HENNING ENGELKE

TO LIVE WITH HERDS — ZUM VERHÄLTNIS VON LANDSCHAFT UND KULTUR IN DEN FILMEN VON JUDITH UND DAVID MACDOUGALL

ESSAY

In ihrem Bestreben, kulturell geprägte Erfahrungen und Denkweisen darzu­stellen und zu verstehen, versucht die Ethnologie, die entgegengesetzten Pole eines Dualismus zusammenzuschliessen: die radikale Differenz, das, was die Lebenswelten verschiedener Kulturen unterscheidet, mit dem, was ihnen allen gemeinsam ist – dem, was ein Verständnis über kulturelle Unterschiede hinweg ermöglicht. Bei diesem Unterfangen stützt sich die Disziplin im Wesentlichen auf die Sprache. Das Erlernen der Sprache der zu untersuchenden Ethnie gehört zu den Grundvoraussetzungen jeder Feldforschung. In mehr oder weniger for­malisierten Interviews und im persönlichen Gespräch mit Angehörigen ande­rer Kulturen versuchen Ethnologlnnen, deren Vorstellungswelten und Kon­zepte zu verstehen. Dieses sprachliche Ausgangsmaterial wird daraufhin in einen theoretischen Rahmen eingebunden und in geschriebenen Werken dar­gestellt. Das Korpus dieser Werke umschreibt das Gebiet der akademischen Wissenschaft. Neben und jenseits der Sprache manifestiert sich der Unter­suchungsgegenstand der Ethnologie im Materiellen, in den lebenden Körpern der Menschen mit ihrer Mimik und Gestik, in ihren Artefakten unterschied­lichster funktionaler und formaler Ausprägung und ganz allgemein in ihrer Umgebung. Diese materielle Seite lässt sich in der Sprache beschreiben, ist aber nur mittelbar zugänglich, anders als für das sehende Subjekt, das die spezifische Materialität direkt erlebt. Für die schreibende Ethnologie spielt das Visuelle in zweierlei Hinsicht eine zentrale Rolle. Zum einen stützt sich ihr Anspruch, ver­lässliche Resultate beizubringen, auf die Beschreibung sichtbarer Wirklichkeit, was die Anwesenheit des beobachtenden Forschers am Schauplatz belegen soll - das, was Clifford Geertz als «being there» bezeichnet. Zum anderen findet sich eine Vielzahl von Metaphern aus dem Bereich des Sehens in ethnologischen und ethnografischen Schriften, wenn es darum geht, die wissenschaftliche Tätigkeit zu beschreiben: Probleme werden neu beleuchtet, Dinge werden auf die eine oder andere Art und Weise gesehen. Nur äusserst selten allerdings wer­den die visuell zugänglichen Formen in ihrer Eigenschaft als sichtbare, ästhe­tische Phänomene analysiert.

Eine andere Zugangsweise, die sich unmittelbarer auf die visuelle Welt be­zieht, verspricht der ethnografische Film; und tatsächlich ist der Film in der Ethnologie stärker vertreten als in anderen Geisteswissenschaften. Dabei be­steht aber völlige Uneinigkeit über den epistemologischen Status dieser Filme, darüber, ob sie als Forschungsdaten angesehen werden sollten (was allerdings aus filmtheoretischer Sicht äusserst problematische Konsequenzen hat) oder ob sic eine eigenständige Form ethnologischer Darstellung manifestieren. In seiner visuellen und auralen Differenz zum etablierten schriftlichen Diskurs wirkt der ethnografische Film wie ein irritierender Fremdkörper innerhalb der akademi­schen Wissenschaft.

