DORIS SENN

LA DIFFÉRENCE (RITA KÜNG)

SELECTION CINEMA

Die Stärke des Animationsfilms liegt in sei­nen Darstellungsmöglichkeiten der uneinge­schränkten Transformation. Er bietet Wunsch und Wirklichkeit gleichermassen ein Zuhause und teilt sein Reich mit Märchen und Fabel, wo das Wunderbare sich ganz selbstverständlich in die Welt des Realen fügt. Was liegt da näher, als sich zum T hema einer filmischen Animation der Wandlung par excellence anzunehmen: nämlich derjenigen der geschlechtlichen Iden­tität? Im Alltag von jeder und jedem kontras­tieren in der Regel Fremd- und Eigenbilder in ernüchternder Weise. Geht es um Schönheits­ideale und sanktionierte Geschlechterrollen, spitzt sich die ernüchternde Konfrontation zwischen realen Gegebenheiten und Sehnsüch­ten der Fantasie oft noch zu. Die Diskussion um Transgender möchte nicht zuletzt die gesell­schaftlichen Normen rund um die geschlecht­liche - und damit verbundene körperliche - Identität sichtbar machen, sie aufweichen und mögliche Grenzen durchlässiger gestalten.

Einen solch spielerischen Umgang mit Rollen und Identitäten thematisiert Rita Küngs schwungvolle und virtuos gezeichnete Anima­tion (schwarzer Konturenstrich mit aquarel­lierten Flächen). Die Handlung spielt in einer Bar - an der Theke eine etwas traurige Gestalt, die sich über ihr Weinglas beugt, mit roten Lip­pen und Bartstoppeln und mit reichlich spries­senden Brusthaaren im weiten Ausschnitt. Ver­liebte Blicke Richtung Barman, der seiner Arbeitsroutine nachgeht, verfehlen ihr Ziel. Und doch nimmt das Begehren Form an: wenn sich der ausgeleertc Wein auf der Theke zur sinnlichen Schönen wandelt, die sich wollüstig räkelt unter den «Zärtlichkeiten» des Bar­mixers - der die rote Flüssigkeit aufwischt. Oder wenn sich unter dem Wasserstrahl des Abwaschbeckens die betörende Venus Botti­cellis reckt und streckt. Oder wenn den Rauch ringen der Zigarette eine üppig ausgestattete Eva entsteigt, die ihrem Adonis auf der Mond­sichel zuschwebt. Doch die Träume sind von kurzer Dauer, die farbenprächtigen Gedankenspiele verflüchtigen sich im trostlosen Grau­blau der Bar-Einöde.

Erst der Gang in die Toilette bringt Bewe­gung in das scheinbar Festgefügte: Der Barman enthüllt sich als Barwoman. Ihr gestreiftes Gilet wird zum wundersamen Chamäleon, das die ebenfalls in der Abgeschiedenheit des Klos gelandete Möchtegern-Venus mit seiner langen Zunge zur Traumfrau leckt. Verkehrte Welt - oder: Alles ist möglich. Jedenfalls sitzt jetzt nicht mehr wie zu Beginn von différence ein knallig-rotes Chamäleon auf dem Kristall­leuchter, umschwirrt von einem brummenden Insekt - nun umschwärmt das Chamäleon den glitzernden Lüster unter dem wachsamen Auge des in der Mitte platzierten Käfers. Ein mit Bravour umgesetztes, heiteres Spiel um Sein und Schein, um Liebe und Narzissmus, das auch international viel Anerkennung einge­heimst hat.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]