MARIA TORTAJADA

AUDE VERMEIL — WENN DIE SPRACHE DIE SEXUALITÄT HERAUSFORDERT – UND UMGEKEHRT

ESSAY

Mit einem bemerkenswerten und viel beachteten Film hält 1995 eine junge Regisseurin Einzug ins Kino: die dreissigjährige Genferin Aude Vermeil. Das «Scala» in Geni zeigt ihren ersten Langspielfilm Corps et âmes einen Monat lang. Fünf Monate hält er sich in den Pariser Kinos «Ursulines» und «Répub­lique», anschliessend wird er vom französischen Verleih Acadra national lan­ciert. In der Schweiz war Corps et âmes - ausser in Genf - 1994 in Locarno zu sehen; im gleichen Jahr wurde er am Festival von Pesaro gezeigt.1 Die Mehrheit der Kritiker hoben das reizvolle und mutige Konzept des Films hervor - einer­seits sein Thema: Sexualität heute; andererseits seine Durchführung: originell und eigenwillig sowohl in Bezug auf die Form als auch die Produktion. Die Mittel, die zur Verfügung standen, waren nämlich minimal: no000 Franken, und das für einen abendfüllenden Spielfilm. Alles in allem ein Werk, das sich deutlich von der Fülle der nationalen und internationalen Produktion abhob. Ausserdem weckte der Film die Begeisterung von Jean-Luc Godard und Anne­Marie Miéville. Godard liess ihm demonstrativ seine Unterstützung zukom­men, indem er ihn als Begleitfilm für die Premiere seines For Ever Mozart im Juni 1996 in Strassburg auswählte. Ein doppelt symbolischer Akt: Godard prä­sentierte in der Stadt des Europäischen Parlaments seinen Film über Ex-Jugo­slawien, um gleichzeitig - in einer Geste von internationaler Bedeutung - ein ausserordentliches Werk des zeitgenössischen Schweizer Filmschaffens vorzu­stellen. Während eines Monats wird Corps et âmes dem Strassburger Publikum parallel zu Godards Film gezeigt. Schliesslich kauft ihn das Westschweizer Fernsehen 1996 für zwei Vorführungen.

Ein Mann, Lou, eine Frau, Clara - die beiden sind ein Paar. So weit ganz normale Leute, mit einem bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Hintergrund, die sich in Künstlerkreisen bewegen. Ein paar Hinweise müssen genügen, um ihren Charakter oder ihren Lebensstil zu definieren. Erzählt wird keine Ge­schichte im herkömmlichen Sinn: keine Lovestory mit Anfang, Handlungskno­ten, Umschwung und tragischem oder glücklichem Ausgang. Es werden keine sexuellen Perversitäten, keine anstössigen Verhalten oder Vergewaltigungen beschrieben. Die Personen, die über ihre Sexualität sprechen oder sie leben, sind Menschen wie du und ich, und worum es geht, ist der mitteilbare Alltagsaspekt der Sexualität. Dem «Wesen der Sexualität» kommt der Film da am nächsten, wo es am unspektakulärsten zu- und hergeht.

Auf den ersten Blick also keine Höhepunkte erzählerischer Spannung, kein voyeuristisches Angebot für den Zuschauer. Und trotzdem wird man Zeuge von Krisen, Auseinandersetzungen, von Liebesspielen und Vertraulichkeiten zwischen dem Paar oder unter Freunden. Der Film inszeniert Situationen, in denen sich affektive Spannungen und Unzufriedenheiten, aber auch gemein­same Glücksmomente abspielen. Jedes Mal erfährt man etwas mehr über das Paar, wobei sich immer der Bezug zur Sexualität erahnen lässt - wenn auch ohne pornografische Szenen: Sexualität vollzieht sich nicht über den Blick. Nur ein sehr langer Kuss in einer leicht verzögerten, zehn Minuten dauernden Se­quenz. Allgegenwärtig hingegen ist die Sprache: Sie ist der absolute - aber auch problematische - Mittler der Sexualität im Film. Wenn man über Corps et âmes spricht, muss man auch Vermeils vorhergehenden Film miteinbeziehen: Je vais et je viens (1991), wobei das Zitat aus dem Chanson Serge Gainsbourgs genug über die Kontinuität der Werke aussagt.2 Beide Filme gehen derselben Frage nach, ohne sich deshalb zu wiederholen. Diese lässt sich in einem Satz von Georges Bataille zusammenfassen, den Clara in der ersten Einstellung von Corps et âmes zitiert: «Die Einheit des Seins zerbricht an der Sexualität.» Und genau dieses Zerbrechen wagt die Filmemacherin festzuhalten.

