JEN HAAS

FIN DE SIÈCLE (JANN PREUSS)

SELECTION CINEMA

Versuchen die elektronischen Medien heute krampfhaft, möglichst authentische Gefühle zu vermitteln, muss die Fernsehreporterin Alison Lopez erfahren, dass ihr dies plötzlich nicht mehr gelingt. Sie steht auf dem New Yorker Times Square, zehn Minuten vor dem Jahrtau­sendwechsel. Die Masse ist ausgelassen, doch weshalb alle so fröhlich sind, kann ihr keiner in der riesigen Menge erklären. So macht sie sich zusammen mit ihrem Kameramann verzweifelt auf die Suche nach dem letzten - gehaltvollen - Interview in diesem Jahrhundert.

In einer Nebenstrasse wird die Fernseh­crew Zeuge eines Selbstmordversuchs: Ein voll gedröhntes Partygirl - Lily - stürzt sich aus dem Fenster und liegt verletzt am Boden. Alison wittert ihr Jahrhundert-Interview und folgt Lily, die sich wieder aufrafft, zurück in den Club. In einem Chill-out-Raum versucht Alison, ihr tiefgründiges Interview abzudre­hen, wird aber von den leeren Floskeln der Selbstmörderin enttäuscht. Alison scheitert zu­sehends, während Lily plötzlich den Sinn des Lebens in karitativen Projekten wieder ent­deckt. Lily stirbt in Alisons Armen vor dem tanzenden Disco-Publikum.

Jann Preuss’ Fin de siècle ist eine melan­cholisch-ironische Inszenierung der Genera­tion X im auslaufenden Jahrhundert. Hinter der glitzernden Kulisse der Medien- und Kon­sumwelt lässt sich der glamouröse Schein nicht mehr aufrechterhalten. Am deutlichsten macht dies Preuss, indem er abwechselt zwischen dem Standpunkt der Fernschberichterstattung und der nüchternen, objektiven Realität. Die anfänglich aufgegriffene formale Ironie, das Gegenüberstcllcn von Glitzer und Leere, kann er im Verlaufe der Geschichte aber nur schwer beibehalten. Die Bedeutungsebenen verschwin­den, und Fin de siècle wird zusehends ein­dimensional: Preuss konzentriert sich ganz auf das Innenleben seiner Figuren, die sich ihrer Sinnleere plötzlich bewusst werden. In diesen Momenten wirken die beiden Charaktere pla­kativ, ihre Handlungen nicht immer plausibel. Preuss spitzt seine ironische Gesellschafts­analyse melodramatisch zu und lässt sie im sur­realistisch inszenierten Tod Lilys enden.

Aussagekräftig und subtil hingegen ist der Schluss: Im Morgengrauen irrt eine Gruppe von Partygängern über die leer gefegten Stras­sen, auf der Suche nach einer weiteren Tanz­gelegenheit. «Kann mir jemand sagen, wohin wir eigentlich gehen?», lautet der Schlusssatz eines verirrten Partykindes.

Jen Haas
geb. 1968, studierte Soziologie, Film- und Publizistikwissenschaft an der Universität Zürich und arbeitet als freier Journalist in Zürich.
(Stand: 2018)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]