon und Radio, als den er den psychischen Apparat kinematografisch inszenieren wollte: Nach Art der Raumbühne, mit der Fried­rich Kiesler im September 1924 auf der Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik in Wien Aufsehen erregt hatte, sollten die drei im Innern eines Schädels übereinander liegenden Schauplätze Es, Ich und Uber-Ich durch einen Litt mit der Aufschrift «Zum Gedächtnis» verbunden sein; von aussen werden durch einen Kinematografen und ein Grammofon Bilder und Töne eingespeist, die Kommunikation im Innern erfolgt per Telefon und Radio. «Das Unter­geschoss ein Mittelding zwischen Gefängniszelle und Tartaros. Zu tiefst unten die infantilen verbotenen Wünsche an Ketten geschmiedet. In den höheren Re­gionen als gewöhnliche Gefangene die sonstigen unerlaubten Wünsche», von Polizisten oder vom Uber-Ich, mit dem sie durch Antennen verbunden sind, in Schach gehalten5 gar direkte Einblicke in das Unbewusste von Laios, Iokaste und ihrem Sohn Ödipus wollte in Form einer Gehirnkamerafahrt durch die Bilder- und Gedankenwelt der Protagonisten Ernst Simmels satirisches Film­expose «Die Psychoanalyse im Film! Sensationelle Enthuellungen aus dem Nachtleben der menschlichen Seele» gewähren, das wohl aus derselben Zeit stammt wie Bernfelds «Entwurf»: Nachdem ein «Bote - Stil: Laeufer von Marathon - unnachahmlich dargestellt von Charlie Chaplin», Iokaste die An­kunft von Ödipus gemeldet hat, kommt

dieser atemlos hereingestuerzt - springt die Treppe zum Thronplateau der Koenigin herauf, und erreicht somit - Die Stufe der Genitalitaet. – – –

Beide stehen nahe einander gegenueber, hochatmend, Auge in Auge, Zahn in Zahn - (Grossaufnahme)

– – Liebe auf den ersten Kinoblick – –

Man sieht im Ubw. des nun richtigen Helden die Erinnerung an ein luxurioes eingerichtetes Interieur eines koeniglichen Uterusses auftauchen – – auch die nicht anstoessigen sekundaeren Geschlechtsmerkmale erscheinen momentweise – –

Im Ubw. der Koenigin sieht man das Gesicht des derzeitigen Partners mit dem kleinen in der Berglandschaft verschwindenden Oedipus verschmelzen.6

Im Vordergrund standen aber eher Versuche, Analogien zwischen dem Film und der Psychoanalyse herzustellen, und zwar zwischen den von ihnen jeweils eröffneten neuen Wahrnehmungs- und Darstellungsformen. Otto Rank machte schon 1914 in seiner psychoanalytischen Studie Der Doppelgänger auf die Ana­logie zwischen der filmischen Technik und der durch die Psychoanalyse ent­deckten Traumtechnik aufmerksam: «Vielleicht ergibt sich, dass die in mehr­facher Hinsicht an die Traumtechnik gemahnende Kinodarstellung auch gewisse psychologische Tatbestände und Beziehungen, die der Dichter oft nicht in klare Worte fassen kann, in einer deutlichen und sinnfälligen Bildersprache zum Aus­druck bringt und uns dadurch den Zugang zu ihrem Verständnis erleichtert.»7

Zwei Jahrzehnte später sollte Walter Benjamin in seinem berühmt gewor­denen Aufsatz «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier­barkeit» die Analogie zwischen filmischer und psychoanalytischer Technik umkehren und die Vertiefung unserer optischen Wahrnehmung durch Gross­aufnahmen und Zeitlupen, die Raum und Zeit dehnten und bis dahin unsicht­bare Details und Bewegungen zu erkennen gaben, mit der «Tiefenperspektive im Gespräch» vergleichen, welche die Psychoanalyse eröffnet hat: «Der Film hat unsere Merkwelt in der Tat mit Methoden bereichert, die an denen der Freudschen Theorie illustriert werden können. Eine Fehlleistung im Gespräch ging vor fünfzig Jahren mehr oder minder unbemerkt vorüber. [...] Seit der «Psychopathologie des Alltagslebens» hat sich das geändert. Sie hat Dinge iso­liert und zugleich analysierbar gemacht, die vordem unbemerkt im breiten Strom des Wahrgenommenen mitschwammen.»8 Schon 1929 hatte Hanns Sachs in einer Vorwegnahme von Benjamins Thesen im Film «eine Art psychologische Zeitlupe» gesehen, «d. h. er zeigt uns Dinge, die im Leben ebenso sind, aber sich dort unserer groben Beobachtung entziehen, deutlich und nachweisbar»9.

Vom «Optisch-Unbewussten» wie vom «Triebhaft-Unbewussten» «erfah­ren» wir nach Walter Benjamin also durch zwei Eigenschaften der Kamera und der Psychoanalyse: Sie erhöhen und vergrössern die «Isolierbarkeit» und «Analysierbarkeit» von Details und machen sie damit als Spuren des bislang Un­bewussten erst lesbar.10 Doch die von Benjamin gewählte Metapher für die Wahrnehmung des Unbewussten, «erfahren», verdeckt in seiner Analogie zwi­schen Tiefenpsychologie und Film das erkenntnistheoretische Problem, wie sich das Sagbare zum Sichtbaren in der Psychoanalyse verhält, ebenso wie die von Sigmund Freud gewählten optischen Metaphern zur Beschreibung der Traumarbeit.

Freud hat bei ihrer Analyse in seinem Hauptwerk Die Traumdeutung (1900) - auch in den zahlreichen Zusätzen zu den späteren Auflagen - Meta­phern des bewegten Bildes auffällig gescheut; er bindet dieses an die Schrift zurück und löst es darin auf, indem er den Traum mit einem «Bilderrätsel (Re­bus)», das Verhältnis zwischen latenten «Traumgedanken» und manifestem «Trauminhalt» mit dem Verhältnis zwischen «Original und Übersetzung» ver­gleicht: «Die Traumgedanken sind uns ohne weiteres verständlich, sobald wir sie erfahren haben. Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind. Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte.» Die Aufgabe der psychoanalytischen Traumdeutung besteht also nicht darin, die einzelnen Bil­der in ihrem Ablauf wie einen Film zu sehen und zu verstehen, sondern darin, sie festzuschreiben und «jedes Bild durch eine Silbe oder ein Wort zu ersetzen, das nach irgendwelcher Beziehung durch das Bild darstellbar ist»11.