Das Filmschaffen in Genf - gestern und heute

Aude Vermeil liesse sich einer Tradition zuschreiben, die mit dem neuen Schweizer Film der Siebzigerjahre - und Filmemachern wie Alain Tanner, Mi­chel Soutter, Claude Goretta, also den Mitgliedern der so genannten Groupe 5 - entstanden ist. Mit ihren Filmen entwickelten diese Regisseure ein eigenes Verständnis von Kino und warfen einen neuen, anderen Blick auf ihr Land. Sie gaben aber auch der Filmproduktion in der Schweiz im Allgemeinen neue Im­pulse. Auch im Ausland wurden ihre Filme gern gesehen und geschätzt. In einem Kontext wohlgemerkt, in dem der Austausch rege und das Interesse für innovative Strömungen gross war. Die Filmemacher der Groupe 5 begannen mit kleinen Budgets und praktisch ohne Produktionsstrukturen. Sie arbeiteten weit gehend autonom und entwickelten eine originelle Ästhetik. Für einen Filme­macher heute sind die Voraussetzungen jedoch andere. Aude Vermeil arbeitet nicht in einem Umfeld, das nach neuen Filmemachern Ausschau hält, in dem eine ideologische und ästhetische Aufbruchsstimmung herrscht. Wenn sie heute in Genf dreht, kann sie nicht anders als von einer anderen Erfahrung ausgehen.

Anders zuallererst in Bezug auf ihren Werdegang: Während die Filmemacher der Siebzigerjahre sich ihr Wissen über die Arbeit beim Fernsehen an­eigneten - damals kam der Ausbildungsfunktion dieses Mediums viel Wert zu -, absolvierte Vermeil ihre Filmausbildung an der Genfer Ecole d’Arts visuels. Sie besuchte das «Atelier Albera», auf das sie sich beruft und das es sich zum Anliegen machte, begeisterten Filmliebhabern das Kino als Kunst näher zu bringen. Es verfolgte das Ziel, durch die Bekanntschaft mit Filmemachern, deren Ästhetik von den klassischen Regelkonventionen abwich, das Know-how und Wissen um ein anderes Kino zu vermitteln. Aude Vermeil lernte Jean-Marie Straub und Danièle Huillet, von Johan van der Keuken und Luc Mollet kennen, und sie konnte gemeinsam mit eingeladenen Filmemachern - Raoul Ruiz, Stephen Dwoskin, Boris Lehman und Claude Champion - über sechs Monate an der Realisierung von Filmen mitwirken. Mit diesen Regisseuren zusammen­zuarbeiten, hiess für Vermeil, das Drehen und Fertigstellen eines Films ausser­halb strikter finanzieller Gegebenheiten zu erlernen. Das bedeutete, zugleich grosse Freiheit zu haben und höchsten Ansprüchen genügen zu müssen. Oder anders gesagt: Filme zu realisieren - trotz allem.

