FRED TRUNIGER

SPURENSUCHE IM KREISVERKEHR — VOM SEHEN AUS DEM FAHRENDEN AUTO

ESSAY

Mit Hilfe der Askese soll es manchen Buddhisten gelingen, eine ganze Landschaft aus einer Saubohne herauszulesen.

Roland Barthes

Nimmt der moderne Mensch Landschaft wahr, ist er normalerweise unterwegs. Sein Landschaftssehen ist ein Sehen in Bewegung. Mobilität ist damit in zwei­facher Hinsicht Gestaltungsparameter unserer Landschaften. Erstens ist das Land, das wir im Unterwegssein sehen, vom Verkehr funktionalisiert und nach den Bedürfnissen der Mobilität geformt. Das Resultat sind Transitlandschaften: Korridore von Grün, die am Reisenden vorüberziehen, denen ihre Funktion als schnelle, homogene Verbindungsstrecke ihren Stempel aufgedrückt hat. Zweitens aber sollen diese Landschaften schön sein, denn sie sind dazu da, um gesehen zu werden. Gestaltung in ästhetischem Sinne tut Not. Eine Gestaltung, die dem Umstand gerecht wird, dass der Mensch, der mit 50 bis 300 Stunden­kilometern unterwegs ist, nur noch grosse Formen in grosser Entfernung deut­lich wahrzunehmen in der Lage ist. So entstehen spezifische Landschaftstypen der Geschwindigkeitswahrnehmung.

Angefangen hat alles mit der Eisenbahnreise. Dem Zugreisenden, dessen Blick quer zur Reiserichtung in die Landschaft hinausschweift, ist es nicht mög­lich, das Nahe zu erkennen. Zu schnell schiesst es vorüber und lässt ihn nur die weiter entfernten, grösseren Dinge deutlich unterscheiden: Sie sind mit schein­bar kleinerer Geschwindigkeit unterwegs und verharren damit länger in seinem Blickfeld, ln einer sich so verflüchtigenden Landschaft trennen sich die bis anhin kontinuierlich ineinander übergehenden Räume des Reisenden und der Welt um ihn herum. Der Reisende ist nicht mehr länger Teil des Vordergrundes in seinem eigenen Wahrnehmungsraum, denn der Vordergrund hat proportio­nal zur Erhöhung der Geschwindigkeit zu existieren aufgehört. Doch «über den Vordergrund bezog sich der Reisende auf die Landschaft, durch die er sich bewegte. Er wusste sich selber als Teil dieses Vordergrundes, und dies Bewusst­sein verband ihn mit der Landschaft, band ihn in sie ein, so weit in die Ferne sie sich erstrecken mochte. Indem durch die Geschwindigkeit der Vordergrund verschwindet, geht diese Raumdimension dem Reisenden verloren. Er tritt aus dem «Gesamtraum», der Nähe und Ferne verbindet, heraus.»1 Wolfgang Schivelbusch nennt den Blick aus dem Abteilfenster des Zuges den panoramati­schen Blick. Sein wichtigstes Merkmal ist die Trennung des Raums des Subjekts von demjenigen der wahrgenommenen Gegenstände.

Der Zug als Seh-Apparat, der den wahrgenommenen Raum mit einer kaum wahrnehmbaren Schranke aus Glas und Geschwindigkeit in zwei Sphären trennt, wird für den Reisenden des frühen 19. Jahrhunderts erst nach und nach zur Normalität, nachdem er sich an die neue Reizqualität des Reisens mit gros­ser Geschwindigkeit gewöhnt hat. Die Mobilität, eben noch «Agent der Wirk­lichkeitsauflösung», schuf damals die Grundlage für einen neuen Modus des Sehens, für den es die «Erfahrung der Verflüchtigung» der Landschaft nicht mehr gibt, «weil die verflüchtigte Wirklichkeit seine neue normale Wirklichkeit geworden ist».2

