KATHRIN HALTER

ID SWISS (FULVIO BERNASCONI, CHRISTIAN DAVI, NADIA FARES, WAGEH GEORGE, KAMAL MUSALE, THOMAS THÜMENA, STINA WERENFELS)

SELECTION CINEMA

«In 582 Tagen und 14 Stunden werde ich das Recht haben, die Schweizer Staatsbürgerschaft zu beantragen.» Der aus Ägypten stammende und in Zürich wohnende Wageh George reiht die Worte so behutsam aneinander, als wären schon sie lauter Stolpersteine auf dem Weg zu einem Schweizerpass. Und dabei funkelt gerade seine Episode (Was wann wie wohin gehört) nur so von Ironie und einem spielerisch reflek­tierten Umgang mit der Form. George, nun im Kommentar, über sein filmisches Vorhaben: «Me as a Swiss? This is a serious business. But what is a Swiss? [...] Some research has to be done.» Also lässt der Autor, vor seinem Fern­seher sitzend, die Interviews Revue passieren, die er in Kairo mit Freunden und Familien­angehörigen, in der Schweiz mit seinem Haus­abwart geführt hat: eine Gegenüberstellung widersprüchlicher Ansichten zur Schweizer Mentalität im Allgemeinen und zu seiner Anpassungstauglichkeit im Besonderen, wobei die rassistischen Dummheiten, die der Abwart in treuherziger Unschuld zum Besten gibt, in dieser Abfolge nur mehr lächerlich wirken.

Das ist bezeichnend für ID Swiss als Gan­zes: Hier werden nicht Anpassungszwänge oder Fremdenfeindlichkeit beklagt, sondern so gelassen wie humorvoll Mentalitäten vergli­chen. Der Anstoss zu einem Dokumentarfilm über die multikulturelle Schweiz kam von SF DRS in Form eines Wettbewerbs. Das Rennen machte der Genfer Filmer Jean-Sté­phane Bron mit La bonne conduite sowie die Zürcher Produktionsfirma Dschoint Vcntschr mit ihren beiden Produzenten Samir und Werner Schweizer mit ID Swiss. Sie haben die sieben Episoden um statistische Fakten er­gänzt, welche die sozialpolitischen Zusammen­hänge der Beiträge verdeutlichen. Jeder Kurz­film greift eine neue Facette aus dem breiten Themenspektrum auf, wobei es gerade die dezidiert persönlichen Standpunkte der Autor­innen und ihre formal ganz unterschiedlichen Vorgehensweisen sind, die ID Swiss als Ganzes interessant, reichhaltig und unterhaltsam ma­chen. Die meisten Autorinnen haben am eige­nen Leib erfahren, wovon sie erzählen; also in­szenieren sich einige (wie Stina Werenfels oder Kamal Musale) gleich selbst vor der Kamera.

Der Schweizer Inder Kamal Musale bietet mit seinem hübschen Gourmetstück Raclette Curry einen gewissermassen kulinarischen Ein­stieg. Musale versucht, wie einst schon sein Vater, eine Schweizerin mit einer indisch an­gehauchten Raclette-Variation zu verführen. Eine augenzwinkernd inszenierte Versöhnung unterschiedlicher (Geschmacks-)Kulturen mit­tels schöner Farbarrangements, imaginierter Gerüche und einem Schuss Erotik. In Home Alone beobachtet der Zürcher Christian Davi ausländische Angestellte bei ihrer Arbeit in einem Altersheim, zeigt Einsamkeit und Ver­bitterung der alten Menschen. Doch seine ein­gangs formulierte These, wonach der Graben zwischen verschiedenen Kulturen vergleichbar sei mit demjenigen zwischen den Generatio­nen, wird nicht wirklich nachvollziehbar. Ful­vio Bernasconi hingegen geht in Hopp Schwyz von einer ganz simplen Frage aus, die aber erstaunlich viel hergibt. Bernasconi ist als Sohn italienischer Emigranten im Tessin aufgewach­sen. Die Gespaltenheit der Secondos veran­schaulicht er anhand eines Dilemmas: Soll er bei einem Länderspiel in Lecce für die Schwei­zer oder für die Azzurri die Daumen drücken? Und wie ergeht es dem italienischen Vater eines Spielers, der zur Schweizer Nationalmann­schaft gehört?

Komplizierter liegen die Familienverhält­nisse bei Nadia Fares und Stina Werenfels. In Mixed Up kombiniert Fares Ausschnitte aus alten Familienfilmen mit impressionistisch zu­sammengestückelten Videoaufnahmen von der väterlichen Kairoer Verwandtschaft und aus dem Emmental, wo die Mutter herstammt. Fares erzählt im Voiceover bruchstückhaft aus der ägyptisch-schweizerischen Familien­geschichte, sucht immer neue Sprachbilder für ihre weit auseinander liegenden kulturellen Wurzeln, die sic weniger als Ursache von Kon­flikten denn als grosse Bereicherung erlebt. Analytischer, auch formal experimentierfreu­diger geht Stina Werenfels in der spielerisch angelegten «Selbstuntersuchung» Making of a ]ew vor. Aus einer sowohl protestantischen als auch jüdischen Familie stammend, ist ihre eth­nisch-religiöse Zugehörigkeit ziemlich unklar, wenn nicht gar verwirrend - zumindest wenn man dem von Werenfels befragten Rabbiner zuhört, der Kriterien jüdischer Identität so psychologisch differenziert wie theologisch anschaulich erläutert. Parallel dazu erzählt Werenfels anhand alter Familienfilme eine «Le­bensgeschichte» ihrer «jüdisch» aussehenden Kraushaare, ironisiert in Coiffeurszenen die «Problematik», bringt aber auch Vorurteile und beengende Bilder zur Sprache, die in den Köp­fen (nicht zuletzt dem eigenen) herumspuken. Wie ungebrochenes jüdisch-schweizerisches Selbstverständnis aussehen könnte, davon geben die integrierten Kurzporträts jüdischer Familien zumindest eine Ahnung.

Den Abschluss macht Thomas Thümena mit Train Fantôme. Der Zürcher hat Rekruten einer Westschweizer RS befragt, wie in der Schweiz denn ein Bürgerkrieg aussehen würde. Und siehe da, einige könnten sich durchaus den Röschtigraben als Frontlinie vorstellen. Irgendwann fragt man sich allerdings, wie sug­gestiv die Fragen gestellt wurden, so unange­nehm (und klischeebefrachtet) fallen die State­ments zum Teil aus.

Den lärmigen Misstönen der letzten Epi­sode setzten die Produzenten in einem Nach­wort noch ein paar konstruktiv versöhnliche Worte zum «Experiment Schweiz» (Friedrich Dürrenmatt) entgegen. Es wäre kaum nötig gewesen. Wie komplex die Lebenswirklichkeit in der Schweiz aussieht, hat der Dokumentar­film gerade intelligent und anschaulich vor­geführt.

Kathrin Halter
geb. 1965, Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Europäischen Volksliteratur in Zürich, u.a. freie Mitarbeit als Filmkritikerin beim züritipp, lebt in Zürich.
(Stand: 2018)
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