ROLF NIEDERER

WENN DER GONG SCHLÄGT — ZUR GESCHICHTE DES BOXERFILMS

ESSAY

Ich setze fort meine Serie mit Billie Papke. Dem erstem Genie des Infightings. Billies grösster Kampf War der berühmte Revanchekampf gegen Stanley Ketchel. Der Kampf aller Kämpfe. Damals wurde zum ersten Male gehört. Der Name: menschliche Kampfmaschine. Wie eine Maschine Schlug der rauhe Ketchel Billie das Herz aus dem Körper. Aber Billie war an diesem Tage gross. Eine Klasse für sich, unschlagbar. Selbst auf schwankenden Füssen Stehend, schlug er den ehernen Ketchel k.o.

Aus: Bertolt Brecht, Gedenktafel für 9 Weltmeister

Bertolt Brecht hat Boxveranstaltungen einmal als eine der grossen mythischen Vergnügungen der Riesenstädte von jenseits des grossen Teiches bezeichnet. Der Boxsport ist denn auch Teil des urbanen Lebens und die Beschäftigung mit dem Thema deshalb Teil der kulturellen Impulse, die von den Städten ausgehen.1

Die Grossstadt war im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts, im Zeichen der zunehmenden Industrialisierung, zu einem wesentlichen Thema der Dichtung geworden. Machtvoll tritt sie im literarischen Naturalismus in Erscheinung, zum Ungeheuer gesteigert, erfüllt sie das Œuvre Zolas. Eine sozialkritische Schärfung erfährt das Motiv, als mit dem Ersten Weltkrieg die bestehende Ord­nung zusammenbricht. Die Grossstadt wird, in der Dichtung wie später im ex­pressionistischen Stummfilm der Zwanzigerjahre, zum Inbegriff des Ghaos, zum Sinnbild der Vergänglichkeit. In dieser Vision taucht sie auch im Werk des jungen Brecht auf: «Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurch ging, der Wind!», heisst es im lyrischen Selbstporträt Vom armen B.B. Je wei­ter die Steinwüsten der Städte wachsen, desto radikaler wird die Anonymität und die Vereinsamung des Individuums. In Brechts 1923 uraufgeführtem Früh­werk Im Dickicht der Städte wird diese Verlorenheit im Dschungel der Gross­stadt und in den Individuen selber am Beispiel eines zum Symbol erhobenen Kampfes demonstriert. Der Boxring ist zwar Austragungsort, die Grossstadt selber aber die Arena, in der die Kämpfe stattfinden, in der über Siege und Nie­derlagen entschieden wird.

Die Eroberung der Städte

Ein junger Lastwagenfahrer aus der New-Yorker East Side fängt wider Willen an zu boxen, um seinem hochbegabten jüngeren Bruder die Karriere als Kom­ponist zu ebnen. Er wird in der Darstellung von James Cagney zur mensch­lichen Kampfmaschine von zündender Dynamik. City for Conquest (Anatole Litvak, USA 1940) ist ein explosives Drama um sozialen Aufstieg, Ruhm und Erfolg. Die Stadt wird erobert, indem ein Opfer des Wettbewerbs die Entfal­tung eines anderen Menschen ermöglicht. So steht am Schluss der verletzte, von Schlägen gezeichnete Ex-Champion versöhnt in seinem Zeitungskiosk, der ihm den Lebensunterhalt ermöglicht, und erkennt in seinem Bruder die Verwirk­lichung seines einstigen Traums. City for Conquest vereinigt die Qualitäten des Boxerfilms in beispielhafter Dramaturgie: Der Film zeigt nicht nur die aufput­schenden Faustkämpfe im Seilgeviert, das über den sportlichen Vorwand hin­aus zum Platz für Hass und Rache werden kann, sondern vermag auch eine psychologisch, emotional und sozialkritisch fundierte Betrachtungsweise zu vermitteln. Vor allem aber wird der Versuch einer detailgenauen, atmosphärisch dichten Schilderung des Grossstadtlebens unternommen.