Die vier Mechanismen der Traumarbeit hat Freud bei ihrer Beschreibung jeweils sorgfältig von den sich aufdrängenden Metaphern des bewegten Bildes freigehalten: Doch die «Rücksicht auf Darstellbarkeit» nötigt den Traum, sich des «eigentümlichen psychischen Materials» der visuellen Bilder zu bedienen12; Regie führt in dem Bestreben, «die gebotenen Sinneseindrücke verständlich zu­sammenzusetzen»13, die «sekundäre Bearbeitung»; sie montiert die Kamera­fahrten der «Verschiebungs-» und die Überblendungen der «Verdichtungs­arbeit» zum Traumfilm, den Freud nicht wahrhaben wollte. Am deutlichsten kommt seine Neigung, Standfotografien, so genannte Stills, dem bewegten Filmbild vorzuziehen, bei seiner Beschreibung der Verdichtung zum Ausdruck, vergleicht er die «Herstellung von Sammel- und Mischpersonen», die er als «eines der Hauptarbeitsmittel der Traumverdichtung»14 bezeichnet, doch mit der Mischfotografietechnik von Francis Galton, der verschiedene fotografische Porträts übereinander projizierte, um augenfällige Typen zu konstruieren15, und nicht mit der filmischen Überblendung, ein Vergleich, dem Freud die Prozesshaftigkeit, das Bewegte und Bewegende der Verdichtungsarbeit opfert.

Aus dieser Scheu, sich in der Theorie der Metaphern des bewegten Bildes zu bedienen, erklärt sich auf Seiten der Psychoanalyse auch Freuds Skepsis gegenüber dem Film. Sie widersetzte sich der euphorischen Neigung zur Visua­lisierung des psychischen Apparates, seiner Arbeit, der psychoanalytischen Theorie oder auch nur der psychoanalytischen Behandlungstechnik. Für Freud hatte der Film in der «Praxis und Theorie der Psychoanalyse» keine Zukunft. Das Telegramm, mit dem er 1925 Samuel Goldwyns Angebot ausschlug, gegen das Honorar von 100000 Dollar an der Verfilmung von Szenen aus den berühmtesten Liebesgeschichten aller Zeiten mitzuwirken, soll in New York grössere Sensation erregt haben als sein Werk Die Traumdeutung.16 Karl Abra­hams und Hanns Sachs’ Einladung zur Mitarbeit an Georg Wilhelm Pabsts Ufa-Projekt Geheimnisse einer Seele entzog er sich im Juni desselben Jahres mit dem Hinweis: «Mein Haupteinwand bleibt, dass ich es nicht für möglich halte, unsere Abstraktionen in irgendwie respektabler Weise plastisch darzustellen. Zu etwas Insipidem wollen wir ja unsere Zustimmung nicht geben. Mr. Goldwyn war wenigstens so klug, sich an die Seite unseres Gegenstandes zu halten, welche plastische Darstellung sehr wohl verträgt, nämlich an die Liebe.»17 Noch deutlicher distanzierte sich Freud am 14. August 1925 Sändor Ferenczi gegenüber von diesem Projekt: «Die Verfilmung lässt sich so wenig vermeiden wie, scheint es, der Bubikopf. Aber ich lasse mir selbst keinen schneiden und will auch mit keinem Film in persönliche Verbindung gebracht werden.»18 Trotzdem wurde der Film realisiert; er feierte am 24. März 1926 unter dem Titel Geheimnisse einer Seele im Berliner Gloriapalast eine glanzvolle Uraufführung und wurde ein Publikumserfolg. Der Film stellt die psychoanalytische Fall­geschichte eines Chemikers (gespielt von Werner Krauss) dar, der vor zwangs­neurotischen Aggressionen gegen seine kinderlose Ehefrau (Ruth Weyher) zur Mutter flüchtet und von einem Psychoanalytiker (Pawel Pawlow) schliesslich geheilt und zum Familienglück geführt wird. Seine wechselhafte Entstehungs­geschichte wurde von einer Kontroverse innerhalb der Internationalen Psycho­analytischen Vereinigung begleitet, insbesondere zwischen den Ortsgruppen Berlin und Wien, die als «Film-Affäre» in die Geschichte der Psychoanalyse einging.19

Doch Freuds Skepsis gegenüber dem Film hat nicht nur die psychoanaly­tische Bewegung gespalten; letztlich ist auch die psychoanalytische Filmtheo­rie bis in die Siebzigerjahre befangen geblieben in Freuds sprödem Verhältnis zum Kino. Dies dokumentieren zwei einflussreiche Artikel von Jean-Louis Baudry und Christian Metz, die 1975 in der legendären Nummer 23 der Zeit­schrift Communications über «Psychanalyse et cinéma» erschienen sind und seit 1994 auch in deutscher Übersetzung vorliegen. Beide Aufsätze argumen­tieren metapsychologisch und widmen sich nicht der plastischen Darstellung psychoanalytischer Abstraktionen im Film, sondern der Nabelschnur zwischen «realen» und «mentalen» Bildern. Hier erscheint das Kino als Hort eines re­gressiven Wunsches, der Rückkehr zu jenem utopischen Ort, an dem unter der Sonne des Lustprinzips Wahrnehmung und Vorstellung verschmelzen, ohne dass das unterscheidende Realitätsprinzip seine Licht und Dunkel trennenden Schatten wirft. Hier herrscht die Fantasie als uneingeschränkte Zärtlichkeit des Subjekts zu sich selbst: Seine Vorstellungen berühren es als unmittelbare Wahr­nehmung, der Wunsch und seine halluzinatorische Erfüllung sind eins. Diese Einheit teilt sich nur im Medium des Fruchtwassers mit; das Kino soll ein Er­satz für die verlorene Mutter-Kind-Symbiose sein. Auf diesen «Wunsch des Wunsches» führt der Pariser Kieferchirurg Jean-Louis Baudry sowohl das pla- tonsche Höhlengleichnis wie das kinematografische Dispositiv zurück. Hier wie dort unterbindet die Unbeweglichkeit, zu der die Höhlenbewohner und Kinobesucher verurteilt sind, die Realitätsprüfung und versetzt sie zurück in einen traumähnlichen Zustand.20

