FLAVIA GIORGETTA

SI C'EST ELLE (INGRID WILDI)

SELECTION CINEMA

Ingrid Wildi hat in Si c’est elle mit äusserst ein­fachen Mitteln gedreht: Drei Männer werden einzeln frontal von einer fixen Kamera gefilmt. Sie sitzen vor einem weissen Hintergrund und sprechen zur Befragerin, welche auch die Ka­mera führt, über eine Frau in ihrem Leben. Die Fragen sind grösstenteils herausgeschnitten, sodass die Antworten der drei Männer, die etwa zwischen 25 und 60 Jahre alt sind, die Beschreibung einer einzigen Frau zu ergeben scheinen.

Während Sergio, der ab und zu vom Fran­zösischen ins Spanische wechselt, sich an eine stets bebrillte Frau erinnert, die nie eine Hose tragen würde und trotz ihrer Zierlichkeit meh­rere Banana Splits verdrücken kann, beschreibt Ismaël, der Jüngste der drei Befragten, die Frau als Heilerin. Physisch zuletzt gesehen hat er sie im Kino - nun, weiss er, ist sie in der psychiat­rischen Anstalt. François, der Älteste, bringt vor allem eine aussergewöhnliche Stimme mit der Frau in Verbindung. Diese setzte sie ein, um ihre immer ein wenig ausgeschmückten Geschichten zu erzählen. Nein, eine Lügnerin sei sie nicht, viel eher würden bei ihr Ereignisse aus der Nachbarschaft zu märchenhaften Er­zählungen.

Alle drei Männer schwelgen in ihren Er­innerungen, die jedoch - vor allem bei Ismaël - auch schmerzvoll zu sein scheinen. Die Äusse­rungen sagen weniger über die beschriebene Person aus als über die Beziehung, die die Män­ner zu ihr haben oder hatten. Dabei wird nie ausgesprochen, ob es sich um eine Geliebte, eine Ehefrau oder eine Freundin handelt, bis Sergio von der Tollheit dieser Frau erzählt, sich mit 71 Jahren noch zu verlieben und dies auch körperlich auszuleben. Drei Söhne haben hier also Zeugnis abgelegt über ihre Mütter, aber vor allem über ihr manchmal getrübtes, manch­mal idealisiertes Verhältnis zu ihnen. Indem Wildi sie nie das Wort «Mutter» sagen lässt, projiziert man verschiedene Rollen, die Frauen in den Augen der Männer ausfüllen, in die Be­schriebenen. Dass dies ohne weiteres möglich ist, liegt an den vielschichtigen Beschreibungen der Männer, deren ambivalente Gefühle nicht bloss im Gesagten, sondern auch in der Gestik ausgedrückt werden: Die Dokumentation hätte Freud wahrlich Vergnügen bereitet.

Flavia Giorgetta
geb. 1973, Studium der Anglistik, Filmwissenschaft und Volkswirtschaftslehre. Lebt in Zürich und arbeitet als wissenschaftlich-päda­gogische Assistentin im Studienbereich Film an der HGK Zürich. Mitglied der CINEMA-Redaktion seit 2001.
(Stand: 2018)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]