Anders auch in Bezug auf die Produktion. Es gibt zwar ganz offensicht­liche Ähnlichkeiten, was das kleine Budget und den persönlichen Enthusiasmus in der Geldsuche für die Filmfinanzierung betrifft: Michel Soutter begann 1966 mit 30000 Franken für La lune avec les dents. Aude Vermeil produziert 1995 ihren Langspielfilm selbst: Dafür gründet sie die Productions Vermillon, die mit Beiträgen der Stadt Genf (50000 Franken), des Kantons (30000 Franken) und der Migros (30000 Franken) gespeist wird. Das Produktionsumfeld in den Neunzigerjahren allerdings unterscheidet sich stark von demjenigen, das Sout­ter in Zusammenarbeit mit der Télévision Suisse Romande (TSR) initiiert hat. Die Besonderheit der Groupe 5 war genau dieser Vertrag mit der TSR, worin jedem Filmemacher die Finanzierung eines Langspielfilms zugesichert wurde, wobei die Partnerschaft des Fernsehens ausschlaggebend für die Bundessub­ventionen war. Der Vorteil bestand darin, dass den Regisseuren bezüglich Form und Inhalt absolute Freiheit gewährt wurde. Heute ist die Produktionspolitik des Fernsehens und damit seine Funktion um einiges komplexer geworden. Man zieht spezifisch auf das Fernsehen ausgerichtete Produktionen vor, und Koproduktionen werden davon abhängig gemacht, inwiefern sie den Erwar­tungen eines Fernsehpublikums entsprechen. War die TSR früher eine der tra­genden Säulen des neuen Schweizer Filmschaffens, wird sie nun zum eigentlich kreativen Ort, wo aber eigene Regeln herrschen und zu dem keineswegs alle Filmemacher zugelassen sind. Weil das Fernsehen der französischen Schweiz Corps et âmes für die Ausstrahlung kaufte, erhält Vermeil, gemäss Succès ci­néma/Passage antenne, immerhin 15 000 Franken aus dem Bundesetat für ihren nächsten Film.

Anders auch, was die Filme selbst betrifft: Das Kino der Siebzigerjahre be­handelte - auf dem Hintergrund einer anderen gesellschaftlichen und national politischen Situation und zeitgleich mit anderen neuen Kinematografien - gesellschaftliche und politische Themen wie den Status von Ausländern, Geld, Arbeit oder Lebensumstände. Man dachte über die nationale Identität nach und versuchte, mit Mythen und Klischees aufzuräumen, die das Land in einem trügerischen Selbstbild einschlossen. Es entstand ein Kino, das im Alltag der Individuen und in einem konkreten Ort - in der Schweiz und sehr häufig in Genf - verankert war. Das beinhaltete, eine Stadt und urbane Räume zu zeigen, die sich den Menschen aufdrängten und ihr Leben bestimmten.

Die Werke von Vermeil machen sich keinen politischen Diskurs zu Eigen und auch keine allgemeine Gesellschaftskritik, obwohl sie von konkreten Ver­hältnissen ausgehen. Sie wenden sich auch keinem Anderswo zu, keinen frem­den Ländern, deren Exotismus bereits einen Grossteil an Anziehungskraft garantieren würde. An einem solchen Kino war die Eilmemacherin nicht inte­ressiert. Sie zog es vor, als Ausgangspunkt einen vertrauten Ort zu wählen, auf Grund dessen sich Fragen stellen, Dialoge entwickeln, ein Austausch möglich ist. Vermeils Film verbindet sich mit Genf durch die Strassen, die man sieht, durch den sprachlichen Akzent und die Gestik der Personen, die unausweich­lich mit der Stadt verknüpft sind: eine Genfer Prägung, den professionelle Schauspieler gut hätten verdecken können, die hier aber an jeder möglichen Stelle noch betont wird. Einerseits wird so das Alltägliche dieser «gewöhnlichen Leute» hervorgehoben, wenn sie von ihrer Sexualität sprechen. Andererseits entsteht durch die so eigenwillig prononcierten Dialoge eine Reibung: Die Diktion lässt den Zuschauer aufhorchen.

