MEENAKSHI SHEDDE

BOLLYWOOD

FILMBRIEF

Bollywood, das unverblümte Mainstreamkino aus Bombay, ist etwas über­rumpelt von der Aufmerksamkeit, die ihm in letzter Zeit auf der ganzen Welt und besonders im Westen zuteil wird. Es wurde auf Festivals wie Cannes, Ber­lin, Locarno und Venedig gefeiert. Selbst an Universitäten wird es in Disserta­tionen und Seminarien zu Medientheorie und Populärkultur analysiert. Uff! Bollywood ist sehr geschmeichelt über die Anerkennung, fühlt sich aber auch leicht mulmig: Es ist etwas unschlüssig darüber, womit es sie denn nun verdient hat und wie lange es das aktuelle Lieblingsthema bleiben wird.

Abendländische Kinogänger haben sich zwar durchaus schon seit Anfang des letzten Jahrhunderts mit Indien auseinandergesetzt. Bezeichnenderweise aber zeigten diese Filme Indien oft als orientalische oder primitive Fantasie. Sabu, ein indischer Schauspieler, der in vielen dieser Filme figuriert, wurde vom berühmten Dokumentarfilmemacher Robert Flaherty (Nanook of the North) entdeckt und spielte in seinem Film The Elephant Boy (1937) einen Jungen aus dem Dschungel. Ausserdem trat er in Alexander Kordas Produktionen auf, so in The Thief of Baghdad (1940), wo er in einen Hund verwandelt wird. In The Jungle Book (1942), dessen Geschichte in Indien spielt, stellt er Mogli dar, während der grösste Teil der übrigen Schauspieler hellhäutig war und dunkel geschminkt wurde.

Ferner gab es die «Raj»-Filme: vorwiegend schwelgerische Kostümfilme, die während der Raj-Zeit spielen, als Indien eine britische Kolonie war (1858-1947), und in denen die Inder meistens als «unzivilisierte Eingeborene» oder manchmal als extravagante Rajas (indische Fürsten, Anm. d. Übers.) dargestellt werden. Dazu zählen Gunga Din von George Stevens (1939), A Passage to India von David Lean (1984), Heat and Dust von James Ivory (1982) und zwei be­liebte britische TV-Mini-Serien: The Ear Pavilions (1984) von Peter Duffell und Jewel in the Crown (1984) von Christopher Morahan.

«Internationales indisches Kino» könnte man die Werke von indischstäm­migen, aber nicht in Indien lebenden Regisseuren und Regisseurinnen nennen (so genannte NRI, non-resident Indians). Darunter fallen die Filme von Mira Nair (Monsoon Wedding, Mississippi Masala, Kama Sutra, Salaam Bombay), Dcepa Mehta (Fire, Earth), M. Night Shyamalan (Signs, Unbreakable, The Sixth Sense) - alle in Nordamerika wohnhaft -, von Gurinder Chadha (Bhaji on the Beach, Bend It Like Beckham) und Shekhar Kapur (Bandit Queen, Eli­zabeth), die aus Grossbritannien stammen, und von Pan Nalin (Samsara), der in Paris lebt. Einige dieser NRI-Filme beweisen zwar gutes Handwerk, bestär­ken aber abendländische Stereotypen des indischen Sozialgefüges - Armut, Prostitution und das Kastensystem (Salaam Bombay, Bandit Queen) - oder Klischees der sexuellen und spirituellen Tradition Indiens (Kama Sutra, Sam­sara) und natürlich der Reinkarnation (Ehe Sixth Sense).

Filme wie Monsoon Wedding hingegen verändern das aktuelle Bild Indiens sowie des indischen Kinos radikal. Nair beobachtet mit liebevollem Blick Freud und Leid einer wohlhabenden Familie in Neu-Delhi im Zeitalter der Globa­lisierung; dabei ist ihr schelmischer Ausgangspunkt die berühmte Bollywood- Formel des «Hochzeitsvideos»: eine mit Hochzeitsliedern reichlich bestückte Liebesgeschichte. Sie spinnt die Geschichte jedoch schwungvoll weiter, und ihre gründlichen gesellschaftlichen Beobachtungen vermögen eine universelle Resonanz auszulösen. Fin so internationales Echo hat bislang noch kein Film aus Bollywood gefunden.