Wie nur wenige andere haben sich Judith und David MacDougall in ihren Filmen mit der Frage auseinandergesetzt, auf welche Weise dieses Medium als ethnologische Repräsentationsform zu verwenden sei. David MacDougall hat darüber hinaus dieses Problem in zahlreichen Schriften behandelt.1 In ihren Filmen, die zunächst bei afrikanischen Herdennomaden, später bei austra­lischen Aborigines und in letzter Zeit in Sardinien und Indien entstanden sind, haben die MacDougalls Methoden der Beobachtung, Teilnahme und Reflexivität entwickelt, um damit kulturelle, lebensweltliche Erfahrung darstellen und vermitteln zu können. Die Kamera wird zu einem geduldigen Beobachter; in langen Einstellungen folgt sie den Handlungen der Akteure und wird so zu einem (wenngleich passiven) Teilnehmer des Gezeigten. Bereits Anfang der Siebzigerjahre, als die Meinung noch verbreitet war, man könne die Dinge so aufnehmen, als sei keine Kamera anwesend, verweisen die Werke der MacDou­galls auf den Charakter des Films als Artefakt. Im Kontrast zu diesen formalen Experimenten folgt der narrative Aufbau der Filme einem konventionellen Muster: dem klassischen fiktionalen Kino, insbesondere in der Ausprägung des italienischen Neorealismus.

Diese Erzählform folgt in ihrer zeitlichen Entwicklung einem Schema, das Victor Turner als ein über die Kulturen hinweg verbreitetes Muster der Dar­stellung sozialer Dramen beschreibt: Ein Bruch führt zu einer Krise, deren Überwindung folgt entweder die Reintegration oder die Spaltung. David Mac­Dougall sieht in einem solchen erzählerischen Vorgehen eine Möglichkeit, im ethnografischen Film die Vielfalt sozialer Erfahrungen zu erfassen: «These forms make possible a view of social actors responding creatively to a set of open-ended cultural possibilities, rather than being bound by a rigid framework of cultural constraints.»2 Letztlich handelt es sich um die Verwendung einer Konvention, die weithin als zentrales Element realistischer Darstellung an­erkannt ist.

In seinen Aufsätzen, insbesondere in denen jüngeren Datums, betont David MacDougall immer wieder die Bedeutung der konkreten Materialität sozialer Situationen, der Eigenheiten von Kleidung, Farben, Gegenständen, Gesten oder dem Klang von Stimmen für die Darstellung von Lebenswelten. In Film­aufnahmen wird eine Vielzahl von Details des Alltäglichen erfasst, die sich der Einordnung in eine Argumentation oder Erzählung entziehen - die Zeichnung im Fell von Rindern, die Farbe und Oberflächenstruktur von Gebrauchsgegen­ständen, der morgendliche Lichteinfall in einem afrikanischen Gehöft. Die simultane Präsenz dieser Dinge verläuft in ihrer Bildhaftigkeit in zwei Rich­tungen: auf das Spezifische, Einmalige und gleichzeitig auf das Allgemeine, Konzeptuelle hin. Das (Film-)Bild zeigt die einzigartige Beschaffenheit einer bestimmten Situation und verleiht ihr darüber hinaus eine allgemeinere begriff­liche Bedeutung: Wenn in To Live With Herds (USA 1972), einem der frühen in Afrika entstandenen Werke der MacDougalls, die Männer unter einem Baum zusammengefunden haben, um die Anweisungen des Regierungsbeauftragten zur Kenntnis zu nehmen, dann wird auf der einen Seite ein Ereignis gezeigt, das sich ein einziges Mal zu einem genau bestimmten Zeitpunkt ereignet hat. Auf der anderen Seite verweisen die Bilder auch immer auf übergeordnete (sprach­liche) Kategorisierungen: Zu sehen ist ein Beispiel einer Versammlung, die im Schatten eines Baumes stattfindet. In der simultanen Wechselwirkung vertrauter Kategorisierungen und Konzeptualisierungen mit dem Reichtum einzigartiger Details gewinnt das Filmbild seine scheinbar unvermittelt zugängliche Lesbar­keit und seine weit in die Welt der Phänomene ausgreifende Tiefendimension.