Genauer als Baudry unterscheidet der Kinotheoretiker Christian Metz zwi­schen Traum und Film: Während der wache Kinozuschauer unter dem Rea­litätseindruck des Films steht, unterliegt der Träumer einer Realitätstäuschung, die Schlaf voraussetzt. Die absurden Traumgespinste entspringen den Primär­prozessen Verdichtung und Verschiebung, während der Film als sekundäre Bearbeitung dem Gebot zur Rationalisierung gehorcht (daher die Unglaub­würdigkeit vieler «Traumsequenzen» in Erzählfilmen). Deshalb ist der Film als halluzinatorische Wunscherfüllung weniger sicher als der Traum: «Realität ist auch die Phantasie des Anderen»21, so der schöne Satz von Metz, dessen Kon­sequenzen weit über die Filmtheoric hinausführen und auf Jacques Lacans theoretische Unterscheidung zwischen dem Imaginären, dem Symbolischen und dem Realen verweisen, die wieder Bewegung in die psychoanalytische Re­flexion der Bilder gebracht hat, um die sich etwa Jacqueline Rose und Slavoj Zizek bemühen22.

Das Verhältnis des Films zur Psychoanalyse ist ungleich entspannter als umgekehrt. Der witzige Dreh, mit dem der amerikanische Regisseur John Hus­ton 1958 das Script zu seinem drei Jahre später realisierten Film Freud - The Secret Passion beim französischen Philosophen Jean-Paul Sartre in Auftrag gab, steht ganz in der Tradition der antiken Kyniker, die philosophische Systeme auf drei biografische Anekdoten aus dem Leben ihres Urhebers reduzierten, um sie auf ihre exemplarische Überzeugungskraft zu prüfen, «ln der Art einer Krimi­nalgeschichte» konzentrierte sich Huston ganz auf Freuds Selbstanalyse wäh­rend seiner «splendid isolation»: «Freud bringt seinen eigenen Fall ans Licht.»23 Sartres Exposé vom Dezember 1958 bewegt sich dabei ganz in der lacanschen Dialektik von jubilatorischer Selbstverkennung und befremdlicher Selbster­kenntnis: «Ein Mann fängt an, die anderen zu erkennen, weil er darin das ein­zige Mittel sieht, sich selbst zu erkennen, und merkt, dass er gleichzeitig Nach­forschungen über die anderen und über sich selbst anstellen muss. Man erkennt sich durch die anderen, man erkennt die anderen durch sich.»24 Sartre ver­schränkt das existenzialistische Moment der Selbstwahl mit den psychoanaly­tischen Motiven der Identifikation, der Projektion und der Einbildung, mit denen Sigmund Freud gleichzeitig die Psychoanalyse entdeckt: «man wählt im Angesicht der andern und man wählt sich im Angesicht der andern»25. Freud entpuppt sich in Sartres Drehbuch als Existenzialist, der - im Gegensatz zu Sartre - mit verschiedenen Vater-Imagines (dem eigentlichen Vater Jakob Freud, dem akademischen Lehrer Theodor Meynert und den väterlichen Freunden Josef Breuer und Wilhelm Fliess) zu kämpfen hat und sie überwinden muss, um schliesslich selbst das Gesetz zu verkörpern, die Lehre der Psychoanalyse. Bei seiner visuellen Umsetzung der psychoanalytischen Frühgeschichte bedient sich Sartre der Traumarbeit und ihres Mechanismus der Verdichtung: Im freien Umgang mit seinen Quellen lässt er Cäcilie als «Sammel- und Mischperson» verschiedene Fälle Freuds gleichzeitig verkörpern. Für die Rolle war ursprüng­lich Marilyn Monroe an Stelle von Susannah York vorgesehen, doch Freuds Tochter Anna soll sich diesem Plan widersetzt haben. So vollzieht sich zwi­schen der Psychoanalyse und ihrer filmischen Historiografie eine Mimesis.

Freuds Unbewusstes dagegen kann auch Sartre nicht sichtbar machen. Die Freud in den Mund gelegten Fehlleistungen, seine Ticks und die Zigarrensucht - dieser in der schriftlichen Fassung als Drehbuch aufdringliche Motivstrang wird nicht aufgelöst - wirken bemüht und bewegen sich an der Grenze zum unfreiwillig Komischen. Das Unbewusste entzieht sich der Darstellung. Es ist das Unmögliche. Jacques Lacan hat es deshalb - im Gegensatz zur symboli­schen Ordnung der Sprache und zur imaginären Ordnung der Einbildung - dem Realen zugeordnet.26 Dass wir es nicht sehen können, ist die Bedingung unserer Möglichkeit, es zu erfahren.

Oder können wir es doch sehen?

Regisseur Michael Powell und Drehbuchautor Leo Marks haben mit ihrem Film Peeping Tom, der am 31. März i960 im Londoner Plaza Cinema uraufgeführt wurde, den mit den narrativen Mitteln des konventionellen Erzählkinos wohl radikalsten Versuch unternommen, das Unbewusste im Spannungsfeld zwischen dem Sagbaren, dem Sichtbaren, dem Unsagbaren und dem Unsicht­baren auszuloten. Ursprünglich hatte Marks Powell vorgeschlagen, ein Script über das Leben von Sigmund Freud zu verfassen, ein Projekt, das die beiden allerdings aufgeben mussten, als John Huston wenig später ankündigte, mit Freud - the Secret Passion die Biografie des Gründervaters der Psychoanalyse zu verfilmen. Stattdessen inszenierten Powell und Marks die psychoanalytische Theorie der perversen Schaulust, die sie aus Freuds Schriften in einen Film übersetzten. Die Spuren dieser Schriften sind für das bibliophile Auge in Peeping Tom noch zu erkennen, sind die psychoanalytischen Bücher von Mark Lewis’ Vater, A. N. Lewis, typografisch doch der englischen Übersetzung sei­ner Gesammelten Werke, der Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, nachgebildet. Peeping Tom verkörpert Faszination und Skepsis des Films gegenüber der Psychoanalyse in einem.