Jahrzehnte später findet sich dasselbe Motiv der Grossstadt bei Martin Scorsese wieder. Seine Filme verweisen auf den sozialen und ethnischen Schmelztiegel New York und spiegeln jeweils auch die Gewalt in dieser Stadt wider, die für Scorsese alle Widersprüche eines gesellschaftlichen Systems in sich zu vereinen scheint. Scorsese arbeitet aus einer starken Bindung an jenen gesellschaftlichen Hintergrund, dem er selber entstammt. Seine Filme sind geprägt durch seine Kindheitserfahrungen mit einem restriktiven Katholizismus, die Themen seiner Werke bestimmt durch seine Jugend in New Yorks Stadtteil Little Italy. Im Zentrum eines seiner Hauptwerke steht deshalb fast folgerichtig der Boxsport. Basierend auf der Autobiografie des Mittelgewichts weltmeisters Jake La Motta, erzählt Scorsese 1980 in Raging Bull die Geschichte eines Mannes, der seiner Herkunft in Little Italy zu entfliehen sucht, indem er sich als Boxer mit allen Mitteln nach oben kämpft. Wieder sind es die sozialen Bedingungen, die einen Menschen zur Kampfmaschine werden lassen: Im Gegensatz zum Boxer in City for Conquest, der für seinen Bruder kämpft, wird Robert de Niro als Jake La Motta in Raging Bull aber von purem Egoismus getrieben. Scorsese nimmt die zwischen 1941 und 1964 in Episoden verlaufende Geschichte zum Anlass für die psychologische Studie eines selbstzerstörerischen und gewalttätigen Men­schen und seines gesellschaftlichen Umfeldes. Der Ring ist der Ort seiner Triumphe, aber auch der Reue, wo der Kämpfer mit den gewaltigen Schlägen, die er einsteckt, seine Schuld abbüsst. Raging Bull, ein Boxerfilm, der weit über die Gepflogenheiten des Genres hinausreicht, erschien zu seiner Zeit wie eine Synthese aus Scorseses Schaffen: Wieder werden die Rituale und Manierismen der Mafiosi in Little Italy zelebriert. Jake La Motta wird zum Aussenseiter, weil er sich seine eigenen Gesetze schafft. Insofern ist er verwandt mit Charlie aus Mean Streets und mit Travis Bickle aus Taxi Driver. Sie alle kämpfen mit dem Rücken zur Wand, haben sich im System des Sozialgefüges der Grossstadt ver­loren.

Die Dynamik der Bilder

Der Film hat sich seit den Pioniertagen intensiv mit dem Boxsport befasst. Für die Affinität der neuen Kunstform zur traditionellen Sportart - olympische Disziplin seit der Antike — mag anfänglich ausschlaggebend gewesen sein, dass sich der Boxring so problemlos wie kaum ein anderes Objekt kadrieren liess und die beiden Kämpfer den Bildern jene innere Dynamik gaben, die das Feh­len äusserer Bewegungen wettmachten. Nicht zuletzt deshalb, weil die Kamera selbst noch statisch war, schossen die Filmpioniere vorzugsweise Bilder von allem, was sich bewegte. So liess Thomas Alva Edison bereits 1894 den amtie­renden Weltmeister im Mittelgewicht, James J. Corbett, bekannt unter dem Spitznamen «Gentleman Jim», vor laufenden Kameras gegen den Herausfor­derer Peter Courtney antreten: Der Begriff «Schaukampf» erhielt damit eine völlig neue Bedeutung. Dem Film war grosser Erfolg beschieden. 1942 wurde Jim Corbetts Lebensgeschichte von Raoul Walsh unter dem Titel Gentleman Jim verfilmt.

Walsh, ein Mann von grosser Arbeitskraft, Beharrlichkeit und Standver­mögen - Tugenden, die er in seinen Filmen stets verherrlicht hat, weil er sie als Eigenschaften des echten Amerikaners betrachtet -, hat seine Filme immer als eine dramatische und oft auch tragische Möglichkeit aufgefasst, diese Tugenden darzustellen. Zunächst wirken die Menschen in seine Filmen gradlinig, denn ihre Beharrlichkeit scheint sie unempfindlich zu machen für Mitmenschen und Haltungen, die ausserhalb gefestigter ethischer Normen existieren; aber sie sind so gradlinig dann eben doch nicht. Sie brechen auf, wenn sie auch nie zer­brechen, auch dann nicht, wenn sie untergehen. Sie erweitern ihren Horizont und ihr menschliches Verständnis, aber sie weichen der Verantwortung nicht aus, zu der sie sich einmal bekannt haben. Das bringt in Walshs Filme einen Zug von Pessimismus, der sogar klarsichtig wird. Dies ist auch der Grund, dass seine Helden lachen können. Ihr Lachen ist ebenso vital wie ihr Mut, und beides zusammen macht sie, in den besten Fällen, elegant, generös und grossartig. So ist es zu verstehen, dass die Figur des Mittelgewichtsweltmeisters Jim Corbett die persönlichen und sozialen Tugenden des redlichen Sportlers verkörperte: Gentleman Jim ist eine romantische Filmbiografie zwischen Drama und Komö­die, die jedenfalls ein lebendiges Bild von der Frühzeit des Boxsports vermit­telt, bevor dieser gesellschaftsfähig wurde.