Um die Verknüpfung der sinnlich greifbaren Aspekte einer Lebenswelt mit ihrem konzeptuellen Hintergrund zu beschreiben, verwendet David MacDougall die Metapher der Landschaft.3 Die soziale Umgebung erscheint aus der Perspektive dieser Metapher als eine Schnittstelle von Natur und Kultur, ln dieser Landschaft ist die äussere Welt der erfahrbaren Dinge eingewoben in kulturelle Konzepte und Ideen, die sich wechselseitig bedingen - bis hin zur Vorstellung von Landschaft als Träger von Emotionen, den Seelenlandschaften der europäischen Romantik. Diesem Gewebe von Materialität und Ideen gilt die Aufmerksamkeit einer sozialen Ästhetik, wie sie MacDougall verfolgt, um soziale Erfahrung über die Grenzen von Kulturen hinweg zu erschliessen. In einer so aufgefassten visuellen Anthropologie gewinnt der ethnografische Film als Darstellungsform neben der Schrift an Bedeutung, da er als sichtbares und hörbares Artefakt einen unmittelbareren Zugang zur dinglichen Vielfalt der Lebenswelten verspricht.

Landschaft spielt in den Filmen der MacDougalls aber auch noch auf einer anderen Ebene eine wichtige Rolle. Sie dient nicht nur, wie beschrieben, als eine Metapher, die den Gegenstand ethnografischer Forschung umschreibt, sondern erscheint auch in Bildern tatsächlicher Landschaften als ein Gestaltungselement der Filme. Dieser Aspekt, die darstellerische Funktion von Landschaftsaufnah­men, soll im Folgenden am Beispiel des Films To Live With Herds untersucht werden. Dabei wird zu zeigen sein, wie Landschaftsdarstellungen in die Ver­mittlung von Kultur und Lebenswelten einbezogen werden, wie sich Kultur im Film auf dem buchstäblichen (Landschafts-)FIintergrund manifestiert, welche Konzepte der Bildgestaltung diese filmische Verwendung informieren und wel­che Implikationen die Bildkonzepte mit sich führen.

Figur und Grund

To Live With Herds wurde 1968 in Uganda bei den Jie gedreht und 1972 uraufgeführt. Der Erfolg beim Festival 1972 in Venedig (Grosser Preis «Venezia Genti») trug entscheidend zur Etablierung der Filmemacher im Bereich des ethnografischen Films bei. Als ein Film, der auf einen erklärenden Kommentar verzichtet und der sich im Wesentlichen auf die Wirkung seiner Bilder und deren Anordnung verlässt, erregte To Live With Herds zur Zeit seines Erscheinens einiges Aufsehen. Der Film wirkte wie ein Beispiel eines neuen, reflektierenden Realismus, «with a sense of life observed both intimately and directly».4

Gezeigt wird das traditionelle Eeben auf einem Gehöft der Jie, das von der transhumanten Viehhaltung geprägt ist sowie vom Wandel, der sich aus den Entwicklungsplänen der ugandischen Regierung ergibt. Der Film ist in fünf Abschnitte aufgeteilt, die jeweils durch Zwischentitel voneinander abgesetzt sind. Gespräche sind in Untertiteln übersetzt. Neben den Haupttiteln sind ein­zelne Sequenzen mit zusätzlichen Zwischentiteln versehen, welche thematische Schwerpunkte zusammenfassen, einzelne Konzepte hervorheben und den Film weiter strukturieren: «To the Jie, cattle are the source of all happiness, provi­ding security and order in a harsh environment», lautet der erste dieser Titel, der knapp und präzise eine der im Anschluss differenzierten Grundannahmen vorstellt. In diesem ersten mit dem Haupttitel «The Balance» überschriebcnen Abschnitt werden einige der wiederkehrenden Figuren des Films vorgestellt und ihre gegenwärtige Situation geschildert: Während der Trockenzeit ist das Vieh auf entfernte Weiden getrieben worden, wo es noch ausreichend Nahrung findet. Im Gehöft zurückgeblieben sind Frauen und Kinder sowie einige er­wachsene Männer zu ihrem Schutz, unter ihnen Logoth, auf den sich diese erste Passage konzentriert. Von der Darstellung der Hirtengesellschaft verlagert sich der Schwerpunkt in den darauffolgenden Teilen auf den Einfluss der Regie­rungspolitik des relativ jungen Nationalstaates Uganda auf diese Lebensweise. In der Sequenz «Changes» beginnen sich in die Bilder von Menschen, traditio­nell gebauten Gehöften, der weiten Savannenlandschaft und den Rinderherden langsam Zeichen der westlichen Zivilisation einzumischen. Zwischentitel erläu­tern die Einführung von Brunnen durch die Briten, die dazu geführt hat, dass in der Trockenzeit einige Personen in den Gehöften verbleiben können, wo sie jetzt zwar nur wenig zu essen, aber ausreichend Trinkwasser haben. Kitodo, eine Kleinstadt, kommt ins Bild. Dort werden Kinder in Englisch unterrichtet - das Thema des Wassers taucht in den Fragen des Lehrers erneut auf. «The Nation» zeigt den Besuch eines ugandischen Verwaltungsbeamten bei Vertre­tern der Jie. In seiner Rede geht es um die Notwendigkeit von Ackerbau für eine Anbindung an die Geldwirtschaft und an das Steuersystem sowie um die Schulpflicht der Kinder. (Abb. 2/3)