Der panoramatische Blick aus dem Zugabteil, den Schivelbusch beschrieben hat, markiert das erste Auftauchen dieses neuen Wahrnehmungsmodus in der Landschaftsbetrachtung, dessen wichtigste Konstituenten die Geschwindig­keit, der Verlust des Vordergrundes und die räumliche Trennung der Sphären des Betrachters und der betrachteten Landschaft sind.3 Das Medium, in wel­chem dieser Seh-Modus der verflüchtigten Wirklichkeit künstlerisch wirksam geworden ist, ist der Film, dessen Rezeptionssituation im Kinosaal mit derjeni­gen aus dem Abteil des Zugfensters korrespondiert. Den zwei Räumen der Bahnfahrt, dem scheinbar unbeweglichen Zugabteil und der aussen vorbeizie­henden Landschaft, entsprechen der Zuschauerraum des Kinos und der auf die Leinwand projizierte filmische Raum. Die Wahrnehmungserfahrung der Land­schaft in schneller Bewegung hat das Sehen im Schritttempo als Normalfall abgelöst, während gleichzeitig die bewegte Landschaft des Films in der künst­lerischen Rezeption die unbewegte Natur der Landschaftsmalerei zunehmend verdrängte. Das Landschaftsbild des modernen Menschen ist durch das schnelle Reisen und den Illusionsapparat des Films in Bewegung geraten.

Die Mobilität einer mehrheitlich urbanen Bevölkerung im 19. und 20. Jahr­hundert hat auf die Natur eine ähnlich starke Wirkung ausgeübt, wie die tech­nischen Errungenschaften der Landwirtschaft, die in den Jahrhunderten davor zu einer Urbarmachung der unwegsamen Natur und damit erst zu jener natür­lichen Umgebung geführt haben, die wir heute Landschaft nennen. Ein wenig Statistik: 1985 waren 2 Prozent der Fläche der Schweiz durch den Verkehr ge­nutzt. Im Zeitraum zwischen 1985 und 1997 wuchs diese Fläche um 12 Prozent. In Ballungsräumen beträgt der prozentuale Anteil des Verkehrs am Raumver­brauch inzwischen bis zu 3 Prozent. Mehr als sieben Achtel dieser Flächen wird durch den Strassenverkehr beansprucht, der entsprechend auch über 80 Prozent des gesamten Verkehrsaufkommens in der Schweiz ausmacht. Somit beruht - statistisch gesehen - für vier Fünftel der Schweizerinnen die wahrscheinlichste Form ihrer direkten Erfahrung von Landschaft auf einer täglichen, im Durchschnitt 84 Minuten langen Fahrt mit einem privaten Strassenverkehrsmittel, während der sie die Umgebung durch ein Fenster wahrnehmen.4 Die meistrezipierte Landschaft in der hypermobilen westlichen Gesellschaft ist damit die gebaute Transitlandschaft am Rande unserer Nationalstrassen. Ange­sichts solcher Zahlen scheint es an der Zeit, unseren immer noch von der klas­sischen Landschaftsmalerei und der Landschaftsfotografie geprägten Begriff zu korrigieren und uns mit den Landschaften in Bewegung zu befassen, die unse­rer täglichen Erfahrung entsprechen. Der Film ist das geeignete Medium dazu.

Wir stehen vor einem leeren, ungenutzten Ort, inmitten eines Verkehrs­raumes, dessen Funktion und Form fast vollständig von Vorschriften genormt ist, deren Ziel es ist, Verkehrssicherheit zu gewährleisten. Die Kreisverkehr-Mittelinsel: eine durch und durch funktionale Landschaft, die durch ihre Form und die Leere in ihrer Mitte eine Rückbesinnung provoziert, indem sie der Strassenlandschaft etwas davon wiederzugeben verspricht, was vom Verkehr verdrängt wurde. Die Schönheit des Natürlichen und des Traditionellen minia­turisiert auf einen Kreis mit einem Radius von - normalerweise - mindestens einer doppelten Fahrbahnbreite. Ein Vakuum, das Naturvorstellungen in sich hineinsaugt. Die schöne neue Mitte einer allgegenwärtigen Verkehrssituation, die als normale Kreuzung vormals nur ein unsichtbares Zentrum aufzuweisen hatte.

