«In 582 Tagen und 14 Stunden werde ich das Recht haben, die Schweizer Staatsbürgerschaft zu beantragen.» Der aus Ägypten stammende und in Zürich wohnende Wageh George reiht die Worte so behutsam aneinander, als wären schon sie lauter Stolpersteine auf dem Weg zu einem Schweizerpass. Und dabei funkelt gerade seine Episode (Was wann wie wohin gehört) nur so von Ironie und einem spielerisch reflektierten Umgang mit der Form. George, nun im Kommentar, über sein filmisches Vorhaben: «Me as a Swiss? This is a serious business. But what is a Swiss? [...] Some research has to be done.» Also lässt der Autor, vor seinem Fernseher sitzend, die Interviews Revue passieren, die er in Kairo mit Freunden und Familienangehörigen, in der Schweiz mit seinem Hausabwart geführt hat: eine Gegenüberstellung widersprüchlicher Ansichten zur Schweizer Mentalität im Allgemeinen und zu seiner Anpassungstauglichkeit im Besonderen, wobei die rassistischen Dummheiten, die der Abwart in treuherziger Unschuld zum Besten gibt, in dieser Abfolge nur mehr lächerlich wirken.
Das ist bezeichnend für ID Swiss als Ganzes: Hier werden nicht Anpassungszwänge oder Fremdenfeindlichkeit beklagt, sondern so gelassen wie humorvoll Mentalitäten verglichen. Der Anstoss zu einem Dokumentarfilm über die multikulturelle Schweiz kam von SF DRS in Form eines Wettbewerbs. Das Rennen machte der Genfer Filmer Jean-Stéphane Bron mit La bonne conduite sowie die Zürcher Produktionsfirma Dschoint Vcntschr mit ihren beiden Produzenten Samir und Werner Schweizer mit ID Swiss. Sie haben die sieben Episoden um statistische Fakten ergänzt, welche die sozialpolitischen Zusammenhänge der Beiträge verdeutlichen. Jeder Kurzfilm greift eine neue Facette aus dem breiten Themenspektrum auf, wobei es gerade die dezidiert persönlichen Standpunkte der Autorinnen und ihre formal ganz unterschiedlichen Vorgehensweisen sind, die ID Swiss als Ganzes interessant, reichhaltig und unterhaltsam machen. Die meisten Autorinnen haben am eigenen Leib erfahren, wovon sie erzählen; also inszenieren sich einige (wie Stina Werenfels oder Kamal Musale) gleich selbst vor der Kamera.
Der Schweizer Inder Kamal Musale bietet mit seinem hübschen Gourmetstück Raclette Curry einen gewissermassen kulinarischen Einstieg. Musale versucht, wie einst schon sein Vater, eine Schweizerin mit einer indisch angehauchten Raclette-Variation zu verführen. Eine augenzwinkernd inszenierte Versöhnung unterschiedlicher (Geschmacks-)Kulturen mittels schöner Farbarrangements, imaginierter Gerüche und einem Schuss Erotik. In Home Alone beobachtet der Zürcher Christian Davi ausländische Angestellte bei ihrer Arbeit in einem Altersheim, zeigt Einsamkeit und Verbitterung der alten Menschen. Doch seine eingangs formulierte These, wonach der Graben zwischen verschiedenen Kulturen vergleichbar sei mit demjenigen zwischen den Generationen, wird nicht wirklich nachvollziehbar. Fulvio Bernasconi hingegen geht in Hopp Schwyz von einer ganz simplen Frage aus, die aber erstaunlich viel hergibt. Bernasconi ist als Sohn italienischer Emigranten im Tessin aufgewachsen. Die Gespaltenheit der Secondos veranschaulicht er anhand eines Dilemmas: Soll er bei einem Länderspiel in Lecce für die Schweizer oder für die Azzurri die Daumen drücken? Und wie ergeht es dem italienischen Vater eines Spielers, der zur Schweizer Nationalmannschaft gehört?
Komplizierter liegen die Familienverhältnisse bei Nadia Fares und Stina Werenfels. In Mixed Up kombiniert Fares Ausschnitte aus alten Familienfilmen mit impressionistisch zusammengestückelten Videoaufnahmen von der väterlichen Kairoer Verwandtschaft und aus dem Emmental, wo die Mutter herstammt. Fares erzählt im Voiceover bruchstückhaft aus der ägyptisch-schweizerischen Familiengeschichte, sucht immer neue Sprachbilder für ihre weit auseinander liegenden kulturellen Wurzeln, die sic weniger als Ursache von Konflikten denn als grosse Bereicherung erlebt. Analytischer, auch formal experimentierfreudiger geht Stina Werenfels in der spielerisch angelegten «Selbstuntersuchung» Making of a ]ew vor. Aus einer sowohl protestantischen als auch jüdischen Familie stammend, ist ihre ethnisch-religiöse Zugehörigkeit ziemlich unklar, wenn nicht gar verwirrend - zumindest wenn man dem von Werenfels befragten Rabbiner zuhört, der Kriterien jüdischer Identität so psychologisch differenziert wie theologisch anschaulich erläutert. Parallel dazu erzählt Werenfels anhand alter Familienfilme eine «Lebensgeschichte» ihrer «jüdisch» aussehenden Kraushaare, ironisiert in Coiffeurszenen die «Problematik», bringt aber auch Vorurteile und beengende Bilder zur Sprache, die in den Köpfen (nicht zuletzt dem eigenen) herumspuken. Wie ungebrochenes jüdisch-schweizerisches Selbstverständnis aussehen könnte, davon geben die integrierten Kurzporträts jüdischer Familien zumindest eine Ahnung.
Den Abschluss macht Thomas Thümena mit Train Fantôme. Der Zürcher hat Rekruten einer Westschweizer RS befragt, wie in der Schweiz denn ein Bürgerkrieg aussehen würde. Und siehe da, einige könnten sich durchaus den Röschtigraben als Frontlinie vorstellen. Irgendwann fragt man sich allerdings, wie suggestiv die Fragen gestellt wurden, so unangenehm (und klischeebefrachtet) fallen die Statements zum Teil aus.
Den lärmigen Misstönen der letzten Episode setzten die Produzenten in einem Nachwort noch ein paar konstruktiv versöhnliche Worte zum «Experiment Schweiz» (Friedrich Dürrenmatt) entgegen. Es wäre kaum nötig gewesen. Wie komplex die Lebenswirklichkeit in der Schweiz aussieht, hat der Dokumentarfilm gerade intelligent und anschaulich vorgeführt.