Das Thema der Geldwirtschaft wird wieder aufgenommen in «The Value of Cattle», einer Sequenz, die eine Viehauktion in Kitodo zeigt. Der bisher so behutsam aufgebaute Kontrast von Vorstellungen einer Hirtengesellschaft mit der Realität einer westlich orientierten Ökonomie tritt hier deutlich hervor. Im letzten Abschnitt «News from Home» wendet sich der Film wieder den Hir­ten zu: Logoth verlässt das Gehöft, um in das Weidelager zu gehen. Die letzten Einstellungen zeigen Herden und Hirten auf den Weiden, Logoth tauscht mit den anderen Hirten einen formalisierten Gruss aus.

In der ruhigen, in langen Einstellungen beobachtenden Weise, in welcher der Film seine Figuren und sein Thema ausarbeitet, wird das Aufeinandertreffen der pastoralen Kultur mit den von westlichen ökonomischen Ansprüchen geprägten nationalstaatlichen Bestrebungen mit all seinen Brüchen und Unge­reimtheiten vor Augen geführt. Es wird gezeigt, mit welchen Schwierigkeiten einzelne Personen in diesem Spannungsfeld kultureller und gesellschaftlicher Erwartungen konfrontiert werden. Der Konflikt wird nur zum Teil in den Zwi­schentiteln und in den übersetzten gesprochenen Aussagen aufgebaut, zu einem entscheidenden Teil erschliesst er sich über die Bilder, über die Anordnung und Gestaltung ihrer Inhalte. Hier entwickelt sich in einem Wechselspiel von Figu­ren, die sprechen und handeln, und den Dingen, die sie umgeben und die ihren Hintergrund manifestieren, eine komplexe visuelle Argumentation über Wan­del und Beständigkeit.

Die weite Savannenlandschaft mit Ausblick auf entfernte Hügelketten bil­det in zahlreichen Einstellungen des Films den Hintergrund für die Darstellung der Personen, die Folie, auf der sie agieren und mit der sie interagieren. Beson­ders hervorgehoben ist dies im ersten und im letzten Abschnitt, in denen die traditionelle Lebensweise der Hirten thematisiert wird. Beim Hüten des Viehs bewegen sich die Hirten in der Landschaft und beobachten sie gleichzeitig, um die Herde in angemessenerWeise zu lenken. Ausgeführte Handlungen, kultu­relle Konzepte - das, was es bedeutet, eine Herde richtig zu führen - und Merk­male der Landschaft verschränken sich ineinander; aus der Perspektive des Zu­schauers lässt sich diese Verschränkung als ein aut mehreren Ebenen entfaltetes Verhältnis von Figur und Grund beschreiben: Auf der Ebene der Bildinhalte treten die Figuren in eine räumliche Beziehung zu ihrer Umgebung, sie heben sich vom Grund ab und durchmessen ihn gleichzeitig in ihrer Bewegung. Da­bei ist der Grund keineswegs neutral, sondern qualifiziert in seiner Beschaffen­heit die Aktionen der Figuren und trägt zur Atmosphäre des Bildes, zu seinem Eindruck bei. Diese letztgenannte Beziehung leitet über zur metaphorischen Ebene des Eigur-Grund-Verhältnisses, in der die Handlungen der Figuren und die ihnen zu Grunde liegenden Stimmungen und Konzepte über visuelle Merk­male aufgerufen werden. Auf einer dritten Ebene kann das Verhältnis von Indi­viduum und Kultur als ein Problem von Figur und Grund aufgefasst werden: Das Individuum als Träger von Kultur wirkt auf den kulturellen Hintergrund, und gleichzeitig wirkt dieser Grund auf die vor ihm agierende Figur, das Indi­viduum.

