ANDREA REITER

LUIGI EINAUDI. DIARIO DELL'ESILIO SVIZZERO (VILLI HERMANN)

SELECTION CINEMA

Luigi Einaudi (1874-1961), italienischer Fi­nanzwissenschaftler und liberaler Politiker, gab zwischen 1948 und 1955 als erster Staatspräsi­dent der Nachkriegszeit Italien positive Im­pulse für eine Zukunft mit weitreichender ge­sellschaftlicher Toleranz.

Als Turin 1943 von der deutschen Wehr­macht okkupiert und eine von Deutschland abhängige faschistisch-republikanische Regie­rung gebildet wurde, kam für Luigi Einaudi nur eine Flucht ins sichere Ausland in Frage. In den Jahren 1943/44, in denen sich Einaudi im schweizerischen Exil aufhiclt, schrieb er sein Diano dell'esilio, das 1997 veröffentlicht wurde. Anhand dieses Textes hat Villi Hermann die Exilerfahrungen Luigi Einaudis nach­gezeichnet. Die Erinnerungen werden vom italienischen Schauspieler Omero Antonutti vorgelesen, der verschiedentlich selbst im Bild erscheint, wodurch der Aspekt des Hinein­lesens in die Lebensweise, die Gedanken und Handlungen Einaudis und des Wandclns auf dessen Spuren auf interessante Weise einsichtig gemacht wird.

Die Tagebucheintragungen enthalten ne­ben einer Reihe von Überlegungen zu den damaligen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in Italien viele Passagen über All­tagserlebnisse und persönliche Erfahrungen. Zugleich berichtet der politisch Engagierte aus­führlich über seine Kontakte mit anderen Exi­lierten, mit denen er sich kritisch auseinandersetzte. Diese Menschen hat Villi Hermann auf­gesucht, um von ihnen einen anderen Blick auf die Informationen aus Einaudis Tagebuch zu gewinnen und daraus einen abgerundeten, viel­schichtigen Dokumentarfilm zu drehen.

Die Struktur des Films basiert einerseits auf der zeitlichen Linearität des Tagebuchtextes, «andererseits auf dem regelmässigen Auf­greifen vielfältigen historischen Nachrichten­film-Materials, auf Bildern des Fotografen Christian Schiefer sowie auf der rhythmischen Wiederkehr malerischer Bilder von italieni­schen Berglandschaften, in denen die Einaudis heimisch waren.

Doch trotz der ausgewogenen Montage von Interviewsequenzen, historischem Bild­material und den Weiten der Landschaft, die Möglichkeit zum Nachdenken geben mögen, da sic einen Ruhepol innerhalb der informa­tiven Sequenzen darstellen, bleibt der Doku­mentarfilm oft zu sehr an der Oberfläche. Die Mischung aus poetischer Inszenierung des Tagebuchs und punktuellem Herausgreifen historischer Ereignisse in Italien vernachlässigt eine genaue Aufarbeitung vieler Themen, die in den einzelnen Statements der Zeitzeugen an­gedeutet werden. Scharfe Kritik an Einaudis Flucht zum Beispiel an Stelle aktiver Partisa­nentätigkeit im eigenen Land oder die Kritik an Einaudis politischer Linie nach dessen Rück­kehr werden nicht aufgegriffen und hinterfragt, sondern stehen unvermittelt neben wohlwol­lenden Äusserungen über seine Tätigkeiten im Exil, seinen ökonomischen Forschungen in der Schweiz und seinen Bemühungen, stets den politischen Kontakt zu Italien zu wahren. Die vielen Aussagen stehen oft unvermittelt im Raum und vermögen es nicht, dem Zuschauer weiter reichende Kenntnisse über das gesamte Leben Einaudis und dessen Aufstieg zum be­deutenden Staatsmann zu geben.

Andrea Reiter
geb. 1973, Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Philosophie.
(Stand: 2018)
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