FLAVIA GIORGETTA

TOUT EST BIEN (VINCENT PLUSS)

SELECTION CINEMA

«Maman» hat Geburtstag, und ihr Sohn Jacques gibt sich alle Mühe, ein ruhiges Familienessen mitsamt seiner Frau Madeleine und seinem Bruder Lionel hinzukriegen. Bereits während der Autofahrt nervt Mama ihn; gänzlich ver­liert Jacques die Nerven, als Lionel sich wei­gert, ihn zu empfangen, geschweige denn zum Essen mitzukommen.

Schon zu Beginn von Pluss’ mit Hand­kamera gedrehtem Kurzspielfilm ist die Anlage ungeklärter Familienverhältnisse gegeben. Sie führen dazu, dass sich ein eigentlich unverfäng­liches Geburtstagsessen in ein emotionales Gewitter entlädt. Wenn die Mutter den rebelli­schen Lionel, der in einem baufälligen Siebzigerjahre-Hochhaus wohnt und schon am späten Nachmittag angetrunken ist, als ihr ähn­licher bezeichnet - «un peu plus comme moi, un peu plus rêveur» -, reissen bei Jacques, der sich doch immerhin die Mühe gibt, sich um Mama zu kümmern, alte Eifersuchtswunden auf. Er ist in einem Konflikt zwischen Hass und Liebe gefangen, den er schon zu Beginn an Bruders geschlossene Tür schreit: «On t’aime, merde.» Trotzdem lässt sich die Verbundenheit zwischen den Geschwistern nicht wegprügeln; aber sie finden auch keine gemeinsame Sprache ausser der der halb zärtlichen, halb ernst ge­meinten Schlägerei.

Die junge Nachbarin, die gedrängt von Lionel Zeugin dieser Szenen wird, bleibt - wie auch Jacques’ Frau - Aussenseiterin, die die Eskalation bloss als unverständlich empfindet und dementsprechend mit hysterischem La­chen reagiert. Diese Hysterie widerspiegelt so­wohl die Lächerlichkeit der Situation als auch ihren unterschwelligen Ernst, der die Nach­barin (wie zum Teil auch die Zuschauerinnen) bloss mit einer Gegenreaktion begegnen kann.

Dass Tout est bien dokumentarischen Charakter besitzt, liegt nicht nur am Dogma-Stil - Handkamera, kein künstliches Licht, Ein­heit von Zeit und Ort -, sondern hauptsächlich an den ausnahmslos hervorragenden Schau­spielern, denen viel Impovisationsfreiraum ge­lassen wurde. An den Kurzfilmtagen in Win­terthur 2000 hat Pluss für Tout est bien den Spezialpreis gewonnen, nachdem er im glei­chen Jahr in Locarno bereits den Kodakpreis für den besten Schweizer Kurzfilm erhalten hatte.

Flavia Giorgetta
geb. 1973, Studium der Anglistik, Filmwissenschaft und Volkswirtschaftslehre. Lebt in Zürich und arbeitet als wissenschaftlich-päda­gogische Assistentin im Studienbereich Film an der HGK Zürich. Mitglied der CINEMA-Redaktion seit 2001.
(Stand: 2018)
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