KATHRIN HALTER

SPUREN VERSCHWINDEN - NACHTRÄGE INS EUROPÄISCHE GEDÄCHTNIS (WALO DEUBER)

SELECTION CINEMA

«Vergessen verlängert das Exil. Die Erinnerung ist das Tor zur Erlösung.» Programmatisch stehen die Sätze von Baal Schern Tow, dem Begründer des chassidischen Volksglaubens, an Anfang und Ende von Walo Deubers filmischer Suche nach Spuren des osteuropäischen Juden­tums in der heutigen Ukraine, dessen Über­lebende nach dem Grauen des Holocaust in der Nachkriegszeit auch noch unter Erinnerungs­verbot zu leiden hatten. Erst 1989 wurden Do­kumente über die Vernichtungsarbeit der Nazis freigegeben, erst seit kurzem dürfen die letzten noch lebenden Zeugen offen über ihre Erleb­nisse sprechen. Wegen des Antisemitismus stalinistischer Prägung und der für die offizielle Geschichtsschreibung peinlichen Kollabora­tion ukrainischer Behörden mit den Nazis war das Thema fünfzig Jahre lang nicht opportun.

Die filmische Vergegenwärtigung dieser untergegangenen Ecbenswelt, der einst fünf Millionen Juden angehörten, geschieht vor allem über die Sprache. Eine sorgfältig ausge­wählte und präzis montierte Textcollage jüdi­scher Autoren - Joseph Roth, Rose Ausländer, Esaak Babel und Manès Sperber -, die als Voice­over den Zeithorizont bis hin zur Jahrhundert­wende öffnet, ergänzen die erzählten Erinne­rungen der Zeugen, die Deuber aufgesucht hat. Ausgangspunkt aller filmischen Erinnerungs­arbeit bleibt jedoch immer die Gegenwart; auf historische Aufnahmen hat der Autor in seinem ersten Dokumentarfilm vollständig verzichtet.

Die filmische Route führt von Lemberg, der einstigen Hauptstadt Galiziens, über Cernovitz bis hin zu kleinen Ortschaften westlich von Kiew. Die Strassenszenen aus dem post-sowjetischen Alltag konfrontiert Deuber mit Texten von Joseph Roth oder Martin Buber, die vom Leben der Juden in der österreichisch­ungarischen Monarchie erzählen, dann mit Auszügen aus dem Lemberger Ghetto Tage­buch von David Kahane über die ersten Ver­nichtungslager der Nazis. So werden Strassenzüge, Brücken oder Hinterhöfe durch den Textzusammenhang als Schauplätze einstiger Verbrechen erkennbar - und wirken, inmitten alltäglicher Geschäftigkeit, doch nur gleich­gültig. Eine wichtige Rolle spielt deshalb die Musik Dimitri Schostakovitschs oder die tradi­tionelle jüdische Volksmusik, die oftmals einen viel direkteren Zugang zu den Dokumenten und den erschütternden Erzählungen der Zeu­gen ermöglicht oder ihnen etwas entgegen­zusetzen vermag. Dabei leistet auch die Mon­tage (Jürg Messmer) viel für den Film: Während man beispielsweise aus dem Kriegstagebuch von Felix Landau erfährt, was sich im Kopf eines Gestapo-Einsatzleiters abspielt, der auf Befehl in einem Waldstück bei Drohobycz an einem Tag 23 Juden erschiesst, begleitet die Ka­mera drei Angehörige der Opfer an den Schau­platz des Verbrechens, wo einst 12000 Juden umgebracht wurden. Nach einigen Minuten kehren die gezeigten Bilder in rhythmischer Wiederholung unvermittelt wieder, doch dies­mal liest Wolfram Berger die Todesfuge von Paul Celan - und man meint, das Gedicht in dieser schmerzhaften Genauigkeit zum ersten Mal zu vernehmen.

Kathrin Halter
geb. 1965, Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Europäischen Volksliteratur in Zürich, u.a. freie Mitarbeit als Filmkritikerin beim züritipp, lebt in Zürich.
(Stand: 2018)
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