In einer Sequenz am Anfang von To Live With Herds stellt Fogoth auf Anregung der Filmemacher die Topografie des Territoriums der Jie vor. Seine Gestalt, oder genauer, sein Oberkörper, nimmt in dieser Sequenz das Bildzent­rum ein. Während die Kamera sich langsam um ihn herumbewegt, beschreibt er Merkmale der Landschaft und nennt die Ethnien, die in einer bestimmten Region leben, sowie die Orte, an denen die Jie ihr Vieh weiden. Mit ausge­strecktem Arm deutet er in die jeweilige Richtung. Hinter ihm erstreckt sich die Ebene mit Büschen und wenigen höheren Bäumen. In einiger Entfernung sind Höhenzüge zu erkennen. Etwa in der Mitte der Sequenz gelangt die Umzäu­nung des Gehöfts in den Bildausschnitt. Die ganze Zeit über ist die Kamera auf Logoth konzentriert, und nur selten befinden sich die Gegenden, auf die er gerade hinweist, auch im Bild. Durch diese Verschiebung der Blickachsen er­schliesst sich ein Raum jenseits des Bildfeldes, ein Raum, der in den Worten Logoths evoziert wird und die im Film sichtbare Landschaft ausdehnt. Die Sequenz endet mit der Bemerkung Logoths «and this is Jie» und seiner Be­schreibung des heiligen Bergs der Jie. (Abb. 4-7)

Am Schluss des Films steht eine Folge von Einstellungen, die das Weide­lager zeigen. Häufig sind darin die Gestalten von Menschen und Tieren über der Horizontlinie vor dem Hintergrund des Himmels oder der glatten Wasser­oberfläche eines Sees freigestellt. Fine Grussformcl, in der das Hirtcndascin und das Wohlergehen der Herden beschworen wird, ist diesen Bildern als Ton unterlegt. Eine abschliessende lange Einstellung zeigt Logoth, der, auf die Kamera zukommend, an einer Gruppe von Männern vorbeigeht, mit denen er den Grass austauseht. Dieser Gruss steht fast am Ende des Films: «May you always live with herds.» (Abb. 8-13)

Landschaft ist in den beschriebenen Passagen weit mehr als ein dekorativer Hintergrund: Sie umgibt die Figuren mit einem konzeptuellen Rahmen und lässt die Beziehung von Individuum und Kultur augenscheinlich werden. Logoths Beschreibung der Gegend verortet seine eigene Kultur, grenzt sie von anderen ab. Zugleich öffnet hier das Auseinanderklaffen von Bild und Sprache einen Raum zwischen konkreter Materialität und der Welt der Konzepte - eben jenen Raum, in dem das Individuum in der Kultur angesiedelt ist. Die sichtbaren Phänomene verweben sich mit den unsichtbaren Ideen zu einer nach beiden Seiten hin offenen kulturellen Landschaft. Diese Landschaft ist nicht statisch, sondern wird im Fortschreiten der Filmerzählung dynamisiert. Eine von der Geldwirtschaft bestimmte nationale Ökonomie wird der pastoralen Lebens­weise gegenübergestellt. Beide kulturellen Formen stellen sich gegenseitig in Frage und führen zum Konflikt, der die Erzählung voranbringt. Dabei wird deutlich, dass die pastorale Kultur in der ungleich schwächeren Ausgangslage ist und unter dem Einfluss der Geldwirtschaft zu verschwinden droht. Implizit bezieht der Film Stellung für die pastorale Gesellschaft, ohne jedoch eine ein­deutige Lösung für das vielschichtige Problem vorzuschlagen. Wenn der Film am Schluss zur Darstellung der noch traditionell das Vieh hütenden Hirten zu­rückfindet, haben sich die Konnotationcn der Bilder grundlegend gewandelt: Die alltägliche, beiläufige Stimmung, welche die Darstellung der Personen am Anfang des Films kennzeichnet, ist einer strengen Formalisierung der Bilder gewichen, die ihre Entsprechung in der rezitierten Grussfloskel findet. Wie Embleme einer verlorenen oder doch zumindest im Verschwinden begriffenen Welt heben sich die Figuren der Hirten mit ihren Herden vom Hintergrund des Himmels oder von der Oberfläche eines Sees ab. Im formelhaften Gruss wird die pastorale Lebensweise noch einmal in einem überzeitlichen, mythologi­schen Sinn heraufbeschworen, der aber von dem zuvor Gesehenen unterlaufen wird, sodass sich der Eindruck verstärkt, auf eine bald nur noch in der Reprä­sentation existierende Welt zu blicken. Für eine solche Konstellation von Ver­lorenem und dennoch in der Darstellung immer wieder Gegenwärtigem gibt es in der europäischen Tradition einen Ort: Arkadien.