Und trotzdem enthält der Film eine Reflexion über die Gesellschaft. Der Ort entscheidet schliesslich, auf welche Art die Menschen mit Sexualität um­gehen, an ihn knüpfen sich die kulturellen Referenzpunkte: Die Figuren ge­hören zu einer bestimmten Schicht in einer westeuropäischen Stadt; ihre Aus­drucksweise richtet sich nach der Freiheit und den Beschränkungen, die das mit sich bringt - wohnen sie doch in einer Welt, in der Frauen und Männer zwar rechtlich, aber nicht unbedingt faktisch gleichgestellt sind. Ihre Kultur definiert die Grenzen der Beziehungen zwischen den Geschlechtern; Regeln werden auf­gestellt, Bahnen des Begehrens und der Verführung vorgezeichnet. Die Kultur erschafft aus ihren verschiedenen Elementen die begehrenswerten Objekte, zeigt Wege auf, wie diese zu erobern sind, und sie sagt, was zur Normierung und Unterscheidung der Geschlechter dient. Der Film ist insofern sozial, als er sich einer zutiefst intimen Thematik widmet und deren Mechanismen aufdeckt: Er thematisiert die Beziehung zwischen Frauen und Männern in der Ordnung des Begehrens, der sexuellen Praxis, aber auch in der des Alltags. Im Mittelpunkt steht die Sexualität, doch über sie hinaus wird das Leben des Paars geschildert. Denn alles ist verbunden: miteinander schlafen, einen Raum, eine Wohnung teilen, das gemeinsame Geld verwalten. Lou erzählt, wie er eine sehr grosse - und eher teure - Statue erstanden hat, die er in die Mitte des Wohnzimmers stellt. Ein Graus! Clara meint schliesslich: «Entscheide dich - entweder die Statue oder ich! » Solche Hindernisse begegnen dem Paar den ganzen Eilm über, und sie sind mit der geschlechtlichen Differenz verbunden: Was begehrt die Frau oder der Mann, wie kann der, die Betreffende Liebesbedürfnis oder sexu­elles Verlangen ausdrücken? Corps et âmes ist kein feministischer Film, der sich auf einer abstrakten Ebene für die Gleichheit einsetzt, sondern ein Werk, das sowohl dem Mann als auch der Frau das Wort erteilt, ihre Differenz konkret aufzeigt sowie die Bedeutung dieser Differenz für das Leben zu zweit heraus­arbeitet. Vermeil nimmt den Alltag des Paars unter die Lupe, indem sie beide sprechen lässt, beispielsweise, wenn ums Haushaltsgeld gestritten wird: Ich kann mit dem Monatsbudget umgehen, meint sie; während er, zur Rede gestellt, zugibt, das Geld gerne mit beiden Händen auszugeben. Schon ist die Krise da, der Ton wird aggressiv, die Worte überstürzen sich in gegenseitigen Vorwürfen:

Clara: «Dann reden wir doch darüber. Besprechen wir es ein für alle Mal! »

Lou: «Dass du auch immer nur vom Geld reden kannst. [...] Nie willst du von dir sprechen. Das ist wirklich mühsam.»

Clara: «Was soll ich von mir erzählen: Das ist das Problem [sie zeigt ihm das Porte­monnaie], Das und nichts anderes.»

Wie lassen sich Geld und Begehren zusammenbringen? Das Geld, das man teilt, das beiden gehört, das aber auch nach der Grenze zwischen den zweien fragt, nach dem Willen der einen wie des andern. Ebenso wie die Sexualität die Frage nach einer Grenze zwischen den zwei Körpern aufwirft, wo sie doch ver­langt, dass man sich einerseits selbst ganz hingibt und andererseits Macht über den andern erlangt. Der Film lässt sich für seine Dialoge vom Alltag inspirie­ren. Das ist eine Frage der Methode: Vermeil definiert ihren Ansatz als eine Mischung zwischen Fiktion und Dokumentation. Szenen, die auf Improvisa­tion beruhen, und minuziös festgelegte Sequenzen wechseln sich ab. Für ge­wisse Episoden schrieb die Filmemacherin die Dialoge, nachdem sie Gespräche aufgezeichnet, Freunde und Bekannte zu einem Thema befragt hatte. So for­muliert, erinnert das Konzept an dasjenige von Jean Rouch und Edgar Morin für Chronique d'un été (F 1960). Doch Vermeil zeigt die Sprechenden nicht vor der Kamera. Sie lässt die bearbeiteten Dialoge durch andere rezitieren: Die Leute sollen sich nicht mit einem so heiklen Thema exponieren. Ausserdem, stellt sie fest, geben die Menschen mehr von sich preis, wenn sie wissen, dass sie nicht gefilmt werden. Diese Methode erlaubt es ihr, eine Distanz zwischen Wort und Sexualität zu bringen. Sie bricht die Einheit der Aussage, die andern­falls nicht vor pathetischen Augenblicken gefeit ist, wie sich etwa bei Rouch und Morin zeigt. Das allererste Werkzeug dazu ist die Sprache: Sie bleibt auch in der unwichtigsten Filmsequenz zentral.