Der Film war ein Skandal. Das Urteil der professionellen Filmkritik war einhellig und unterschied sich nur in der synästhetischen Sensibilität, mit der die Rezensenten die Lähmung ihrer Urteilskraft metaphorisch verhüllten, am populistischsten wohl Dereck Hill in der Tribune-. «Die einzige wirklich befriedigende Art und Weise, über Peeping Tom zu verfügen, wäre, ihn zusam­menzuschaufeln und schleunigst den nächsten Abwasserkanal hinunterzu­spülen. Selbst dann würde der Gestank Zurückbleiben.»27 Das Unbewusste ist ein Dreck; wer daran rührt, besudelt sich, wird schmutzig. Nach Peeping Tom waren der Regisseur Michael Powell und sein Hauptdarsteller Karlheinz Böhm für die Filmindustrie lange Zeit tabu, ehe Martin Scorsese mit Powell und Rai­ner Werner Fassbinder mit Karlheinz Böhm in Berührung kamen. Mit jener eigentümlichen Logik der Nachträglichkeit,28 mit der sich in der psychoanaly­tischen Theorie ein Trauma erst in seiner Wiederholung ereignet, hat Peeping Tom seine eigentliche filmische Wirkung erst zwanzig Jahre nach der Urauf­führung entfaltet. Doch woher rührte der Abscheu vor dem Film?

«How would you like to open the film, Mr Powell?» enquired Leo.

«With a kill,» I answered.

«Correct. Shall I read it to you?»

He read it... the street at night... the click and whirr of the concealed camera... the prostitute’s words «It’ll be two quid»... the high heels clattering on the stones, the clang of metal against metal, the whirr of the camera, the screams of the prostitute, the quick cut to the whirring projector showing the whole sequence on screen, Mark’s orgasm and collapse... it was all there in the first draft.29

Peeping Tom beginnt mit jener Autoreflexion des Films im Medium seiner selbst, die ihn mittlerweile zum Klassiker der Filmgeschichte gemacht hat, «einer der zehn besten Filme aller Zeiten», so William Johnson in Cinematic Quarterly.30 Zuallererst aber blickt ein aufgerissenes Auge von der Leinwand ins Publikum. Noch ehe der Zuschauer wahrnehmen kann, wie sich der Film in seiner mortifizierenden Wirkung selbst thematisiert, indem er seinen Prota­gonisten Mark Lewis als «Kamera-Unhold»31 beim Filmen/Töten einer Pros­tituierten filmt, hat er ihn als Beobachter im Kinosaal bereits entdeckt, ver­gegenständlicht und unausweichlich in jene Wechseldynamik zwischen aktiver Perversion und passivem Widerpart mit verstrickt, für die Sigmund Freud in seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie die Formel geprägt hat: «wer im Unbewussten Exhibitionist ist, der ist auch gleichzeitig voyeur»32 - und um­gekehrt, wie im Hinblick auf Peeping Tom zu ergänzen wäre. Dieser Exhibi­tionismus von Mark Lewis, der sich erst auf den zweiten Blick enthüllt, gibt ihn als «Verbrecher aus Schuldbewusstsein» zu erkennen, wie Freud jene Täter ge­nannt hat, bei denen das «dunkle Schuldgefühl», das «aus dem Ödipus-Kom­plex stamme» und «eine Reaktion sei auf die beiden grossen verbrecherischen Absichten, den Vater zu töten und mit der Mutter sexuell zu verkehren», der Tat paradoxerweise vorausgeht. Sie verüben ihre Verbrechen, um sich von ihrem drückenden Schuldbewusstsein zu erleichtern und es «wenigstens irgendwie» unterzubringen.33 Mehrfach entblösst sich Mark denn auch vor den Polizei­organen als Täter und übergibt ihnen mit der Kamera gar seine Tatwaffe; gerade deshalb können sie ihn - wie die Beamten in Edgar Allen Poes Detektiv- geschichte «Der stibitzte Brief» - nicht erkennen. Hier wird das reflektierte Spiel mit der Schaulust des Zuschauers zum Lustspiel der zur Schau gestellten Reflexion. Doch darüber vermochten die Zuschauer bei der Uraufführung offenbar ebenso wenig zu lachen wie über Marks Antwort auf die Frage eines Kollegen vor seinem Polizeiverhör: «Bist du verrückt?» - «Ja. Glaubst du, sie werden es bemerken?»

Das Bemerkenswerte an der Autoreflexivität von Peeping Tom ist ihre kon­sequente Potenzierung. Beim ersten Mord bewegt sich die Reflexion gleichsam in der zweiten Potenz; es sind zwei Kameras im Spiel, die einen Film im Film inszenieren: Powell filmt Mark Lewis, der sein erstes Opfer, eine Prostituierte, filmt, und die Mordvorrichtung ist nur indirekt in einem Lichtreflex zu erken­nen, dessen Herkunft erst am Schluss offenbar wird. Beim zweiten Mord be­wegt sich die Reflexion gleichsam in der dritten Potenz; es sind drei Kameras im Spiel, die einen Film im Film im Film inszenieren: Powell filmt das «stand­in» Vivian, das Mark Lewis filmt, der Vivian filmt («photographing you photo­graphing me»), und hier ist von der Mordvorrichtung zum erstenmal das Mes­ser im Kamerastativ zu sehen. Nach dem dritten, stellvertretend für Helen begangenen Mord am Pin-up-Fotomodell Milly enthüllt sich mit dem an der Kamera angebrachten Spiegel, in dem die Opfer ihrer eigenen Todesangst und Agonie ins Gesicht sehen sollen, das Medium der Reflexion, und die ganze mörderische Anordnung wird in der Entwicklungskammer sichtbar.

