RUEDI WIDMER

GEMACHTE MÄNNER (SIBYLLE OTT, KLAUS AFFOLTER)

SELECTION CINEMA

Die dokumentaristische Auseinandersetzung mit der Armee hat in der Schweiz Tradition. Seit die Institution wankt (und schlankt), sind filmische Versuche der Demaskierung und des Widerstandes jedoch seltener geworden: Mit der Entwicklung der Zeit und des Gegenstan­des Armee ändern sich offenbar die Möglich­keiten und Interessen des filmischen Zugriffs.

«Gemachte Männer», die filmische Beglei­tung einer Sommer-Infanterie-Rekrutenschule, weist diesbezüglich zwei Hauptmerkmale auf. Einerseits bleibt der Blick offen: In einer chro­nologischen Abfolge sieht man typische Statio­nen und Situationen der Ausbildung, zentriert auf eine Gruppe von Rekruten, die sich spora­disch den Filmerinnen gegenüber äussern, zu­meist aber im RS-Alltag gezeigt werden. Ande­rerseits ist ein kritisches Interesse von Anfang an markiert - mit einem eingeblendeten Zitat von Erich Fromm, das dem Film als Motto dient: «Weshalb ist der Mensch so leicht bereit zu gehorchen, und weshalb fällt ihm der Un­gehorsam so schwer?»

Das Verhalten der Jünglinge bei der Aus­hebung, beim Ausgemessen- und Eingekleidet­werden, zeigt an: Man kommt in eine völlig andere Welt. Bei vielen ist der «gute Wille» zu spüren, die Pflicht hinter sich zu bringen, in­dem man sie über sich ergehen lässt. Seitens der Ausbildner wird andererseits versucht, sich mit der Dimension der primär äusserlichen - aller­dings ohne Konzessionen eingeforderten - Disziplin zufrieden zu geben. Die holprig formulierte Einführungsrede des zuständigen Obersten ist Ausdruck dieser stillschweigen­den Vereinbarung: Gibst du mir dein Wohl­verhalten, so lass ich dich in Ruh.

Im Laufe der Zeit normalisieren sich die geforderten Bewegungen des Ernstfall-Thea­ters - Umgang mit dem Vorgesetzten, Umgang mit der Waffe, Umgang mit dem Feind («Darf ich jetzt einen Kopfschuss abgeben?») -, wäh­rend die Mimik klarmacht, dass es noch eine Innenwelt gibt. Diese wird in Gesprächssitua­tionen gegenüber Dritten bzw. der Kamera relativ angstlos preisgegeben (ein Rekrut er­zählt davon, wie er einmal nachts aufwachte in der Achtungstellung, im «Männli»). Die Insti­tution hat dafür keine Verwendung, auch keine Wahrnehmung. Irgendwo im Grünen stellt ein institutioneller Seelsorger einer Gruppe von Rekruten die formelle und aussichtslose Frage nach Dingen, von denen sie geplagt werden: Schweigen im Walde, zementiert durch Übungsschüsse, die in der Nähe abgegeben werden.

«Gemachte Männer» erweist sich als ge­duldige filmische Zurkenntnisnahme einer in jedem Sinne durchschnittlichen heutigen RS-Situation. Das Lesen und Interpretieren, das Schlauwerden und Betroffensein wird durch den Film ermöglicht - nicht mehr und nicht weniger. Es ist ein sensibler Film, ohne scharf geschnittenes Gesicht, ohne jede «Dramatik» - sei es im Sinne emotional wirksamer Höhe­punkte, ausgeschöpfter Porträts oder eigent­licher Ereignisse, die einen Kontrast zum Trott - dem gemeinsamen Nenner jeglichen militä­rischen und nicht militärischen Lebens - bilden könnten.

Ruedi Widmer
geb. 1959, ist freier Journalist in den Bereichen Film und elek­tronische Medien, studierte audiovisuelle Medien und Philosophie in Paris und Zürich.
(Stand: 2018)
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