Worte - Bilder

Zwangsläufig stellt sich die Frage, ob Sexualität gezeigt werden muss, damit sie verstanden wird. Nein, meint Aude Vermeil: Das wäre entweder zu intim oder dann zu gespielt. Ausserdem möchte der Film die klischierte Darstellung ero­tischer Szenen vermeiden: das ineinander geschlungene Paar, Zärtlichkeiten und Körper, deren schwelgerische Inszenierung den Zuschauer zur Teilnahme und Identifikation einlädt. Diese Art der Darstellung bringt keine wirkliche Kenntnis der Sexualität, sondern trägt nur zu ihrer Idealisierung bei. Die Lö­sung, die Vermeil wählt, ist im Gegenteil, von der Sexualität zu sprechen, und zwar basierend auf realen Aussagen: Sexualität soll sich mit dem Wort messen.

Die westliche Tradition der Libertinage im 18. Jahrhundert hat sich in ihrer Auseinandersetzung im Wesentlichen auf die Beziehung zwischen Sexualität und Wort konzentriert. Der ausschweifende Liebesroman findet Gefallen an einer Sprache, die mit den Konventionen der Schicklichkeit spielt. Aus An­standsgründen darf nicht über Sexualität gesprochen werden, also nimmt man Umwege in Kauf, verwendet zweideutige Worte, mit denen man alles sagen kann, ohne etwas zu sagen. Man verwendet Euphemismen, Doppelsinnigkei­ten, kurzum eine gewundene und verspielte Sprache, die sich ganz und gar auf das Einverständnis der Gesprächspartner abstützt. Sexualität wird zwar dar­gestellt, denn was interessiert, ist die erotische Szene, aber immer geschieht dies indirekt oder verzögert. An die Stelle der unmittelbaren Darstellung treten die Gespräche, in denen man über das Begehren und das Vergnügen spricht, wenn auch nur verdeckt. Die Libertinage lässt die Verführung mittels Wortspielen stattfinden. Von Sexualität zu sprechen, ohne sie zu benennen, heisst, behutsam in ihre Domäne einzudringen. Mittels der Sprache wird gehandelt, verführt, das Begehren im anderen geweckt: Das Wort führt die sexuelle Begegnung herbei. Der Filmemacher Eric Rohmer ist ein Meister der Rede, er brilliert in diesem Diskurs der Verführung und gibt ihm gleichzeitig einen neuen Sinn. In seinen Filmen sprechen die Personen unaufhörlich und über alles, nur nicht über Sex.

In den Filmen von Aude Vermeil ist das Verfahren jedoch ein anderes. Die Sprache ist nicht libertinär, denn sie macht keine Umwege: Sie sagt direkt und oft ganz unverfroren, was der Film sich weigert, im Bild zu zeigen. Vor allem aber dient die Sprache nicht dazu, andere zu verführen. Die Personen hand­haben sie mit grossem Ernst, aber auch mit grossem Zutrauen. Sie erzählen sich ihre Probleme, setzen sie auseinander, vertrauen sich delikate Situationen an - als hätten sie noch nie etwas über den Zweifel der Moderne an der Eignung des Worts für die Kommunikation und die Vermittlung der Bedeutung gehört. Der Sinn ist das, was die Protagonisten suchen: den Sinn der Sexualität, der Bezie­hung zum andern. Die Sprache ist für sie ein Mittel, zu beschreiben und zu ver­stehen, und zwar in der Regel im Dialog, indem sie sich mit einem Zuhörer aus­einander setzen - nicht nur als Paar, auch unter Freunden, in der Familie. Zuhörer sind sehr wichtig; so etwa in der Szene, wo Clara im Auto mit einer jungen Frau von einer sie verletzenden Situation erzählt: Lou begehrte sie und streichelte ihren Körper, sie aber war mit den Gedanken ganz anderswo.