Boxen als Ausweg aus der Armut

Die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs hat dem Karriereverlauf grosser Boxer immer wieder entscheidende Impulse verliehen. In den Vereinigten Staaten, wo sich der Boxsport im neunzehnten Jahrhundert ausbreitete, wurde diese Mög­lichkeit für viele zur Hoffnung, dem tristen Dasein in den Slums der Gross­städte zu entkommen. Boxen war die Abkürzung durch die Misere der Armut. Das Thema der Filme über diese Hoffnung ist damit vorgezeichnet: der soziale Aufstieg als Preis des erfolgreich bestandenen Kampfes; die Rücksichtslosigkeit dieses Kampfes, der zum Symbol des Existenzkampfes in der Grossstadt wird; und damit die Kritik am Aufbau und am Verhalten der urbanen Gesellschaft, an ihren Lebenslügen und Illusionen. Der Mensch droht schliesslich, wie Jake La Motta in Raging Bull, an seinen eigenen ungezügelten Kräften zu zerbrechen. Sie beherrschen ihn, da er nur gelernt hat, sich in der Sprache der Fäuste aus­zudrücken.

Wie Brecht fasziniert erkannte, wird der Boxsport in den Grossstädten ein fester Teil der Unterhaltungsindustrie, die das urbane Leben in gewisserWeise widerspiegelt. Unsummen konnten beim Wetten verloren oder gewonnen wer­den, und schon bald stand der Boxsport in enger Verbindung mit dem auf­kommenden Gangstertum. Es mag deshalb kaum erstaunen, dass zahlreiche Hollywood-Filme, die im Boxer-Milieu spielen, der Struktur und dem Stil nach Gangsterfilme sind: der arme, aber redliche Junge aus den Slums, den skrupel­lose Manager in eleganten Anzügen und mit (sau)mässigen Tischmanieren in mörderischen Ringschlachten zum Champion aufbauen und dann je nach Gewinnaussichten fallen lassen. Dies ist das Standardthema zahlreicher klassischer Boxerfilme, von Kid Galahad (Michael Curtiz, USA 1937) bis The Harder They Fall (Mark Robson, USA 1956). Im letzteren Film verkörpert Humphrey Bogart einen zynischen Sportjournalisten, der sich mit einem skrupellosen Box­promoter darauf einlässt, einen naiven Krapftprotz durch eine Reihe mani­pulierter Kämpfe ganz nach oben zu bringen und dann in einen aussichtslosen Weltmeisterschaftskampf zu treiben, um im entscheidenden Moment gewaltige Wettsummen einzustreichen. Dem Boxgeschäft fällt dabei im Bezugssystem des Gangsterfilmes der gleiche Stellenwert zu wie dem verbotenen Glücksspiel, der Prostitution oder dem Drogenhandel: Er ist eine Möglichkeit, illegal fette Gewinne zu machen.

In Filmen dieser Art wurde ein von der Realität zwar inspiriertes, aber nicht in jedem Fall realistisches Actionkino entwickelt. Die Zuschauer können eine Fiktion erleben, die sich nicht unbedingt nur auf den Kampf konzentriert. So fasste Franco Zeffirelli in seinem 1977 gedrehten Remake von King Vidors The Champ (USA 1931) in einer melodramatischen Gebärde gleich alles zusammen, was das Genre an Dramatik und Emotionen freizusetzen vermag. Ein alternder Ex-Champion steigt noch einmal in den Ring, um seinen ihn vergötternden Sohn, den er an die von ihm getrennt lebende Mutter zu verlieren glaubt, nicht zu enttäuschen, und um vor seiner Frau, die er im Grunde immer noch liebt, wieder zu bestehen. Das Comeback des Champions endet wohl siegreich, aber dennoch tragisch - er ist von zahlreichen Kopftreffern gezeichnet. Doch ist es gerade diese Tragik, die schliesslich im Sinne einer Katharsis menschliche Grösse bewirkt und zur Versöhnung führt.