Nah und Fern

Arkadien als Topos der Literatur und Malerei hat wenig gemeinsam mit der kargen griechischen Landschaft, die ihm als geografischer Ort den Namen leiht. Was in Gemälden und Dichtung dargestellt wird, ist ein Ort, dessen Beschaf­fenheit und Lage sich in einer mythologischen Unbestimmheit bewegt. Dieser Ort ist eine Landschaft, die eine angenehme, wohl geformte Ordnung aufruft, und zugleich ist er auch ursprüngliche Natur - angesiedelt auf der Nahtstelle von Kultivierung und Wildnis. Arkadien evoziert darüber hinaus eine vergan­gene Zeit, nicht in einem historischen, sondern in einem mythologischen Sinn: Das Vergangene lässt sich nicht einem bestimmten (historischen) Zeitpunkt zu­ordnen, sondern befindet sich in einer nicht weiter bestimmbaren zeitlichen Distanz, die aber in Repräsentationen immer wieder vergegenwärtigt werden kann. Der Arkadien-Topos entfaltet sich in einer dialektischen Beziehung von Nah und Fern, Vergangenem und Gegenwärtigem.

Nicolas Poussins Gemälde Die arkadischen Hirten (Mitte 17. Jahrhundert), setzt sich reflektierend mit dieser Dialektik auseinander. Dargestellt ist eine Gruppe von Hirten, die auf einen im Zentrum des Bildes, beinahe bildflächen­parallel angeordneten, steinernen Sarkophag blicken. Auf diesem befindet sich die Inschrift: «Et in Arcadia Ego». Den Hintergrund der Szene bildet eine zerklüftete, hügelige Landschaft. Louis Marin interpretiert das Gemälde als eine Betrachtung über bildliche Repräsentation. Das Grab, das die Hirten anblickcn und dessen Inschrift sie zu entziffern versuchen, reproduziert demnach die Oberfläche des Gemäldes, das der Betrachter anschaut. «The tomb is like a painting, for it functions like an apparatus that reflects, albeit only shadows and simulacra. This tomb is where the reality of happiness, that is, Arcadia, is lost and found, but only in the form of representation»5 (Abb. 14).

