ANDREA REITER

INCRESCHANTÜM (STEFAN HAUPT)

SELECTION CINEMA

Ende des letzten Jahrhunderts lebte im Enga­din ein blinder Musikant namens Fränzli Josef Waser. Er war jenischer Abstammung, was seinen musikalischen Stil prägte. Seine Eltern hatten sich im Engadin niedergelassen. Eine Legende besagt, dass Fränzli, mit einem genia­len Musikgehör gesegnet, zur Zeit des aufkom­menden Tourismus von einer Baronin entdeckt und nach Mailand eingeladen worden war, um dort sein bereits wundervolles Geigenspiel zur Vollendung zu bringen. Doch packte ihn so stark das Heimweh («increschantüm»), dass er bereits zwei Wochen später in seinem Stamm­lokal wieder die musikalische Leitung über­nahm.

Die Gruppe Ils Fränzlis da Tschlin hat sich als thematische Basis Fränzli J. Waser und seine Musik, durch Generationen überliefert und später schriftlich festgehalten, für ihre eigene musikalische Ausrichtung genommen. Sie will die Tradition der Engadiner Volks­musik aufrechterhalten, die hörbar durch die Musik der Fahrenden, die das Engadin bereis­ten, aber auch durch die musikalischen Weisen der (vom Heimweh gepackten) Exil-Engadiner beeinflusst wurde. Den fünf Musikern der Band, alles Männer im mittleren Alter, ist daran gelegen, das Erbe der Volksmusik zu pflegen und zugleich aktiv mitzugestalten. Die Innova­tion der traditionellen Musik ist ihnen ein An­liegen: Alle komponieren sie für ihre Band, und viele ihre eigenen Stücke sind ein verwobener Klangteppich aus Moderne und Volksmusik.

All diese Informationen vermittelt Stefan Haupt in seinem solid gearbeiteten Dokumen­tarfilm, der weit mehr ist als ein Musiker­porträt. Ohne sich auf experimentelle Formen einzulassen, folgt der Film dem Schema, durch Interviews und das Begleiten durch den Alltag der wesentlichen Personen sowie durch histo­risches Bildmaterial ein möglichst abgerunde­tes Ganzes zu schaffen. Increschantüm ist eine spannende Einführung in ein Stück wenig be­kannter schweizerischer Kulturgeschichte.

Ausserdem vermittelt der Film mit schö­nen, stimmigen Bildern die Geschichte des En­gadins von Emigration und Heimkehr. Fami­lienfotos und vor allem alte Filmbilder, leicht verfärbt und grobkörnig, zeigen das Leben um die Jahrhundertwende. Die typischen Bilder des Engadins von heute - Pferdeschlitten, ein schneebedecktes Sankt Moritz mit seinen alt­eingesessenen Hotels und Schlittschuh laufen­den Menschen auf den zugefrorenen Seen - wurden damals schon als besonders typisch für das Engadin festgehalten.

Das Stimmungsbild, das Stefan Haupt mit seinem Dokumentarfilm sehr eindrücklich er­fasst und über ihn hinausweist, ist das sehn­süchtige, mit dem Engadin verbundene Gefühl nach Geborgenheit. Diese Stimmung kann jede und jeden im Engadin befallen und ein Leben lang nicht mehr loslassen; Increschantüm deu­tet sie, wie der Name schon sagt, als Heimweh.

Andrea Reiter
geb. 1973, Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Philosophie.
(Stand: 2018)
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