Voiko Kamensky hat dieser Landschaft, die ihre Existenz der Mobilität der Menschheit verdankt, einen knapp halbstündigen Film mit dem Titel Divina Obsesión (D 1999) gewidmet. Der Film beginnt mit einem künstlichen Sternen­himmel und einem Rauschen. Einer der Sterne wird immer grösser. Es ist der Erdball, auf den wir zurasen, der bekannte Blaue Planet, die grösstmögliche Ansicht der Landschaft Erde. Wir stürzen auf ihn zu, bis zum Aufschlag auf seiner Oberfläche. Nach einem Schnitt befinden wir uns in einem Vorort im Frankreich des Jahres 1996. Gerade erst gelandet, aber bereits wieder in Bewe­gung: in Zeitlupe entlang neu errichteter Reihenhäuser, den Blick quer zur Fahrtrichtung. Alle scheinen sie identisch. Mit einem Anflug von Unwirklich­keit ziehen sie langsam von rechts nach links durch das Bild, und als das letzte Haus der Reihe aus dem Bildausschnitt verschwindet, beginnt die eigentliche Bewegung des Films: eine Fahrt von Orbit zu Orbit, die Mittelinsel immer prä­zise im Zentrum des Bildkaders.

Die Geschwindigkeit der Fahrt ist verlangsamt. Die Mittelinseln drehen sich in Zeitlupe im Autofenster. Neben einer musikalischen Tonspur, vier eingeblendeten Postkarten mit typischen Kreismotiven und fast unsichtbaren Schnitten ist dies der grösste Eingriff, den sich der Filmemacher gegenüber der alltäglichen Erfahrung mit dem Kreisverkehr zu machen erlaubt hat. Doch er reicht aus, um die visuelle Kohärenz des Ortes nachhaltig zu erschüttern.

Kreisverkehre sind dazu da, dass man sie aus dem Auto heraus wahrnimmt. Der Blick des Automobilisten soll hier als Normalwahrnehmung des Kreisver­kehrs verstanden werden. Dieser Blick wird von der Mittelinsel abgelenkt: Vor dem Kreisverkehr geht er nach links, um festzustellen, ob ein Auto an der Ein­fahrt hindert, dann wandert er im Orbit nach rechts in die Richtung der ge­wünschten Ausfahrt. Das alles geht schnell; trotz den gepriesenen Vorzügen des stressfreien Passierens eines Kreisverkehrs im Vergleich zur herkömmlichen Kreuzung hindert den Automobilisten immer auch eine gewisse angespannte Konzentration auf den Verkehr daran, sich die Umgebung genauer anzu­schauen. Die Gestaltung des Kreisverkehrs trägt diesem Umstand Rechnung und ist darauf ausgelegt, mit grossen Formen die Wahrnehmung bei grosser Ge­schwindigkeit zu erleichtern und die zum Erfassen der Situation notwendige Wahrnehmungsleistung möglichst klein zu halten. Ein Gestaltungsgrundsatz besagt, dass die Mittelinsel dem Lenker die Sicht auf die gegenüberliegende Seite des Kreisels nehmen soll, damit er nicht vom Geschehen innerhalb seines eigenen Aktionsraums abgelenkt wird. Eine erhöhte Bebauung der Mittelinsel ist die Regel. Deren Gestaltung kann zwar bewusst wahrgenommen werden, wird aber sofort wieder von der zu meisternden Verkehrssituation aus der Auf­merksamkeit verdrängt.