Doch ausser mit all diesen Filmrichtungen ist der Westen seit langem auch mit dem indischen Kunstfilm vertraut - dem Kino Satyajit Rays, Mrinal Sens, Adoor Gopalakrishnans und vieler weiterer Regisseure. Das Studiokino macht jedoch kaum 5 Prozent der indischen Produktionen aus. Populäre, unbedarf­tere Filme für Millionen von Fans bilden die anderen 95 Prozent (Schätzungen zufolge gehen in Indien täglich rund 12 Millionen Menschen ins Kino). Das Mainstreamkino vereint also auf ungewöhnliche Weise die ansonsten stark aus­einander klaffenden Kulturen des Subkontinents. Wie der Kult-Drehbuchautor und Lyriker Javed Akhtar ausführt, existiert zusätzlich zu den offiziellen Staa­ten Indiens «ein weiterer Staat - das Hindi-Kino. Es hat seine eigenen Traditio­nen, seine eigene Kultur und Sprache ... Wir haben unsere eigenen Leinwand­Väter, die Hausmäntel tragen und Pfeife rauchen, ein Vater, der seiner Tochter verbietet, den Mann, den sie liebt, zu heiraten.» Bis vor kurzem war dieses Kino dem Westen jedoch kaum vertraut.

Der indische Film wird in 39 (Sie lesen richtig) indischen Sprachen und Dia­lekten produziert, vor allem aber in Hindi, Tamil, Telugu und Malayalam. Der Bollywood-Film, in Bombay in der Nationalsprache Hindi gedreht, macht bloss etwa einen Viertel der ganzen Produktion aus. Er wird auch Masala-Film (Masala: Gewürzmischung, beispielsweise Curry) genannt und ist ein gänzlich unbescheidenes Konstrukt aus grossen Stars, Romanze, Komödie, Action, Fantasie und Kitsch, garniert mit sechs Sing- und Tanznummern und einem Happy-End. Kurz: Es ist temperamentvolles, kunterbunt zusammengewür­feltes Kino. Das Hollywood-Musical mag ein spezifisches Filmgenre sein; in Bollywood hingegen sind Musicals die Regel.

Im Grunde sind diese Filme romantische, eskapistische Fantasien, deren Sing- und Tanzeinlagen beinahe so wichtig sind wie die Story selbst. Oft werden solche Filme anhand des Regisseurs, der Stars und des Komponisten ver­kauft - die Geschichte und ihre Bearbeitung sind zweitrangig. Unter Schau­spielerinnen und Schauspielern gilt es als futuristisch, das Drehbuch schon vor Drehbeginn zu erhalten. Bollywood ist eine fröhlich-chaotische Welt, in der ein einzelner Star manchmal auf bis zu zehn Filmsets zugleich arbeitet und viel­leicht sogar am selben Tag auf verschiedenen Sets völlig unterschiedliche Figu­ren spielt. Das Ergebnis dieser Arbeitsweise ist oft bezeichnend.

Filmfans scheren sich aber keinen Deut darum, sondern feilschen auf dem Schwarzmarkt voller Enthusiasmus um offiziell ausverkaufte Tickets für die nächste Vorstellung.

Der Bollywood-Klassiker Sholay (Flammen1, Ramesh Sippy, 1975) ist ein Curry-Western, der von The Magnificent Seven und dem Werk Sergio Leones inspiriert wurde und in indischen Kinos fünf Jahre lang am Stück lief. Welcher Hollywood-Film kann damit schon prahlen? In Sholay spielte der grosse indi­sche Star Amitabh Bachchan, dessen Fans ihm in Kolkata einen Tempel bauten. Während eines Spitalaufenthalts von Bachchan fasteten die Fans wochenlang, und als Busse ging einer von ihnen Hunderte von Kilometern rückwärts, um eine schnelle Genesung zu erbitten. Nur schwer kann man sich vorstellen, dass ein Hollywoodstar dermassen verehrt wird. Ob er sich dies allerdings auch wirklich wünscht, ist natürlich eine andere Frage.