Sich jemandem anzuvertrauen und preiszugeben, hat nicht zuletzt die Funktion, sich Aufschluss über das eigene Befinden zu verschaffen. Und über andere zu sprechen, ist nicht zuletzt ein Vorwand, um von sich selbst zu sprechen. Im Bistrot verhandelt eine Gruppe von Freunden die Situation eines Paars, das sich trennt. Man sucht nach Gründen für das Verhalten des Mannes, der seine Frau und seine Kinder einer anderen wegen verlässt: im Namen der Liebe, sagen die einen; um sich seiner Verantwortung zu entledigen, die ande­ren. Man schöpft aus seiner Erfahrung, auf Grund eines Erlebnisses, um durch ein Beispiel, einen Vergleich zu erklären. Die Personen erzählen noch mehr Geschichten, analysieren sie, wie um sich mit ihnen zu bestätigen. Warum liebst du sie, wird Lou von einem Freund gefragt. Er versucht zu antworten. Clara ihrerseits - allein im Bild - liest einen Text: «Es tut mir immer weh, dir zu sagen, dass ich dich liebe. Trotzdem liebe ich es, dir zu sagen, dass ich dich liebe.» Problematisch wird es, wenn die Sprache zum Vehikel der Missbilligung, der Auseinandersetzung, der Konfrontation eines Paars wird.

Oft wird die aufzeichnende Befragung angewandt, oder man wagt die Form des Interviews. Auf diese Weise wird die Methode, von erarbeiteten Dialogen auszugehen, im Film sichtbar gemacht. Dieses Vorgehen erinnert an das Ci­nema vérité - noch einmal also an Rouch und an die Filme, die er beeinflusst hat, wie insbesondere diejenigen Godards. Man denke an das Interview mit der 19-Jährigen in Masculin/féminin (F 1966), wo Jean-Pierre Léaud die «wirk­liche» Maturandin vor einem Fenster befragt und sie über ihre Vorlieben, ihre Vergnügen, über das, was sie weiss und nicht weiss, sprechen lässt. Das Doku­mentarische und seine Befragungstechnik wird so in die Fiktion integriert. Ein ähnliches Verfahren kommt in der Szene zur Anwendung, wo Clara sich in einem Zug in Gesellschaft einer Person befindet, die wie ein Lehrer zu ihr spricht und jedenfalls eine Position des Wissens einnimmt. Sie spricht ihr Ge­genüber noch einmal auf das Begehren der Männer an und darauf, was es vom weiblichen Begehren unterscheidet. Die beiden schauen sich an, die Kamera fängt sie im Profil ein vor dem Fenster, hinter dem man die Landschaft vorbei­ziehen sieht - mit all den Beschleunigungen und Verlangsamungen eines Regio­nalzugs, dessen wiederholtes Innehalten das Hin und Her der Konversation rhythmisiert. Das Bild wechselt in wiegenden Weitwinkeleinstellungen von der einen zur andern Person - als Kontrapunkt zur unregelmässigen Bewegung des Zugs. Die Schnitte sind verdeckt, und man hat fast das Gefühl einer einzigen langen Einstellung. An dieser Stelle muss eine andere Sequenz von Godard erwähnt werden, die ihr sehr ähnelt: In La Chinoise (F 1967) sitzt die junge Revoltierende, gespielt von Anne Wiazemski, im Zug Francis Jeanson gegen­über und befragt ihn, der eine Instanz des Wissens verkörpert. Man kommt auf die Aktion zu sprechen, auf den revolutionären Kampf und seine Wirksamkeit. Vermeil lässt sich von dieser Szene inspirieren, aber die Interviewform, die sie anwendet, ist von der Gestaltung her ganz unterschiedlich. Sie verwendet eine lange Einstellung, wie dies wohl Straub tun würde, während Godard zahlreiche Schnitte verwendet und die Szene segmentiert.