Eine verbreitete Form, in der sich die Landschaftsmalerei mit dem Arkadien-Topos auseinandergesetzt hat, ist das Pastorale. Das Pastorale verspricht einen Weg in eine überschaubare, wohl geordnete Landschaft. Dieser Weg ist gleichzeitig ein Weg in eine geistige, kulturelle Landschaft - ein Weg des Ver­stehens. Die Komposition von Die arkadischen Hirten widerspricht diesem Modus des Pastorales in gewisser Hinsicht: Genau an der Stelle, wo die Linien der zentralperspektivischen Bildordnung zusammenlaufen würden, befindet sich eine Fläche, die den Blick in die Tiefe der Landschaft durch den Sarkophag versperrt. Das erschliessende Verstehen ist ersetzt durch eine Fläche, auf der sich Erkenntnis schlagartig manifestiert, eine Fläche, welche diejenige des Ge­mäldes wiedergibt: Als ein Bild über Repräsentation macht Die arkadischen Hirten auf einen Aspekt aufmerksam, der eng mit dem elegischen Modus ver­knüpft ist, in dem sich die Stimmung des Bildes präsentiert. In dem Augenblick, der die Erkenntnis bringt, in Einklang mit der Natur zu leben, in Arkadien zu sein, ist dieses Arkadien bereits unwiederbringlich verloren. Die mythische Zeit schlägt um in eine historische. Damit kann sich am Ort dieses Umschlags das Wechselspiel von Nah und Fern in der Darstellung entfalten, in einem räum­lichen und zeitlichen Sinn. Die Landschaft ist der Ort, an dem sich dieser Wech­sel vollzieht. Es ist der Ort, der Kultur nicht nur sichtbar macht, sondern in dem sich Kultur als Vorgang ausbreitet. Lesbar gemachte, reflektierte Natur umfängt Kultur und erzeugt sie als symbolische Form.

«One of the outstanding qualities of Herds is the way it conveys time unfolding slowly with rhythms quite different from those of industrial societies.»6 Peter Loizos beschreibt hier eine Eigenschaft des Aufbaus der Einstellungen von To Live With Herds und ihrer Anordnung, die mit dem Thema und der Entwick­lung der Filmerzählung in unmittelbarer Wechselwirkung steht: ln dem lang­samen, ruhigen Rhythmus der Bilder wird eine Zeitvorstellung aufgerufen, die für die Lebensweise pastoraler Gesellschaften, hier der Jie, stehen soll. Darin wird Landschaft als eine räumlich erfahrbare Dimension von Kultur sichtbar, wie Logoths Beschreibung seines Territoriums zeigt. Im Fortgang der Erzäh­lung wird zu dieser ästhetischen Struktur ein Gegenbild aufgebaut: die an die Geldwirtschaft geknüpfte quantifizierbare Zeit, die einhergeht mit dem in Zah­len bemessbaren Wert von Vieh und Land - zusammengefasst im Zwischentitel «The Value of Cattle». Im Gegenbild gerät die Darstellung von Kultur in Fluss und wird sichtbar als ein Vorgang, in dem die kulturellen Unterschiede stets neu ausgehandelt werden. Diese beständige Neudefinicrung findet statt auf der Ebene der filmischen Darstellung einer Lebenswelt mit ihren materiellen Objekten und ihrer Zeitstruktur, sodass in der Schluss-Sequenz der drohende Verlust eben dieser Lebenswelt zu Tage tritt. Als räumliche Komponente und als sichtbare Manifestation der Lebenswelt ist die Landschaft in diesen Wandel einbezogen; von einem durchwanderten Kulturraum wird sie zu einer Folie für die emblematische Darstellung einer im Verschwinden begriffenen Lebens­weise.

To Live With Herds elaboriert so den europäischen Arkadien-Topos als Mittel der Annäherung und Distanzierung gegenüber einer fremden Kultur. Annäherung vollzieht sich über die sichtbare materielle Umwelt, die sich als überschaubare Landschaft darstellt, die Distanzierung über die in der narra­tiven Entwicklung evozierte Vorstellung des drohenden Verlustes, welche das Gesehene in eine unbestimmte zeitliche und räumliche Ferne rückt - Arkadien als ein mythischer Ort, in dem der elegische Unterton des Verlorenen, nur noch in der Repräsentation Greifbaren anklingt.