Eine Form von Anerkennung der einzigartigen Ausstrahlung und des gros­sen Einflusses populärer indischer Filme und auch ihrer bedeutsamen Stellung auf dem indischen Markt zeigt Bollywoods Aufnahme in den Reigen der Film­festivals. Im Zuge des internationalen Rennens um die Entdeckung neuer Kino­ereignisse sind Festivaldirektoren sehr erpicht auf eine neuartige, vor Lebens­freude sprühende Filmkultur wie diejenige Bollywoods. Leicht erschüttert stellen sie fest, dass indisches Kino vielleicht eines der wenigen Nationalkinos ist, die Hollywood zu trotzen vermögen. Indien produziert jährlich mehr Fil­me als irgendein anderes Land der Welt, sogar mehr als die USA — 855 Filme im Jahr 2000. Und während Hollywood weltweit nationale Produktionen bedroht und beispielsweise in einigen Ländern Europas 60 bis 90 Prozent des Ki­nomarkts beschlagnahmt, beansprucht es in Indien mickrige 5 Prozent.

Kein Wunder, werden Bollywood-Filme im Westen wie noch nie zu Helden erklärt; sie inspirieren sogar Kassenschlager wie Moulin Rouge von Baz Luhrmann, der den Einfluss Bollywoods unumwunden zugibt. «In Indien besuch­ten wir zusammen mit 2000 Indern einen fantastischen Kinopalast», erinnerte ersieh. «Der Film umfasste Standup-Comedy, unglaubliche Tragik und Gewalt, und die Figuren begannen ständig spontan mitzusingen und zu tanzen. Das Pub­likum klatschte und klatschte, diskutierte und telefonierte. Das Theaterhafte, die konstante Fähigkeit des Films, den Zuschauer zu packen, beeindruckte mich. Es war ein eindrückliches Erlebnis ... Der Stil des Bollywood-Musicals ermöglicht dem Film diese Extraportion Aufmerksamkeit des Publikums.»

Zu den Bollywood-Filmen, die auf dieser Welle mitschwimmen, gehören Lagaan (2001) von Ashutosh Gowariker (Oscar-Nomination, Publikumspreis am Filmfestival Locarno), Monsoon Wedding (2001) von Mira Nair, in dem die Bollywood-Formel den Ausgangspunkt bildet (Goldener Löwe in Venedig), und Devdas (2002) von Sanjay Leela Bhansali (der erste indische Mainstream­film, der in Cannes lief). Ausserdem zeigt das British Film Institute momentan im acht Monate dauernden «Imagine Asia Film Festival» 150 Filme, darunter Beiträge aus Bollywood. Bombay Dreams, ein auf der Bollywood-Formel ba­sierendes, vom britischen Komponisten Andrew Lloyd Webber produziertes Musical, wird seit Frühsommer 2002 auf britischen Bühnen aufgeführt.

In der Schweiz wiederum zeigte das Filmfestival Locarno «Indian Sum­mer», ein Paket aus 30 indischen Filmen, darunter Masala-Filme aus Bolly­wood. Aamir Khan, einer von Indiens berühmtesten Stars und der Filmheld und Produzent von Lagaan, war in der internationalen Jury. Zur indischen Delegation von über 25 Gästen zählten die Schauspielerin Shabana Azmi, der Filmemacher Aparna Sen, die Drehbuchautorin Anita Desai und Aruna Vasu- dev, Redaktor von Cinemaya und Direktor des Cinefan-Asian-Filmfestivals. Ferner erschien Indian Summer: Films, Filmmakers and Stars - Between Bay and Bollywood, herausgegeben von Italo Spinelli. In Zürich fand diesen Som­mer eine dreimonatige Ausstellung im Museum für Gestaltung statt, die von einem Bollywood-Filmfestival im Kino Xenix und von der Publikation Bolly­wood: Das indische Kino und die Schweiz begleitet wurde.