Das Thema zieht sich durch den ganzen Film: Die Sprache ist von zentraler Bedeutung, aber sie gehört zu einer Bild- und Tonwelt, in die sie sich einfügen muss und die sie umwandelt. Die Personen mögen zwar zuversichtlich sein in ihrem Versuch, einander zu verstehen, und sie mögen sich alle Mühe geben, die Auseinandersetzung immer wieder aufs Neue zu beginnen: Nur werden sie der Sprache doch nie ganz Herr. Sie können sie nie ganz ausschöpfen, denn nur der Zuschauer hört und sieht sie ganz. Sie existiert nur in ihrer materialisierten Form, die der Film ihr gibt. Er entwickelt eine Leidenschaft für die Sprache wie für ein Objekt des Begehrens. Vertrauen in die Bedeutung kann also nur vom Zuschauer ausgehen. Geben denn all die Fragen, Beschreibungen und Erklä­rungen letztlich Aufschluss darüber, was Sexualität heute ist? Sicher nicht. Der Film knüpft Episoden aneinander und gibt eine Reihe von Antworten, die sich häufig noch widersprechen. Aus den gezeigten Situationen lässt sich sexuelles Verhalten als Ganzes nicht rekonstruieren, weder auf einer theoretischen noch erzählerischen Ebene.

Die Sprache wird fragmentiert und reduziert. Der Film zerstört in gewisser Weise ihre Einheitlichkeit, die grundlegend ist für das Vertrauen, dass sie alles umfassen und erklären kann. Angefangen mit dem Subjekt, das spricht. Der Film zeigt, dass die Sprache nicht fähig ist, Rechenschaft über die Erfahrung eines Individuums zu liefern. Das zeigt sich im Auseinanderbrechen der Ge­schichte, die zusammenhanglose Situationen aneinander reiht: Momentaufnah­men aus dem Leben, aus einer Diskussion. Vom ersten Erscheinen des Paars an ist das Thema gegeben: Beide liegen ausgestreckt auf dem Bett, werfen sich hie und da Blicke zu. Obwohl sie teilweise entkleidet sind, steht nicht die Erotik, sondern die Sprache im Vordergrund. Trotzdem handelt es sich nicht um einen Dialog, sondern eher um ein Gegenüberstellen von Geschichten, sexuellen Er­fahrungen, Eindrücken, sexuellen Vorlieben. Es hört sich an wie ein Gespräch, doch die Erwiderungen bleiben voneinander durch Zeitpausen getrennt, die einen unmittelbaren Austausch, den mutmasslichen Dialog Lügen strafen. Die Reihung erlebter Geschichten ist Indiz für die Fragmentierung erzählter Er­fahrung. Nichts weiter als ein Mann und eine Frau, die sprechen, die aber in sich mehrere Sprecherinnen vereinigen, wobei die Grenze des Geschlechts überschritten wird. So kann Clara unter anderem die Erfahrung eines Mannes erzählen:

Clara: «Dank der Sexualität habe ich immer überlebt. [...] Als ich verheiratet war, war ich häufig bei Prostituierten, das stimmt. Und nahm an einer Art Sexpartys teil, aber ohne meine Frau. Das ergab für mich eine Art Ausgleich. Ich glaube, dass ich alles, was ich weiss, dank der Sexualität weiss [...].»

So zerstört der Film auf vielfache Weise die Einheit der Personen und der Situa­tionen. Die Streitszene, die weiter oben beschrieben wurde, ist zu Beginn stumm. Erst nach einer gewissen Zeit wird der Zuschauer auf den fehlenden Ton aufmerksam. Das Gespräch im Zug wird durch das Quietschen der Wag­gons, die Vibrationen, das Anhalten und Abfahren interpunktiert. Gelegentlich überwiegt die Geräuschspur mit dem Lärm der Geleise, und die Sprache wird praktisch unhörbar, oder der Ton wird gänzlich ausgeschaltet, und ein paar Sekunden lang mutiert der Film zum Stummfilm.