Jede zusätzliche Enthüllung der Mordvorrichtung wird also durch eine Po­tenzierung der Reflexivität begleitet. Doch keine Reflexivität ohne Komplizi- tät, fallen die Reflexionsebenen doch immer wieder zusammen, wenn der Zu­schauer mit dem Regisseur durch Marks Kamera blickt, und Komplizenschaft ist wohl das beunruhigendste Moment des Films, dem die Rezensenten der ers­ten Stunde nur durch den Abwehrreflex der Projektion zu entgehen wussten: Sie sahen in Peeping Tom den Abfall des Unbewussten, den der Film in ihnen aufrührte34

Diese Autoreflexivität des Films, die aufs kunstvollste der zur gleichen Zeit von Roman Jakobsons strukturalistischer Poetik analysierten ästhetischen Funktion zu entsprechen scheint35, ist aber nicht Selbstzweck. Peeping Tom ist im Gegenteil ein Film überden Schrecken der Reflexion, der im Gebot der rest­losen Aufklärung haust, und darin selbstredend sehr katholisch, weshalb es kein Zufall ist, dass ausgerechnet Martin Scorsese die Bedeutung dieses Films wiederentdeckte. So bringt Makoto Ozaki den Schluss des Films auf die For­mel: «Er [Mark] ahnt, dass seine Rettung, wenn überhaupt, nur von Helen kommen kann, und richtet sich schliesslich hin, um sie vor seiner eigenen Dä­monie zu retten, ln Liebe und Hoffnung gewinnt Mark die Angst, mithin sich als Menschen wieder und wählt den Weg des Heils seiner Seele gegen die ewige Verdammnis durch Entweihung des Heiligen.»36

Mit dem Gebot restloser Aufklärung, wie es im szientistischen Selbstver­ständnis von A. N. Lewis zum Ausdruck kommt, ist Peeping Tom gleichzeitig ein Film über das Trauma terroristischer Vaterschaft37 und den psychotischen Wiederholungszwang, der daraus entspringt und der mit dem väterlichen Ge­bot aus dem Off am Schluss «Don’t be a silly boy, there’s nothing to be afraid of» nicht endet. Denn an wen richtet sich Marks aus der Dunkelheit auf der Kinoleinwand in die Dunkelheit des Kinosaals gesprochener Wunsch, in den der Film mündet: «Good night daddy. Hold my hand»?38

Die trügerische Unschuld dieser väterlichen Sorge um restlose Aufklärung kommt schon in Georg Christoph Lichtcnbergs Aphorismus zum Ausdruck, in dem der Göttinger Expcrimentalphysiker um die vollständige Aufzeichnung aller Regungen von Söhnen wirbt:

Man soll alle Menschen gewöhnen von Kindheit an in grosse Bücher zu schreiben, alle ihre Exercitia, in hartes Schweinsledcr gebunden. [...] Wenn ich einen Sohn hätte, so müsste er gar kein Papier unter Händen bekommen, als ein eingebunde­nes, zerrisse er es, oder besudelte er es, so würde ich mit väterlicher Dinte dabei schreiben: dieses hat mein Sohn anno denten besudelt. Man lässt den Körper und Seele, das Punctum saliens der Maschine fortwachsen und verschweigt und vergisst es. Die Schönheit wandelt auf den Strassen, warum sollten nicht in dem Familien- Archiv die Produkte, oder vielmehr die Signaturen der Fortschritte des Geistes hin­terlegt bleiben, und der Wachstum dort eben so sichtbar aufbewahrt liegen können? Der Rand müsste gebrochen werden, und auf einer Seite immer die Umstände und zwar sehr unparteiisch geschrieben werden. Was für ein Vergnügen würde es mir sein, jetzt meine Schrcibbücher alle zu übersehen! Seine eigne Naturgeschichte!39

Dieses Aufschreibesystem entspricht durchaus dem Aufzeichnungsapparat, dem Mark als Kind von seinem Vater unterworfen wird. Dessen Dokumenta­tion sieht der Zuschauer als Film im Film, den Mark Helen als «Geschenk» zu ihrem 21. Geburtstag vorführt: Der Vater, der das Leben von Mark in jedem Atemzug vollständig dokumentiert, filmt unter anderem zu Studienzwecken den Schrecken und die Furcht, die sein Sohn empfindet, wenn er durch quälen­des Licht oder eine lebende Eidechse, die unter seine Decke kriecht, aus dem Schlaf gerissen wird. Der Wissenschaftler Sigmund Freud hat in seinen Urei Abhandlungen zur Sexualtheorie ein gänzlich anderes Ziel der elterlichen Liebe formuliert: Das Kind «soll ja ein tüchtiger Mensch mit energischem Sexual­bedürfnis werden und in seinem Leben all das vollbringen, wozu der Trieb den Menschen drängt»40. Marks Vater aber interessiert sich nur für den platterdings abbildbaren, dokumentierbaren und wissenschaftlich verwertbaren Aspekt der psychischen Entwicklung seines Sohnes - als würde sich Marks Psyche wie ein Film entwickeln -, nicht für die Entfaltung seines Selbstverhältnisses, seiner Politik des Selbst, für die der Vater keine subjektiven Anhaltspunkte zu bieten vermag. Folgerichtig versucht Mark Lewis als Erwachsener, die psychotischen Lücken in der absolut objektiv vergegenständlichten Entwicklung seiner Per­sönlichkeit, die er nur als Gegenstand von wissenschaftlichem Interesse wahr­zunehmen gelernt hat, subjektiv durch einen Dokumentarfilm zu füllen, der die Traumaforschungen seines Vaters, mit dem er sich identifiziert, ergänzen, vervollkommnen und zum Abschluss bringen soll. Ersucht den Schrecken, vor dem seine früh verstorbene Mutter ihn nicht bewahrt und den sein Vater ihm gestohlen hat, in den Augen seiner weiblichen Opfer: An der Kamera, mit de­ren messerähnlichem Stativ er sie ersticht, ist ein Spiegel angebracht, in dem sie ihrem eigenen Tod ins Auge sehen sollen. Doch das erhoffte Bild lässt sich nie einfangen, die traumatische Todesangst ist nicht sichtbar zu machen, der Wie­derholungszwang erschöpft sich erst in Marks Selbstmord. Auch in der Perver­sion entgeht das Subjekt der Frustration nicht. Das Begehren, durch den Blick der Mutter - der nach der Geburt an die Stelle des symbiotischen Einsseins tritt - in aller Unversehrtheit wahrgenommen zu werden, ist unerfüllbar. Gleich­zeitig hat Marks Vater in seiner ebenso unberechenbaren wie terroristischen Allmacht dem Sohn kein Vor-Bild vermittelt, wie er mit dieser gebrochenen Allmacht umzugehen versuchen könnte.41 Marks Dokumentarfilm wird hier lesbar als Allegorie für die Projektionen des Unbewussten, seine Kamera und sein Projektor als Metaphern des seelischen Apparates. Powell gelingt hier mit Peeping Tom die paradoxe Inszenierung, zu zeigen, was man nicht sehen kann: Das Unbewusste spielt sich auf dem Schauplatz des Unmöglichen ab.