Nicht weniger fantasie- und gefühlvoll, zum Teil aber präziser auf ihre box­geschichtliche Verwendbarkeit hin, präsentieren sich jene Filme, welche die Lebensläufe berühmter Boxer nachzeichen und mehr auf das sportliche Ge­schehen eingehen: Somebody Up There Likes Me (Robert Wise, USA 1956), die stark idealisierte Biografie des Mittelgewichtsweltmeisters Rocky Graziano; The Joe Louis Story (Robert Gordon, USA 1953), ein Biografieversuch, der sich vor allem durch die Dokumentaraufnahmen von legendären Boxkämpfen aus­zeichnet, die in die Fiktion eingewoben wurden; The Great White Hope (Mar­tin Ritt, USA 1970), ein kritischer Film über das Rassenproblem; oder Gentle­man Jim, eines der schönsten Beispiele des Genres.

In diesen Produktionen wurde mit unterschiedlichem Erfolg versucht, in der sportlichen Rekonstruktion der Kämpfe, in der bis ins Detail gehenden Darstellung der fanatisch mitgehenden Zusehauermassen und in einer stimmunsgvollen Schwarzweiss-Fotografie das lärmige, von Rauch geschwängerte und von Schweiss durchtränkte Klima einer Sporthalle herzustellen. Trotzdem, oder gerade deswegen, blieben manche dieser Filme in ihrer inszenatorischen Übersteigerung meist recht unempfindlich gegenüber der Atmosphäre eines wirklichen Boxkampfes. Das mag zum Teil auch an den Schwierigkeiten liegen, einen solchen Kampf schauspielerisch zu rekonstruieren. So beschränken sich die Boxszenen zumeist auf hart geschnittene Aufnahmen von Kopftrelfern und Niederschlägen, was diesen Szenen den Charakter eigentlicher Schlachten ver­leiht, in denen die Gesichter von Fäusten traktiert werden, die blutige Furchen aufreissen und einschlagen wie Granaten. Zu kurz kommt dabei die technische Seite des Boxsportes, die Eleganz der Körpertäuschungen, das lauernde Um­tänzeln des Gegners, die blitzschnellen Abwehr- und Angriffsreaktionen. In der Hektik dieser auf Dramatik und zumeist auch auf Brutalität hin inszenierten Schaukämpfe wird zudem leicht übersehen, wie vermeintliche Treffer in wirklichen Boxkämpfen von der gegnerischen Deckung abgefangen werden, wie viele Schläge an der gegnerischen Deckung verpuffen.

Die Vergeblichkeit der Gewalt

Zu den Filmen, die eine realistische Atmosphäre um den Boxsport zu evozieren wussten und auf die üblichen Klischees des Genres weitgehend verzichteten, zählen vorab zwei Produktionen: Walkower (Polen 1965), in dem Jerzy Skoli- mowski in karger Schilderung eigene Erfahrungen als Amateurboxer verarbei­tete und im Schicksal eines sich selbst und dem Leben gegenüber ratlosen jun­gen Menschen gesellschaftliche Tatbestände als Ursache für ein individuelles Drama sichtbar werden lässt. Ebenso aussergewöhnlich ist Fat City (John Eluston, USA 1972). Huston, der in seiner Jugend selber Boxer war und seine Leidenschaft für das Boxen nie verloren hat, adaptierte Leonard Gardners gleichnamigen Roman in einem Film, in dem Brillanz und Nüchternheit, ellip­tische Diskretion und eine scharfe Skizzierung der «condition humaine» eine stilistische Einheit bilden. Hier geht es nicht, wie meist, um die Champions, sondern um jene Kämpfer, die in den Ring steigen, weil sie hoffen, aus der Ano­nymität herauszutreten. Line trügerische Hoffnung, denn sie werden ebenso ausgebeutet, wie sie es würden, blieben sie arme Landarbeiter. Fat City zeigt realistische Akribie, ist aber, für John Huston bezeichnend, auch als eine Alle­gorie zu verstehen. Schliesslich endet alles mit der Vergeblichkeit menschlichen Bemühens. Fat City geht über die Darstellung des Kampfes auf die Einsamkeit des Menschen in der urbanen Gesellschaft ein und lässt im Scheitern des Hel­den einen Grundsatz des Regisseurs sichtbar werden: der Gefahr und dem Ausgesetztsein mit Mut zu begegnen. Hustons Film gerät zum Gleichnis vom ewigen Kampf des Menschen gegen Misserfolg und Verzweiflung, die zuerst im Individuum und erst dann in der Gesellschaft und deren unerbittlichem Leis­tungsprinzip begründet sind.