Der Blick des Lenkers ist kein selbstbestimmter, betrachtender Blick, son­dern ein von der normalen Aufmerksamkeitsdauer eingeschränkter, gelenkter Blick, der direkt von der Geschwindigkeit des Betrachters an diesem Punkt ab­hängt. Divina Obsesión hintertreibt diesen Normalblick in zweierlei Hinsicht: dadurch, dass er aus dem Autofenster nach links auf die Mittelinsel im Bild­zentrum gerichtet ist, und durch die Verlangsamung der Geschwindigkeit, in welcher die mediale Vorbeifahrt stattfindet. Die Gestaltung des Kreisverkehrs orientiert sich an den funktionalen Bedürfnissen des panoramatischen Blicks, welcher die Wahrnehmung näherliegender Dinge zu Gunsten der Fernsicht herabsetzt. Die Verlangsamung der Fahrt eröffnet aber die Möglichkeit, das Nahe wieder deutlich zu sehen. Verstärkend wirkt, dass dem Blick, der im Film quer zur Fahrt gerichtet ist, die Umgebung des Kreisels als Hintergrund der Mittelinsel erscheint und nicht durch die Fahrbahn optisch getrennt wird. Die Grössenverhältnisse von Umgebung und Mittelinsel werden so direkt mitein­ander vergleichbar, und die grossen Elemente der Mittelinsel verschieben sich ins Überproportionale. Das Nahe wird zu gross für solche Nähe, die Formen zu deutlich und die Zeichen zu plakativ. Der Film zerstört die Balance zwischen der Überproportionalität der gebauten Elemente und deren verflüchtigter Wahrnehmung im Kreisverkehr und lässt so die Kohärenz des Ortes zusam­menbrechen. Nun werden Qualitäten sichtbar, die bei normalem «Gebrauch» des Kreisverkehrs nicht auffallen.

Die Wiederholung der immer wieder anderen und doch gleichen Situation durch die nahtlose Aneinanderreihung der Kreisverkehre in Zeitlupe ermög­licht es dem Zuschauer, eine Typologie zu bilden. Die Serie der Mittelinseln macht erst augenfällig, dass sie sich alle in die Umgebung, in die sie hinein­gebaut wurden, atmosphärisch einordnen. Sie fügen ihr eine Grünfläche hinzu, die durch die Form- und Materialwahl, teilweise sogar durch ihre szenografischen Qualitäten, die Atmosphäre der Umgebung widerspiegeln und verschö­nern soll. So verschmelzen die Mittelinseln und ihre Umgebung fast immer zu einem Ensemble, dessen einzelne Teile dieselbe Herkunft zu haben scheinen. Ihre Gestaltung ist durch einen Widerspruch gekennzeichnet: Der Wunsch nach Darstellung der (idealisierten) Qualitäten einer Gemeinde äussert sich aus­gerechnet an einem Ort, dem von seinen Schöpfern die Wegnahme von über­flüssigen optischen Reizen auferlegt wurde. Und dieser Widerspruch führt zu formal einfachen, proportional zu grossen, mühelos wahrnehmbaren Elemen­ten, die, in Ruhe betrachtet, immer etwas deplatziert wirken. Die Mittelinsel ist ein hybrider Ort, geprägt von den Verordnungen des Strassenbaus und dem Wunsch nach Geborgenheit.

Es sind aber wider Erwarten nicht nur die Gemeinden, die den Wunsch äussern, mit der Mittelinsel in die Gestaltung des Ortsbildes aktiv einzugreifen. Auch die Planer der Kreisverkehre, deren Hauptaugenmerk auf der Verkehrs­sicherheit liegt, verbinden mit der Kreiselfrage nicht nur verkehrstechnische Bedürfnisse. Dies zeigt sich in drei Telefoninterviews, die der Filmemacher mit Protagonisten der Wiedereinführung des Kreisverkehrs in Deutschland geführt hat. Die Gespräche streifen mit der Erläuterung der Fragen der Verkehrssicher­heit und des Verkehrsverhaltens bald auch die Fragen nach der psychologischen Dimension dieser Knotenform. Dabei scheint die Mitte eine grosse Rolle zu spielen:

«Die Kreuzung, die ist ja so, dass die Mitte asphaltiert ist, hässlich ist, nicht zugänglich ist und auch nicht sichtbar ist. Bei der Kreuzung sieht man dann nichts, da ist nix. Während beim Kreisel ist es doch so, da ist das, was man von allen Seiten sieht. Das ist nämlich die Mitte. Die ist schön.»