Ebenso wie verhindert wird, dass man die Frage der Sexualität auf einer intellektuellen Ebene abhandelt, wird verunmöglicht, einer Person einen be­stimmten Sexualcharakter zuzuschreiben, was die Voraussetzung wäre für die Entwicklung einer Erzählstruktur. Sexualität wird also nur in der Distanz zwi­schen Sprache und Sprechendem fassbar. Aber um das zu erreichen, muss die Sprache zuerst Gestalt gewinnen. Die Rede muss in ihrer Materialität zu exis­tieren beginnen, in ihrer Sinnlichkeit, die sie mit dem Bild verbindet, den Ein­stellungen; man muss ihr Spielraum lassen. Nicht alle Szenen sind mit Bedeu­tung beladen. Manchmal wird die Sprache einfach zum Lied. Dies ist der Fall in einer zentralen Szene, die auf eine direkte Befragung des Paars gänzlich ver­zichtet: zwei Frauen, Clara und eine Freundin. Zuerst sehen wir nur grünes Gras, das das Bild ausfüllt, dann hört man zwei Stimmen L’aigle noir von Bar­bara singen, dessen Text jedoch bald versiegt. Dann ein anderes Lied, an das sie sich aber auch nur stückweise erinnern. Die Kamera bewegt sich, bis ein Fuss im Bildausschnitt erscheint, sie folgt dem Körper, bis beide Frauen zu sehen sind. Ausgestreckt im Gras, bilden sie einen rechten Winkel. Clara liegt mit dem Kopf auf dem Bauch ihrer Freundin. Die Farben leuchten, der Raum erstreckt sich nur in zwei Dimensionen. Bedeutungslosigkeit, Sorglosigkeit, Trägheit, Weiblichkeit, Verschworenheit: Das alles ist in dem Bild enthalten. In ihrer Zentralität lässt sich die sinnliche Einstellung als Frage lesen, als eine Art Rät­sel. Was haben Frauen zu sagen? Was wissen sie, die eine wie die andere, über Sexualität? Die Frage artikuliert sich nicht in der Rede, sondern über die Ein­stellung.

«Er, sie, er, sie, er, sie, er, sie ... sie, sie ... sie sie er, er, er ...», sagt eine weib­liche Stimme in einer anderen Szene etwas später vor sich hin - und spielt dabei mit dem Ton, dem Akzent, dem Rhythmus in einer ansonsten stummen Se­quenz, in der das Paar Besuch von einer Freundin erhält. Die Silhouetten über­lagern sich in Doppelbelichtung, wenn die Personen sich bewegen, und sie sprechen, ohne dass der Zuschauer sie hört. Der Bruch wird reduziert und im eigentlichen Sinn offen gelegt: im Verlust des eigenen Ich, in der Abspaltung der Identität von der Person, in der Trennung von Körper und Stimme, einschliesslieh der Definition des Geschlechts - Mann oder Frau. «Die Einheit des Seins zerbricht an der Sexualität»: Genau das bringt der Film ins Spiel, indem er diesen Bruch des sexuellen Akts in der Erotik der eigenen Ästhetik nachahmt.

Von Corps et âmes zu sprechen, heisst immer auch ein wenig, Je vais et je viens zu beschreiben. Aude Vermeil dreht nicht einzelne Filme, sie verfolgt ein Projekt. Ihr Prinzip ist aber nicht das der Wiederholung, sondern das der Varia­tion eines Themas, mitunter auch in Form eines Paradoxes: Ihr nächster Film soll ein Muskelmänner-Film im Stil der italienischen Gladiatorenstreifen der Sechzigerjahre werden, aber ohne Schlachten und ohne Helden. Ein Film über Sexualität in der Antike, der uns - wieder - auf uns selbst verweist.

Übersetzung: Doris Senn

Der Film erlebte zwei Vorführungen an der Lausanner Universität, und zwar im Rah men einer Vorlesungsreihe der Abteilung Ge­schichte und Ästhetik des Films; dabei han­delte es sich allerdings nicht um kommerzielle Vorführungen.

Zuvor noch hatte Aude Vermeil den Su- per-8-Film Loc et Soulot vont en bateau (1987) gedreht - eine Mischung aus Fiktion und Do­kumentation über die Wohnungsnot in Genf.

Maria Tortajada
ist Assistenzprofessorin für Filmwissenschaft an der Universi­tät Lausanne. Verantwortliche Herausgeberin des zweiten Bandes von Histoire du cméma suisse (1966-2000), einem gemeinsamen Projekt der Cinémathèque suisse und der Universität Lausanne.
(Stand: 2018)
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