Hier erreichen die besten Filmen des Genres, zu denen Fat City ebenso gehört wie Raging Bull, jene Dimension, die hinausreicht über blosse Darstel­lung von Thrill und Action und hineinführt in die Bereiche von Tragik und Lei­den, aber auch von Erkenntnis und Hoffnung. Wenn Jake La Motta in einem letzten verzweifelten Kampf gegen die steinernen Mauern seines Gefängnisses hämmert und dabei eine verzweifelte Wahrheit über sich selber erfährt, eine Wahrheit, die er in einem Augenblick der Erniedrigung und des Elends aus sich heraustrommelt, geschieht mit ihm dasselbe, was andere zuvor ebenfalls er­fahren haben: die Erkenntnis von der schliesslichen Wirkunsglosigkeit seiner Gewalt, von der Vergeblichkeit der Kämpfe, die nichts anderes waren als Ver­nichtungsfeldzüge gegen sich selber.

Als würde er den Beweis für diese These antreten, benützt David Fincher in Fight Club (USA 1999) das Motiv aus Stevensons «Dr. Jekyll and Mr. Hyde»: Der Film beginnt im Gehirn eines frustrierten, namenlosen Angestellten, von aussen betrachtet ein vorbildlicher Markenkonformist, in dessen Innerem je­doch die Rebellion tobt. Aber erst der Kontakt mit einem seltsam finsteren Handelsvertreter, einem Guérillero der modernen Konsumkultur, verschafft den nötigen Aufruhr: Die beiden gründen einen Männerklub, dessen Zweck darin besteht, die Lebenskraft im Prügeln zu erfahren. Im «fighi club» werden zum Zwecke des Adrenalinrausches rohe Faustkämpfe ausgetragen. Das Bei­spiel zieht Kreise und verführt zur Nachahmung. Als sich das Unternehmen zur Privatarmee ausweitet, beginnt der Held die Dimension der Verschwörung zu ahnen und versucht sie einzudämmen, muss aber schliesslich erfahren, dass er stets mit seinem Alter Ego gekämpft hat.

Einige der führenden, zumeist sozial engagierten Drehbuchautoren des amerikanischen Kinos haben den Kampf in seiner symbolischen Bedeutung als Vorlage für ihre Gesellschaftskritik benützt und sich vor dem dramaturgischen Hintergrund des Boxsports mit psychologischen, gesellschaftlichen und sozia­len Problemen befasst. Zu ihnen gehören unter anderen der Schriftsteller Budd Schulberg, der die Vorlage zu The Harder They Fall lieferte, Abraham Polonsky, der das Script zu Body and Soul verfasste, und Ring Lardner Jr., der das Box­drama Champion schrieb. In Body and Soul (Robert Rossen, USA 1947) droht der von Jack Garfield dargestellte Boxchampion sich selber und seine Bezie­hungen zur Umwelt vollends zu zerstören, in World in My Corner (Jesse Hibbs, USA 1956) verstrickt sich der Faustkämpfer immer tiefer in Kriminalität und Korruption.

