PATRICK STRAUMANN

BLUE END (KASPAR KASICS)

SELECTION CINEMA

Joseph Paul Jernigan, ein vorbestrafter Krimi­neller, der im Lauf eines Einbruchs einen zu­fällig anwesenden Zeugen umbringt, wird kurz nach der Tat verhaftet und zum Tode verurteilt. Blue End verfolgt Jernigans Schicksal von sei­ner Jugend bis ins Jahr 1991, als eine letale In­jektion seiner Existenz in einem texanischen Gefängnis ein Ende setzt. Kasics, der die Ver­wandten, das Gerichts- und das Gefängnisper­sonal besucht, gelingt es dank seiner einfühl­samen Interviewtechnik, Jernigans persönliche Geschichte aus der Anonymität der Fallstudie zu lösen und dessen privaten Lebenslauf im Spiegel der Zeugenaussagen nachzuempfinden. Gleich in der ersten Szene des Films, als sich ein Arzt über die technischen Schwierigkeiten bei der Zertrennung von Sehnen, Muskelfasern und der Hirnmasse eines tiefgefrorenen Kör­pers auslässt, zeichnet sich jedoch ab, dass sich die Thematik von Blue End nicht auf die Chro­nik eines angekündigten Todes beschränken wird. Im Unwissen, dass die tödliche Spritze auch all seine Organe vergiften würde, hat Jernigan seinen Körper der Wissenschaft ver­macht. Die Geste, die sein Umfeld als einen altruistischen Versuch interpretierte, sein Ver­brechen zu sühnen, ermöglicht es einer Univer­sität, das Visible Human Project zu realisieren: Jernigans Körper, in Scheiben geschnitten, wird abgelichtet und via Internet in bester Jahr­marktmanier als «transparenter Mensch» aus­gestellt.

Es liegt nicht nur am Reportagestil, in dem der Film gehalten ist, dass Blue End trotz seines Potenzials kurz nach der Exposition verflacht; sein Scheitern ist in erster Linie der Anlage des Films zuzuschreiben, das zwei Themen vereint, die nur in einem anekdotischen Zusammen­hang stehen. Selbst wenn die Erzählung von Jernigans Leben sozialpolitisch brisant ist: Der Stoff ist in erster Linie filmgerecht, und nicht nur, weil der Schnitt hier konkret die Möglich­keit erlangt, die menschliche Identität, die der chirurgische Cut erst zerstört hat, zu rekons­truieren. Im Ausleuchten der spezifischen Be­ziehung zwischen Körper und Seele bewegt sich der Film auch in einer Tabuzone, die, von Vesalius’ Anatomiestudien bis zu den Filmen von David Cronenberg, der bildlichen Darstel­lung stets zu stimulierenden Impulsen verhalf. So übersteigt die Thematik die Frage der Schuld und Sühne des einzelnen Falls und be­dingt eine Distanz, tür die sich die individuelle Sympathiekundgebung als hinderlich erweist. Im Bestreben, Jernigan zumindest postum mit Respekt zu begegnen, siedelt der Autor von Closed Country (1999) die Schnittstelle zwi­schen Ästhetik und Ethik diesseits der filmisch innovativen Grenze an und überlässt es der amerikanischen Öffentlichkeit, die metaphysi­sche Dimension des Visible Human Project auszuloten. So fragt sich das Guinness-TV, ob der «Serial Killer» nun über ein ewiges Leben verfüge, während der Staatsanwalt, der in sei­nem Plädoyer die alttcstamentarische Über­zeugung äussert, Jernigan würde am Tag seines Todes durch die Höllenpforte schreiten, als Gegner der Todesstrafe auftritt: In seinen Augen besteht die ultimative Strafe nicht in der Exekution, sondern in der lebenslänglichen Haft.

Patrick Straumann
geb. 1964, studierte Filmwissenschaft, arbeitet als freier Filmjournalist, lebt in Paris.
(Stand: 2018)
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