In Michael Powells Diktum über seinen Film: «Es ist kein Horrorfilm. Es ist ein Film des Mitleids, der Beobachtung und des Gedächtnisses»42, klingt mehr an als blosse Ironie. Peeping Tom versucht sowohl dem traumatischen Wiederholungszwang wie dem Schrecken der Reflexion, der im Gebot der rest­losen Aufklärung haust, paradoxerweise durch gesteigerte Reflexivität zu ent­gehen. Doch keine Reflexivität ohne Komplizität, wie gesagt. Verstörend ist nicht nur die Komplizenschaft zwischen dem Psychoanalytiker Dr. Rosen, der die verbale Reflexionsebene der Skoptophilie im Film verkörpert, und Marks Vater, der von seinem Schüler Rosen als «most fertile mind» bezeichnet wird; tatsächlich schaut der blonde Engel Mark Lewis (Karlheinz Böhm), der seine Passion mit gebrochenen Augen erleidet wie Jesus Christus, nie gequälter als in dem Augenblick, in dem er vom Psychoanalytiker, der sich nur für die Manu­skripte aus dem wissenschaftlichen Nachlass seines Vaters interessiert, erfährt, wie «schnell» eine psychoanalytische Behandlung seines Traumas zum Erfolg führen würde: «The cure? Oh, very quick: A couple of years analysis, three times a week, an hour time and soon it’s uprooted.»43 Diese Komplizenschaft zwischen dem Psychoanalytiker und dem Vater bewegt sich wie die Kompli­zenschaft der Verliebtheit zwischen Helen und Mark aut der diegctischen Ebene, aber sie setzt sich auf allen weiteren Ebenen fort: Zum Auftakt des Films übernimmt der Regisseur die Perspektive seines filmenden Protagonisten, die er erst nach dem ersten Mord verlässt; auch deshalb ist es ein «film of compassion», ein Film des Mitleids, dem der Hauptdarsteller Karlheinz Böhm deutlich Nachdruck verleiht; als «unheimlich liebenswerter Mensch» wurde Mark Lewis von Böhm in einem .Ster«-Interview 1980 bezeichnet44, und Po­well, der Mark Lewis als ««absolute* director» und «technician of emotion» be­wunderte45, nannte ihn «gentle and sweet and attractive, and quite, quite mad»46. Diese Komplizenschaft des Regisseurs und des Hauptdarstellers mit Mark Lewis teilt auch der Drehbuchautor Leo Marks, Sohn eines in Auschwitz ermordeten Juden, der im Zweiten Weltkrieg als Kryptograf für die britische Regierung gearbeitet hatte: Im Eigennamen des Protagonisten hat er seine eigene Ambivalenz gegenüber der Psychoanalyse anagrammatisch kodiert. Sie wird durch den Umstand zugespitzt, dass mit der Besetzung von Mark Lewis durch Karlheinz Böhm kein Zweifel an der deutschen Herkunft seines Vaters A. N. Lewis bestehen kann: Das Trauma des Zweiten Weltkriegs wird hier mit bitterer Ironie im Schicksal eines Sohnes reflektiert, der von seinem Vater, einem nach England exilierten jüdischen Psychoanalytiker, terrorisiert worden ist. Selbst wenn der - kinematografisch geschulte - Zuschauer sich in die Kompli­zenschaft mit dem Regisseur und dem Drehbuchautor flüchtet und ihre Selbst­reflexion teilt, entkommt er also der Komplizenschaft mit Mark Lewis nicht. Alle haben Mitleid mit demjenigen, der für seine Opfer kein Mitleid zu emp­finden vermag; alle fühlen sich in denjenigen ein, dem es an Einfühlungsver­mögen gebricht. Es gibt auch hier keine restlose Aufklärung.

Diese Komplizenschaft erhöht sich mit jeder Potenzierung der Reflexivität, und jede Potenzierung der Reflexivität geht mit einer weiteren Verdoppelung der Ununterscheidbarkeit zwischen Fiktion und Wirklichkeit einher, die in die Realität übergreift: Tatsächlich wird die Rolle des Vaters A. N. Lewis im Film vom Regisseur Michael Powell selbst gespielt, der die Rolle von Mark als Kind mit seinem eigenen Sohn Columba Powell besetzt hat: «I don’t approve of di­rectors acting in their own films, but this was a family affair.»47 Die Szenen, in denen A. N. Lewis die traumatisierenden Verhaltensexperimente mit seinem Sohn dokumentiert, wurden in unmittelbarer Nachbarschaft von Columba Po­wells Elternhaus gedreht, und Michael Powell machte sich über die Wirkung auf seinen Sohn keine Illusion. Mit derselben, nicht von Ernst zu unterschei­denden Ironie hielt er in seiner Autobiografie fest: «In the final scene he [Co­lumba] got frightened, to everybody’s embarrassment, including his own. I felt like a murderer, deservedly. Needless to say, I used the scene in the film. If my son has lizard complexes late in life, it will be my fault.»48 So ist es auch keine Überraschung, dass Karlheinz Böhm während der Dreharbeiten einen Schwä­cheanfall gehabt haben soll, als er von seinem Vater, Karl Böhm, der eine un­rühmliche Rolle im Dritten Reich gespielt hatte, auf dem Set in London besucht wurde.

Auch die Frage der Ununterscheidbarkeit zwischen Fiktion und Wirklich­keit wird vom Film auf seinem Höhepunkt explizit reflektiert: Als Helen ein Opfer ihrer Neugier wird, sich dem Terror von Marks «documentary» ausge­setzt sieht und von diesem bei ihrer «sneak preview» überrascht wird, versucht sie die Realität durch Fiktionalisierung abzuwehren: «That film is just... a film?» - «No... No... I killed her», antwortet Mark ihr im Film.