Charley, der Vorstadtjunge in Body and Soul, wird Boxer, weil er sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlt. Sein Kampf um den Meistertitel ist auch ein Kampf um Geld und soziale Anerkennung, um Wohlstand - der Traum und das Ideal Amerikas vom Selfmademan, der seinen Platz an der Sonne aus eige­ner Initiative erreicht. Die Gewalt aber, die implizit in diesem Ideal steckt, wird in Body and Soul nur allzu sichtbar: Freunde werden betrogen, Freundinnen verlassen, die Menschenwürde wird korrumpiert. Charley funktioniert, endlich oben, nur noch als Geldmaschine. Und als er sich schliesslich gegen das System stellt, das ihn kaputtgemacht hat, ist das auch wieder nur möglich durch einen Akt der Gewalt. Der Rache der Unterwelt kommt das Ende des Films zuvor.

Die Selbstbestätigung, die in den Fäusten zu stecken scheint, ist trügerisch: Sie zerstört nicht nur die Gesichter der Gegner, die im Ring zu Feinden werden, sie bricht am Ende die Freundschaften, die Liebe, schliesslich die menschliche Seele und den Geist, wie das in bitterster Konsequenz Stanley Kramer und Mark Robson 1949 in The Champion dargestellt haben. Der Boxer zerschlägt hier nach seinem letzten Kampf, dem Wahnsinn verfallen, seine Fauste am Gar­derobekasten: ein Akt der Selbstvernichtung.

Der Sieg in der Niederlage

Das Scheitern muss jedoch nicht immer trostlos enden: Wo der Glaube an die Allmacht der Fäuste, der zur eigenen Zerstörung geführt hat, dem Gewinn einer eigenen, inneren Freiheit weicht, verändert sich das Bewusstsein dank der Kraft der Erkenntnis, die das Überleben ermöglicht. Wenn die letzten Bilder von Raging Bull einen fett gewordenen Jake La Motta als Zweitklass-Entertainer in einem Drittklass-Nachtklub zeigen, so ist der einstige Champion in Scorseses Interpretation nicht einfach zum Hanswurst heruntergekommen, zur aufgeschwemmten Parodie seiner selbst: Er hat sich vielmehr zu einem Men­schen gewandelt, der eine gewisse Ruhe und Selbstbescheidung erlangt hat, der die rohe Kraft der Fäuste überwunden hat, der versucht, wenn auch mit be­scheidenen Mitteln, eine neue Sprache zu sprechen, die Umwelt neu zu sehen.

«Wir haben beide gewonnen», flüstert die Frau des alternden Boxers Stoker Thompson in The Set-up (Robert Wise, USA 1949) zu ihrem Mann, der zer­schlagen auf dem Asphalt liegt. Thompson hat sich gegen die Box-Mafia auf­gelehnt und im Glauben an die sportliche Fairness gewonnen, wofür ihm als Strafe für eine geplatzte Wette die Hände zertrümmert werden; seine Frau, die ihn eigentlich verlassen wollte, ist deswegen zurückgekehrt, zu einem Mann, der an eigenem Leib nicht nur Korruption und Gewalt gespürt hat, sondern auch Einsamkeit, Schmerz und Ausgesetztsein, der die Kräfte verloren hat, die in seinen Fäusten steckten. Er wird nie wieder boxen können, aber er hat seine Würde und zusammen mit seiner Frau die Fähigkeit zu einer menschlichen Be­ziehung zurückgewonnen. Dass weder Erniedrigung noch Erleichterung für Stoker Thompson in diesem Augenblick grösser sein könnten, gibt dem Ende eine eindrückliche Ambivalenz: ein Beispiel dafür, dass es gerade im Boxerfilm, wo Sieg und Niederlage so klar definiert werden, kaum je eindeutige Gewinner und Verlierer gibt.

The Set-up basiert auf einem Gedicht des Untergrundpoeten Joseph Mon­cure March, das der frühere Sportreporter Art Cohn als Drehbuch adaptiert hat. Der französische Filmpublizist Henri Agel hat diesen Film als «moralische und geistige Meditation»2 begriffen und damit in einen sprituellen Bereich ge­hisst, der in seinen besten Fällen zur Diskussion ethischer Grundwerte in die­sem Genre führt.

Bereits 1885 war der Boxroman Cashei 2 Henri Agel, Le Cinema, Tournais 1954. Byron’s Profession von George Bernard Shaw erschienen.

Rolf Niederer
geb. 1937, war tätig als Redaktor beim Berner Tagblatt und bei der NZZ sowie als Co-Leiter des Filmpodiums der Stadt Zürich. Seit 2000 frei­schaffend. Lebt in Zürich.
(Stand: 2018)
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