Soziale Ästhetik, wie sie David MacDougall versteht, geht davon aus, dass kulturelle Konzepte in die materielle Umgebung und in sichtbare Phänomene eingewoben sind, ln einem Werk wie To Live With Herds elaboriert die filmi­sche Darstellung der sichtbaren Umwelt einer fremden Kultur ein europäisches Modell der Bildgestaltung, die Tradition der arkadischen Landschaft. Die Konnotationen dieses bekannten Topos ermöglichen es, den Wandlungsprozess einer anderen Kultur zu vermitteln. Diese auch in der geschriebenen Ethno­logie verbreitete Vorgehens weise7 erfährt im visuellen Medium des Films eine Ausweitung. Elizabeth Mermin sieht einen grundlegenden Unterschied zwi­schen bildlichen Repräsentationen und geschriebenen Darstellungen in der Fülle der Dinge, die in Fotografien und insbesondere im Film abgebildet sind und die sich einer Integration in eine kohärente Erzählung entziehen. Sie nennt dies den Exzess des Bildes: «[...] each deliberate narrative is necessarily sur­rounded by secondary visual information that is not essential to the intended narrative but, by its presence becomes part of it.»8 Für Mermin ergibt sich im ethnografischen Film daraus das Problem, die Vielzahl möglicher Bedeutungen einzugrenzen, das, ihrer Ansicht nach, zur Verbreitung eines eingesprochenen Kommentars und ähnlicher Methoden geführt hat. To Live With Herds ver­anschaulicht, wie der visuelle Exzess in die formale Gestaltung eines Films ein­bezogen werden kann - als ein Werk auf dem Weg zu einer tatsächlich visuellen Anthropologie. Der Landschaft kommt darin die zentrale integrierende Funk­tion zu: Geistige und materielle Landschaften verbinden sich in der ästheti­schen, visuell erfahrbaren Form.

Vgl. u. a. David MacDougall, «Prospects of the Ethnographic Film», in: Film Quarterly i}h (Winter 1969/70), S. 16-30; «Beyond Ob­servational Cinema», in: Paul Hockings (Hg.), Principles of Visual Anthropology, The Hague 1975, S. 109-124; «Ethnographic Film: Failure and Promise», in: Annual Review of Anthro­pology 7 (1978), S. 405-425; «The Visual in Anthropology», in: Marcus Banks / Howard Morphy (Hgg.), Rethinking Visual Anthropo­logy, New Haven / London 1997, S. 276-293; «Transcultural Cinema», in: Lucien Taylor (Hg.), Transcultural Cinema. Selected essays, Princeton 1998, S. 245-278.

MacDougall, «Transcultural Cinema» (wie Anm. 1).

MacDougall, «Social Aesthetics and the Doon School», Manuskript (6. Mai 2000), S. I. In «Transcultural Cinema» (wie Anm. 1, S. 274) schreibt er: «To express how the world is ex­perienced and shaped in social practice, an anthropology of consciousness must also take into account how the experience of its audience is shaped. In a world of implication and meta­phorical richness, grounded in tacit knowledge, it must often speak metaphorically and by implication. This means drawing the viewer or reader into the historical and social space of an ethnography, just as one might introduce someone gradually to the geography of a new terrain.»

Peter Loizos, Innovation in Ethnographic Film. From Innocence to Self Consciousness, 1951-1985, Manchester 1993, S. 100.

Louis Marin, 7b Destroy Painting, Chi­cago 1995 ('1977), S. 93.

Loizos (wie Anm. 4), S. 94.

James Clifford beschreibt die Ethnografie Bronislaw Malinowskis im Licht der Romane von Joseph Conrad. Dabei zeigt er, wie Mali­nowski seine Forschung an Modelle des Kolo­nialismus und Exotismus anknüpft, welche auch den Romanen und Erzählungen Conrads zu Grunde liegen. Clifford geht so weit, einen Zusammenhang zwischen dem Selbstbild des Ethnologen und dem des Schriftstellers her­zustellen (James Clifford, «On Ethnographic- Self Fashioning: Conrad and Malinowski», in: James Clifford (Hg.), The Predicament of Cul­ture. Twentieth-Century Ethnography, l itera­ture, and Art, Cambridge 1988, S. 92-113).

Elizabeth Mermin, «Being Where? Ex­periencing Narratives of Ethnographic Film», in: Society for Visual Anthropology Review I}/' (1997). S. 43.

Henning Engelke
geb. 1969, Studium der Kunstgeschichte, Ethnologie und Soziologie in Göttingen, arbeitet im Deutschen Filmmuseum, Frankfurt am Main.
(Stand: 2018)
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