ANDREA REITER

BITTERFELD, 1992 (MATHIAS KNAUER)

SELECTION CINEMA

Dass Dokumentarfilme eine Unmittelbarkeit des Realen durch filmische Strategien erzeugen, dass jede Dokumentation durch subjektive Auswahl- und Strukturierungskriterien be­stimmt ist und so ein individueller Blick zur Geltung kommt, gilt als allgemein bekannt und akzeptiert. Nur noch selten - unvermeidlich allerdings beim Betrachten von Bitterfeld, 1992 - drängt sich die grundlegende Frage nach Wahrhaftigkeit und Objektivität filmischer Re­präsentation auf. Durch seinen Sprachgestus, der sich einer Sozialismus-kritischen Debatte der letzten Jahrzehnte zu entziehen scheint, reaktiviert und verteidigt der Film über weite Teile einen sozialistischen Jargon, ohne sich einer sprachkritischen Tradition zu stellen.

Bitterfeld, 1992 erzählt die Geschichte des gleichnamigen energie- und chemiewirtschaft­lichen Zentrums der DDR, das bereits Ende des 19. Jahrhunderts als Handelsknotenpunkt Bedeutung erlangte. Zu Zeiten der DDR wurde es zur Hochburg wirtschaftlichen Kapital­gewinns ausgebaut und glitt mit den Ereignis­sen nach 1989 einem schnellen Verfall entgegen. Dokumentiert wird im klassischen Reportagestil: Die Bilder zeigen die Gegend und die Menschen, heruntergekommene Wohnbezirke, desolate, oft ausrangierte Fabrikanlagen sowie die Mondlandschaften des unrentabel gewor­denen Braunkohlebergbaus und vermitteln den besonderen Charme industrieller Maschinen und Bauten. Der durch eine sonore männliche Off-Stimme gesprochene Kommentar wird durch Interviewsequenzen ergänzt. Historisch breit abgestützt, steht der wirtschaftliche Zusammenbruch der Gegend im Zentrum. Der Film bezieht deutlich Stellung und bezeichnet die korrupt-kapitalistischen westdeutschen Vorgehensweisen als massgeblich mitschuldig an dieser Entwicklung. Mit faszinierender Ra­dikalität wird einer Gleichgültigkeit gegenüber den politischen Ereignissen in Deutschland entgegengearbeitet, um im Zeitalter der Globa­lisierung und der unüberschaubaren Verstri­ckung von Politik und Ökonomie ein politi­sches Bewusstsein zu mobilisieren.

Die berechtigte Kritik, dass die Bedürf­nisse der ostdeutschen Bevölkerung missachtet wurden und der schnelle Profit sowie die schwer zu belegenden spekulativen Machen­schaften westdeutscher Financiers zu deren Lasten gingen, wird durch die Reaktivierung sozialistischer Sprachmuster sowie die unüber­schaubare Menge an Argumentationssträngen geschwächt. Sie mündet in eine problematische Stellungnahme zur DDR-Politik und ver­knüpft ohne plausible Argumentation den wirtschaftlichen Untergang der Region, die Resignation und Hoffnungslosigkeit der Be­völkerung sowie den blühenden Rechtsradika­lismus mit der westdeutschen Vereinnahmung, der Spekulation und dem treuhänderischen Ausverkauf.

Andrea Reiter
geb. 1973, Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Philosophie.
(Stand: 2018)
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