Doch was ist die Mitte, die der von Kollegen anerkennend «Papst des modernen deutschen Kreisverkehrs» genannte Professor Werner Brilon von der Universität Bochum hier anspricht? Helmut Nikolaus vom Strassenbauamt Euskirchen hat eine klare Vorstellung von ihr:

«Ich sage immer wieder, das ist eigentlich die einzige Stelle im Verkehr, wo ein Autofahrer nun ne Verbeugung machen muss, ja? Also er geht in die Knie, im wahrsten Sinne des Wortes. [...] Sonst ist der Verkehr immer dominierend, wissen Sie? Was in der Mitte ist, dominiert. Und hier tritt zum ersten Mal eben ein ruhiger Raum, nämlich ein Gestaltungsraum, in die Mitte, und der Verkehr wird an den Rand gedrückt.»

Der Verkehr, für den das alles gebaut ist, wird also an den Rand gedrückt und unschädlich gemacht. In der Mitte entsteht ein ruhiger Wohlfühlraum. Der Kreisel löst damit nicht nur Verkehrsprobleme, sondern gleich auch jene Kala­mitäten, die der Verkehr für den Menschen an der Strasse mit sich bringt. Wie das geht, erklärt Werner Brilon:

«Also ich stell mir jetzt mal eine hässliche Strassenschlucht vor, in der Stadt, die, äh, da so durchzieht, und wenn die über zehn Kreuzungen geht, ist sie die ganze Strecke über hässlich und auch unend­lich sozusagen. Da entsteht kein Geborgenheitsgefühl, wenn man da wohnt oder dahergeht. Wenn Sie jetzt sich vorstellen, alle 500 Meter ist da so ein Platz, der ist grün, hat eine eigenständige Gestalt, die sollen nicht alle gleich aussehen, sondern jeder ist ja irgendwo ein Individuum, jeder Platz. Dann entsteht erst mal das Gefühl, ich bin im abgeschlossenen, eher heimeligen Raum - ich über­treibe es jetzt ein bisschen bei der Wortwahl -, aber dies erzeugt, und das ist nachweisbar, erzeugt, also durch Befragungen, durch soziologische oder psy­chologische Befragungen, dieser Raum erzeugt bei den Bewohnern dort ein Heimatgefühl, ja.»

Der Eindruck, dass sich in den Verkehrskreisel die Natursehnsucht der Verkehrsplaner ergiesst, komplettiert sich, wenn Helmut Nikolaus den Ein­klang von Mensch und Natur beschwört und den Verkehrsfluss eines Kreisels als «natürlich» bezeichnet, einem «wieder entdeckten Regelprinzip der Natur» folgend, mit welchem die Verkehrsplaner versuchen, einen «selbst regulieren­den Kreislauf, im wahrsten Sinne des Wortes, zu erzeugen».

Nikolaus versucht mit der Behauptung, mit dem Kreisverkehr werde ein natürliches Regelprinzip wiederentdeckt, dessen Neudefinition: vom artifiziel­len Eingriff in die Natur als gebautem Verkehrsweg zum fliessenden Kreislauf mit natürlicher Herkunft, von der Antinatur zur Pseudonatur.5 Wir treffen da­mit auf die Frage nach der Identität der 23 porträtierten Kreisel im Frankreich des Jahres 1996, die ja jeder für sich «irgendwo ein Individuum» sein sollen, wie Werner Brilon meint, obwohl sie sich in das Gesamtbild der Umgebung camouflageartig einfügen wollen und mit ihrer Blumenrabattenbepflanzung den Wunsch nach kleinbürgerlicher Heimeligkeit nie ganz verleugnen können.