Mit der Reflexion dieser Ununterscheidbarkeit stösst Peeping Tom in die Dimension der «psychischen Realität» vor, die uns durch Sigmund Freuds Psy­choanalyse erschlossen worden ist: Im Unbewussten herrscht - nach psycho­analytischer Überzeugung - eine Währung, die der «Realitätszeichen» entbehrt. Nichts verrät den Unterschied zwischen der Wahrheit und der mit Affekt be­setzten Fiktion, zwischen unbewusst gewordenen Erinnerungen und unbe­wussten Fantasien, die allein dem Lustprinzip unterworfen sind. Auf der zu­sehends mehr durch das Realitätsprinzip erschlossenen Karte des seelischen Reiches nimmt sich die Fantasie aus wie ein Naturschutzgebiet, wie eine Scho­nung.49 Freud hat sich hier ebenso wie Michael Powell absolute Enthaltung von jedem Realitätsurteil auferlegt: «It’s the opposite of a realistic film. It’s a reverie»50, hat Powell über Peeping Tom gesagt. Zuletzt sind also auch Psycho­analyse und Film Komplizen.

Jacques Lacan, «Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psy­choanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongress für Psy­choanalyse in Zürich am 17. Juli 1949», übers, von Peter Stehlin, in: Jacques Lacan, Schriften /, Olten / Freiburg im Breisgau 1973, S. 61-70.

Ernest Jones, Sigmund Freud: Leben und Werk, Hand 2: Jahre der Reife (1901-1919) (1955), übers, von Gertrud Meili-Dworetzki unter Mitarbeit von Katherine Jones, München 1984, S. 76.

Lou Andreas-Salome, In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres (1912/1913), Frankfurt am Main / Berlin I Wien 1983, S. 102/103.

Vgl. dazu Friedrich Kittier, Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986, S. 206-251.

Karl Fallend / Johannes Reichmayr, «Psy­choanalyse, Film und Öffentlichkeit. Konflikte hinter den Kulissen», in: dies. (Hgg.), Siegfried Hemfeld oder Die Grenzen der Psychoanalyse. Materialien zu Leben und Werk, Basel / Frank­furt am Main 1992, S. 132-152, hier S. 150/151; vgl. auch Barbara Eppensteiner I Karl Fallend I Johannes Reichmayr, «Die Psychoanalyse im Film 1925/26», in: Psyche. Zeitschrift für Psy­choanalyse und ihre Anwendungen 2 (Februar 1987), S. 129-139, S. 137.

Zit. nach Ulrich Schultz-Venrath, ««Wa­rum musste das ins Auge gehn?> Die Lust an der Persiflage: Ernst Simmel als Sketch- Autor», in: LUZIFER-AMOR. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse 13 (1994), S. 137- 164, hier S. 159/160.

Otto Rank, Der Doppelgänger. Eine psy­choanalytische Studie, Reprint der Ausgabe von 1925, Wien 1993, S. 7/8; vgl. zu Ranks Stu­die Friedrich Kittier, «Romantik - Psychoana­lyse- Film: Eine Doppelgängergeschichte», in: Jochen Hörisch / Georg Christoph Tholen (Hgg.): Eingebildete Texte. Affairen zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaft, München 1985, S. 118-135.

Walter Benjamin, «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­keit» [Zweite Fassung] (1936), in: ders., Ge­sammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1980, Band 2, S. 471-508, hier S. 498.

Hanns Sachs, «Zur Psychologie des Films», in: Die psychoanalytische Hewegung 2 (Juli/August 1929), S. 122-126, hier S. 124.

Benjamin (wie Anm. 8), S. 498-500.

Sigmund Freud, «Die Traumdeutung» (1900), in: Studienausgabe, I—XI, Frankfurt am Main 1982, II, S. 280/281. Zum Verhältnis von Original und Übersetzung bei Freud und ins­besondere in der «Traumdeutung» vgl. Martin Stingelin: «Freud zur See. Anmerkungen zu den Fährnissen des Übersetzungskomplexes», in: FRAGMENTE. Schriftenreihe zur Psycho­analyse 27/28 (August 1988), S. 140-153.

Ebd., S. 339.

Ebd., S. 480.

Ebd., S. 295.

Zu Freud und Galton vgl. Thorsten Lo­renz, «Der kincmatographische Un-Fall der Seelenkunde», in: Friedrich Kittier / Manfred Schneider / Samuel Weber (Hgg.), Diskursana­lysen 1: Medien, Opladen 1987,5. 108-128, ins­besondere S. 111-115.

Zu Samuel Goldwyns Angebot vgl. Er­nest Jones, Sigmund Freud: Leben und Werk, Hand 3: Die letzte Phase (1919-1939) (1962), übers, von Gertrud Meili-Dworetzki unter Mitarbeit von Katherine Jones, München 1984, S. 141.

Zit. nach Fallend/ Reichmayr (wie Anm. 5),S. 135.

Ebd., S. 134/135.

Vgl. dazu Paul Ries, «Popularise and/or be damned: psychoanalysis and film at the crossroads in 1925», in: The International Journal of Psycho-Analysis 4 (August 1995), S. 759-79B Paul Ries, «Geheimnisse einer Seele: Wessen Film und wessen Psychoana­lyse?», in: Jahrbuch der Psychoanalyse, Band 39 0998), S. 46-80, und Patrick Lacoste, L'étrange cas du Professeur M. Psychanalyse à l'écran, Paris 1990.

Jean-Louis Baudry, «Das Dispositiv: Me­tapsychologische Betrachtungen des Realitäts­eindrucks» (1975), übers, von Max Looser, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 11 (Nov. 1994), S. 1047-1074.

Christian Metz., «Der fiktionale Film und seine Zuschauer. Eine metapsychologische Un­tersuchung» (1975), übers, von Max Looser, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 1 (Nov. 1994), S. 1004-1046, hier S. 1016.

Vgl. etwa Jacqueline Rose, Sexualität im Feld der Anschauung, übers, von Catherina Zakravsky, Wien 1996, und Slavoj Zizek (Hg.), Ein Triumph des Blicks über das Auge. Psycho­analyse bei Alfred Hitch cock, Wien 1992.

Aus einem Interview mit John Huston, zit. nach Robert Benayoun, « Huston avant lc Déluge», in: Positif 70 (Juni 1965), S. 1-28, hier S. 18.

Jean-Paul Sartre, Freud. Das Drehbuch (1984), übers, von Traugott König unter Mit­arbeit von Judith Klein, Reinbek bei Hamburg I993» S. 543-

Jean-Paul Sartre, «Ist der Existentialismus ein Humanismus?» (1946), in: ders., Drei Essays, Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1980, S. 7-51, hier S. 31.

Vgl. dazu Peter Widmer, Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder Die zweite Révolution der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1990, S. 57-60.

Zit. nach Makoto Ozaki, Peeping Tom, Berlin 1989, S. 9.

