ANDREA REITER

EIN NEUER ANFANG (THOMAS LÜCHINGER)

SELECTION CINEMA

Thich Nhat Hanh ist ein im französischen Exil lebender, vietnamesischer Zen-Meister, der zu­sammen mit der buddhistischen Nonne Chan Khong von der Buddhist Association of China eingeladen wurde, einige bedeutende, im Wie­deraufbau begriffene Klöster in China zu besu­chen. Sie sollten das langsame Aufblühen der buddhistischen Klosterkultur in China kennen lernen, die seit der Kulturrevolution und der Gründung der Volksrepublik gänzlich unter­drückt worden war, zugleich stand der Aus­tausch zwischen westlichem und chinesischem Buddhismus im Zentrum ihres Besuches. Be­gleitet wurden die beiden von einer 180-köpfigen Delegation buddhistischer Vertreter aus 16 Nationen sowie von Thomas Lüchinger und seiner Crew, die die Erfahrungen der Reisen­den sowie die Vermittlung der buddhistischen Lehre dokumentarisch festhalten wollten.

Ein neuer Anfang verfolgt ein Konzept des distanzierten, beobachtenden Dokumentierens, bei dem die Realität unmittelbar fest­gehalten werden soll. Eine eingeschränkte Bildqualität auf Grund der unkontrollierbaren Lichtverhältnisse wird bei dieser Technik in Kauf genommen. Lüchinger drehte mit einer digitalen Kleinstkamera, die es zulässt, aus der Hand zu filmen und dabei möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen. So zeichnete er die Geschehnisse und die buddhistische Lebens­weise auf und filmte Gespräche mit Thich Nhat Hanh, Chan Khong und einzelnen Mitgliedern der Delegation.

Ähnlich wie in seinem vorhergehenden Dokumentarfilm Schritte der Achtsamkeit (1998), in dem Lüchinger Thich Nhat Hanh auf dessen Reise nach Indien begleitete, liegt der Schwerpunkt des Films auf der Vermittlung der Lehre des Zen-Meisters. Bilder von Zeremo­nien und Meditationsübungen - mit vielen Grossaufnahmen einzelner Personen - prägen den Film. Politisch-kulturelle Bezüge und die aktuellen Ereignisse während der Reise können im Film nur angedeutet werden. Die Bombar­dierung der chinesischen Botschaft in Belgrad durch die Nato wenig vorher führte zu ver­schärften Sicherheitsmassnahmen in China gegenüber ausländischen Besuchern. Dies hatte eine ständige Überwachung der Delegation zur Folge, was jedoch in neuer Anfang in den Hintergrund tritt, ohne reflektierend aufgegrif­fen zu werden. Spannend wird es aber gerade dort, wo Irritationen zwischen chinesischen und westlichen Buddhisten sichtbar werden, es zu Konfrontationen kommt oderdas politische Klima durch heikle Situationen und Einschrän­kungen, die die Delegation im Laufe ihrer Reise immer wieder erfuhr, ersichtlich werden.

So ist dieser Film in seiner distanzierten Haltung mit seinen schönen, ruhigen Bildern und den seltsam anmutenden, meditativen Klängen ein faszinierendes Porträt über die An­näherung westlicher buddhistischer Vertreter an den zu neuem Leben erwachten chinesischen Buddhismus.

Andrea Reiter
geb. 1973, Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Philosophie.
(Stand: 2018)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]