Divina Obsesión reagiert auf die versuchte Neudefinition mit Verlang­samung und Wiederholung. Der von der Zeitlupe provozierte unangemessene Blick ist, wie festgestellt wurde, ein Kunstgriff, der - unter scheinbarer Wah­rung der Objektivität des Bildmaterials - die Rhetorik um die Verkehrskreisel transparent macht, indem er die Kohärenz des Ortes zerstört. Es wird augen­fällig, was bei der schnellen Durchfahrt stets übersehen wurde: Der Kreis­verkehr ist eine Kulturlandschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Eine mit zusammenhanglosen Versatzstücken geschmückte, in ihren Proportionen ver­störte Wunschlandschaft, welche an jedem beliebigen Ort jede gewünschte Form annehmen kann: ein Unort. Das Spannungsfeld, in welchem sich der Film hier bewegt, ist vom Anthropologen iMarc Augé in seiner Theorie der Orte und der Nicht-Orte beschrieben worden.6 Der Kreisverkehr ist ein Ort ohne Iden­tität und Geschichte.7 Das Gegenteil eines «anthropologischen Ortes», der dem Menschen, der sich in ihm aufhält, eine «organisch-soziale Beziehung» an­bietet: ein geschichtsloser «Nicht-Ort» ohne jedes Identifikationsangebot für seine Benutzer. Augé benennt mit diesem Begriff ein Phänomen, das erst in unserer durch die «Überfülle der Ereignisse» und die «Entleerung des Bewusst­seins» gekennzeichneten Zeit der «Übermoderne» aufgetaucht ist. Die Bei­spiele, die er nennt, sind Transit-, Handels- und Freizeiträume wie die Auto­bahn, der Supermarkt oder der Flughafen.

Zwischen den mystifizierenden Behauptungen von Natürlichkeit und der nahe liegenden negativen Belegung des Kreisverkehrs als «Nicht-Ort» zeichnet sich allmählich die Faszination von Divina Obsesión mit dem Kreisverkehr ab. Es ist ein Versuch, nicht die anthropologischen Qualitäten eines «Nicht-Ortes» wichtig zu machen, sondern aus seiner Ästhetik und Funktion durch kleine Brechungen ein anderes, genauso vorhandenes, aber positiv konnotiertes Wesen herauszulesen, das dem Denken Augés notgedrungen verborgen bleiben muss. Kamenskys Spurensuche nach der Faszination des Kreisverkehrs beginnt, wenn man so will, direkt hinter dem blinden Fleck von Augés anthropologischem Ansatz.

Immerhin: Der Bau von 35 Kreisverkehren in der französischen Stadt Quimper im Jahre 1982 wird heute als Grossversuch mit nicht zu übertreffen­dem Erfolg gefeiert. Auf einen Schlag ist die Mittelstadt in der Bretagne alle ihre Verkehrsprobleme los: kein Verkehrschaos, keine Verkehrstoten mehr, «von hundert auf null», so Werner Brilon im Interview. Sofort kam damals die An­weisung aus tier Zentrale Paris, dass ausserorts keine Kreuzungen mehr, son­dern nur noch Kreisverkehre gebaut werden dürften - mit dem Ergebnis, dass in Frankreich heute 14000 Stück ihren Dienst an der mobilen Menschheit tun. Das macht neidisch. England baute in wenigen Jahren 8000 Roundabouts, die kleine Schweiz mehrere hundert.

Was aber steckt hinter dem Wunder der Kreisverkehrsidee, das so gross ist, dass sich in der achten Dekade des 20. Jahrhunderts der Kreisverkehr in ganz Europa so unaufhaltsam durchsetzte? Voiko Kamensky machte sich 1996 in Frankreich auf die Suche. Und diese ging, wie er selber sagt, von der Verkehrs­technik ins Metaphysische.

In der sorgfältigen, in harten Schnitten immer genau auf die Kontinuität der Bewegung achtenden Montage von Divina Obsesión wird der Kreisverkehr zur Endlosschlaufe. Die Übergänge werden durch die ungewöhnliche Form der Montage möglichst stark verwischt. Vom ersten Kreisel geht die Fahrt scheinbar bruchlos in den zweiten über, dann in den dritten und so weiter. Es gibt in dieser Montage kein Entrinnen aus dem wechselndem Orbit der Kreis­verkehre.