Vgl. Martin Stingelin, «<O pudenda ori- go!> Zur psychoanalytischen Poetik der Nach­träglichkeit», Nachwort zu: Mikkel Borch- Jacobsen, Anna O. zum Gedächtnis. Eine hundertjährige Irreführung (1995), übers, von Martin Stingelin, München 1998, S. 121-154.

Michael Powell, Million-Dollar Movie. The Second Volume of IIis Life in Movies (1992), London 1993, S. 396.

Zit. nach Karlheinz Böhm, Mein Weg. Er­innerungen (1991), München 1993, S. 149.

Powell (wie Anm. 29), S. 396: «He [Mark Lewis] is a camera fiend.»

Sigmund Freud, «Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie» (1905), in: Studienausgabe, I—XI, Frankfurt am Main 1982, V, S. 37-145, hier S. 75/76.

Ozaki (wie Anm. 27), S. 5, hat in diesem Zusammenhang auf den Gegensinn von «peep» aufmerksam gemacht: «Peep» bedeutet näm­lich sowohl <durch enge Öffnung* beziehungs­weise «flüchtig sehen* als auch «sich vorsichtig* beziehungsweise «teilweise zeigen*, «auftau­chen*, «sich unbewusst zeigen*.»

Sigmund Freud, «Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit» (1916), in: Studienausgabe, I—XI, Frankfurt am Main 1982, X, S. 229-253, hier S. 252/253: «Die Verbrecher aus Schuldbewusstsein».

Franziska Lamott, «Monstcrbilder - Spie­

gelbilder», in: Manuskripte. Zeitschrift für Literatur 121 (1993), 27“37» hier S. 30 und

32/33, hat darauf aufmerksam gemacht, dass Peeping Tom in «explizit analen Bildern kom­mentiert» worden ist; etwa die Stuttgarter Nachrichten vom 22. April i960: «Einen pein­licheren, schmierigeren, ekelhafteren Film als diesen jetzt in London uraufgeführten kann man sich kaum noch denken, der noch un­verdaulicher ist, weil er sich «tief* gibt», oder William Whitebait: «Peeping Tom stinkt mehr als alles andere im Britischen Film [...]. Was mir Sorgen macht, ist die Tatsache, dass sich über­haupt jemand mit diesem Dreck beschäftigen und ihm eine kommerzielle Form geben konnte.»

Vgl. Roman Jakobson, «Linguistik und Poetik» (i960), übers, von Tarcisius Schelbert, in: ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921- 1971, Frankfurt am Main 1979, S. 83-121.

Ozaki (wie Anm. 27), S. 14.

Eine bemerkenswerte Studie über die mortifizierende Wirkung der symbolischen Ordnung stammt von Elisabeth Bronfen, «Bil­der, die töten - Tod im Bild. Gedanken zu Michael Powells Peeping Tom», in: CINEMA 40 (1994), S. 112—134. Lamott (wie Anm. 34), hat sich der Monstrosität gewidmet, die in Peeping Tom vom Film auf den Zuschauer übergreift.

Er erinnert unweigerlich an Sigmund Freuds Analyse der infantilen Angst (wie Anm. 32), S. 127: «Die Angst der Kinder ist ursprünglich nichts anderes als der Ausdruck dafür, dass sie die geliebte Person vermissen; sie kommen darum jedem Fremden mit Angst ent­gegen; sie fürchten sich in der Dunkelheit, weil man in dieser die geliebte Person nicht sieht, und lassen sich beruhigen, wenn sie dieselbe in der Dunkelheit bei der Hand fassen können.»

Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, Band 1, München 1968, S. 654/65 5, J 26.

Freud (wie Anm. 32), S. 127.

Vgl. dazu vor allem die erhellende rechts­historische und psychoanalytische Studie von Pierre Legendre, Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater (1989), übers, von Clemens Pornschlegel, mit einem Nachwort von Clemens Pornschlegel und Hu­bert Thüring, Freiburg im Breisgau 1998.

Zit. nach Elliott Stein, «<A Very Tender Film, a Very Nice One>. Michael Powell’s Peep­ing Tom», in: Film Comment 5 (1979), S. 57-59, hier S. 58: «It’s not a horror film. It’s a film of compassion, of observation and of memory, yes!»

Diese Schlüsselszenc wird in der Sekun­därliteratur mit merkwürdigen Entstellungen wiedergegeben. Fritz Göttler Z Stefan Braun / Klaus Volkmer / Claus M. Reimer, Peeping Tom, in: Kino.KonTexte 3 (1982), Living Cinema: Powell & Pressburger, S. 114-131, S. 129: «ein Jahr lang dreimal wöchentlich eine Stunde»; Ozaki (wie Anm. 27), S. 74: «zweimal pro Woche Analyse, und der Mann ist in drei Jahren vollkommen geheilt»; Lamott (wie Anm. 34), S. 29: «zweimal die Woche Analyse und man ist in drei Jahren geheilt».

Zit. nach Lamott (wie Anm. 34), S. 31.

5 45 Zit. nach Stein (wie Anm. 42), S. 5 9: « Peep­ing Tom is a very tender film, a very nice one. Almost a romantic film. I felt very close to the hero, who is an «absolute» director, someone who approaches life like a director, who is con­scious of and suffers from it. He is a technician of emotion. And I am someone who is thrilled by technique, always mentally editing the scene in front of me on the street, so I was able to share his anguish.»

Powell (wie Anm. 29), S. 396.

Ebd., S. 398.

Ebd., S. 404.

Vgl. Sigmund Freud, Pormulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Ge­schehens (1911), in: Studienausgabe, I-XI, Frankfurt am Main 1982, 111, S. 13-24, hier S. 23/24; ders.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1917), in: Studienausgabe, I-XI, Frankfurt am Main 1982, I, S. 33-445, hier S. 359, und Jean Laplanche / Jean-Bertrand Pontalis, Urphantasie. Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie (1964, 1985), übers, von Max Looser, Frankfurt am Main 1992.

Zit. nach Stein (wie Anm. 42), S. 58.

Martin Stingelin
Dr., geb. 1963 in Binningen. Studium der Germanistik und der Geschichtswissenschaften in Basel und Essen; 1991-1998 Assistent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Basel; seit 1998 Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds für fort­geschrittene Forscher.
(Stand: 2018)
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