Doch der durchfahrene Raum ist paradox: Jeder Kreisel wird einmal um­rundet und dort wieder verlassen, wo man hineingefahren war. Unser alltäglich vertrauter Raum liesse es nicht zu, dass in dieser Bewegung immer wieder ein neuer Kreisel auftauchte, sondern würde uns in einer ewigen, schäbigen Pen­delbewegung zwischen zwei Kreiseln gefangen halten. Nicht so im wunder­baren Universum der Kreisel von Divina Obsesión: 23 Kreisel fügen sich, un­beirrt von der euklidischen Unmöglichkeit dieser Tatsache, aneinander, bis die Kamera sich am Ende von der Erde löst und zur Sonne aufsteigt. Zum Bild einer sich haushoch in den Himmel emporstreckenden Frauenfigur vor einem Kühlturm unter der gleissenden Sonne erreicht der Gesang der Peruanerin Yma Sumac den höchsten Ton ihres enormen Stimmumfangs und verleiht der Sze­nerie etwas Exotisch-Erhabenes. Das Schlussbild zieht die Parallele von der Mittelinsel, um die sich das Geheimnis von Quimper dreht, zur Sonne, dem Zentrum unserer planetaren Kreisfahrt, und spannt noch einmal ironisch den Rahmen der Divina Obsesión auf.

Der Verkehrskreisel, scheint dieses System sagen zu wollen, ist ein abge­schlossenes System, eine Welt für sich, die aus lauter grossen und erhabenen Elementen besteht. Diesen Schluss legt nicht nur die Einleitungsszene nahe, die den blauen Planeten von aussen zeigt, sondern auch die stets vollständigen Orbits mit ihren panoramatischen Rundschwenks, die keinen Ausweg kennen, die Stimme, die, wie gesagt wird, volle viereinhalb Oktaven umfasst, und nicht zuletzt die generalisierenden Aussagen der Sachverständigen, die versuchen, den durchschlagenden verkehrstechnischen Erfolg des Kreisverkehrs durch dessen psychologische und zwischenmenschliche Tugenden zu erklären.

In der liebevollen Gestaltung des Films, der die Krcisverkehrslandschaften in warmen, übernatürlich plastischen Farben zeigt und ihnen durch die Ver­langsamung einen Anflug von Erhabenheit verleiht, ist die Faszination Kamenskys für diese Orte des Wunderbaren ausgedrückt, mit denen er einen Ausschnitt der Welt des 20. Jahrhunderts fixiert. In ihm wiederholt sich die Struktur des Ganzen und lässt sich alles wiederfinden: Schönheit und Heimatgefühle, Bür­gerlichkeit und Naturbilder, Verkehrssicherheit und Philosophie. Wenn man die Struktur zu lesen versteht! Divina Obsesión wendet dazu seine eigene, der Objektivität nur teilweise verpflichtete Methode filmischer Askese an und lässt den Zuschauer aus dem «modernen Kreisverkehr» wie aus einer Saubohne den Umgang und die Wahrnehmung von Natur in unserer Zeit «herauslesen».

Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenhahnreise: Zur Industrialisierung von Kaum und Zeit im 19. Jahrhundert, München 1977, S. 61.

Schivelbusch (wie Anm. 1), S. 62.

Dass der Begriff «Landschaft» selber schon die Trennung von Subjekt und Objekt voraussetzt, soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Vgl. dazu etwa W. J. T. Mitchell: «Im­perial Landscape», in ders. (Hg.), Landscape and Power, Chicago 1994, S. 5-34.

Alle Angaben aus dem Umweltbericht Verkehr des Bundesamtes für Statistik aus dem Jahre 1997 (http://www.buwa!.ch/d/themen/ partncr/verkehr/dk25u00.pdf)

Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1964, S. 130 f.

Marc Augé, Orte und Nicht-Orte, Frank­furt am Main 1994.

Die dazwischengeschnittenen Postkarten mit Kreismotiven, die den kreisenden Fluss des Films unterbrechen, scheinen einen kulturhis­torischen Horizont zu etablieren, bleiben aber geschichtslos: nur äussere Form einer Erinne­rung und als Souvenir verschickbar. Im Zusam­menhang der Rhetorik der Verkchrsplaner ste­hen die Postkarten da wie die inneren Bilder der Natursehnsucht, die versucht, dem Ver­kehrskreisel eine historische Legitimation zu verschaffen.

Fred Truniger
geb. 1970, Studium der Filmwissenschaft und Germanistik, war seit 1992 Mitglied der Programmkommission von verschiedenen Filmfestivals. Er arbeitet als Assistent am Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur an der ETFI Zürich als Filmwissenschaftler.
(Stand: 2018)
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