Respekt von Seiten des intellektuellen Diskurses her und diverse Festival-Ehren schärften den Blick des westlichen Publikums für Bollywoods Stärken und seine Funktionsweise. Ein Teil des Reizes mag der Tatsache zuzuschreiben sein, dass Bollywoods Wurzeln in tropischen Landschaften liegen - dies unter­scheidet es von der stilisierten Fröhlichkeit des Hollywood-Musicals, das in gewissem Masse eine Gegenreaktion auf das Post-Depressionszeitalter der USA in den Dreissigerjahren war. Das indische Kino existiert schon seit 1901 und hat seine Ursprünge in einheimischen Theatertraditionen, im parsischen Theater, das im Umkreis von historischen Romanzen aus Persien und hindischen Mythologien entstand. Diese wurden wiederum von Volkstheater und -musik beeinflusst. So blieben über die Jahrhunderte hinweg melodramatische Elemente, Lieder und Tänze das Leitmotiv. Filmproduzenten, die sich am Mainstream orientieren, beharrten bezeichnenderweise auf mindestens sechs Liedern pro Film, damit der Verkauf von Tonträgern die Einnahmen selbst dann sichert, wenn der Film an den Kinokassen floppt. Diese Logik kann nur in einem von Film, Musik und Liedern besessenen Land wie Indien funktio­nieren.

Obwohl der Westen Bollywood erst kürzlich entdeckt hat, geniesst sein unprätentiöser, vom Lokalkolorit lebender Reiz in verschiedenen Kulturen be­reits seit den Sechzigern eine hohe Popularität. Schon lange vor der Etablierung des Begriffs «Globalisierung» war Bollywood in vielen Ländern bekannt - von Ägypten und dem Mittleren Osten über Süd- und Ostafrika, den karibischen Raum, Pakistan, Russland und China bis nach Singapur, Malaysien, Indonesien und Japan. (Als ich bei einer französischen Familie in Paris lebte, erzählte mir die französischsprachige Hausangestellte aus Mauritius, sie hätte jeden Film des Hindi-Superstars Amitabh Bachchan auf Video gesehen. Viele seiner Songs kannte sie auswendig, ohne die Sprache zu verstehen, und sie schwor, er sei der einzige Mann, auf den ihr Ehemann eifersüchtig sei.)

Auffällig ist ausserdem, wie die betörende Macht der Musik und Tänze auch vom westlichen Kino ausgeschöpft wurde - von den Traditionen des Hollywood-Musicals und vom nationalistischen ostdeutschen Kino der 40er und 50er bis hin zum zeitgenössischen dänischen Film. Titanic zum Beispiel, eine geradlinige Romanze, die gegen den Untergang des Schiffs inszeniert ist, beinhaltet Musik und Tanz. Zwei seiner elf Oscars erhielten James Horner für die beste Original-Filmmusik und Celine Dion für den besten Filmsong, «My Heart Will Go On». Vor über einem halben Jahrhundert benutzte das ost­deutsche Kino oft eingängige Lieder, um nationalistische Aktivitäten zu unter­mauern. Und Lars von Trier verwendet in seinem Film Dancer in the Dark Sing- und Tanznummern. Dieser Film wird als «Anti-Musical» bezeichnet, weil der genretypische fröhliche Höhepunkt durch Tragik ersetzt wird.

Das Bebildern von Songs ist eine einzigartige Kunst des indischen Kinos und vereint das Können von Dichtern, Musikern, Sängern, Choreografen und visuellen Künstlern. Millionen von Indern kennen Hindi-Filmlieder auswen­dig und singen sie bei der kleinsten Gelegenheit - zu Hause, an Picknicks, auf dem Arbeitsweg und in zahlreichen Fernsehshows. Die Faszination des Wes­tens mit unseren Musicaleinlagen ist zwar schmeichelhaft, geht aber manchmal auf Kosten der Filme. Als ich 2002 an der Berlinale in der Fipresci-Jury der internationalen Kritiker war, erfuhr ich, Mani Ratnam habe eine «internatio­nale Version» seines Films Dil Se (Von ganzem Herzen, 1998) eingereicht, aus der er einige Songs herausgeschnitten hatte. Mein Jury-Kollege Derek Malcolm rief in gespieltem Entsetzen: «Toll wäre, er hätte nur die Songs eingereicht!» (In Sachen Chutzpe ist der Eröffnungssong Chaiyya Chaiyya schwer zu übertref­fen, in dem ein hübsches Mädchen auf einem fahrenden Zug tanzt.) Schliesslich wurde die intakte ursprünglicheVersion mit allen Liedern gezeigt.

Das Filmfestival Locarno machte zum Glück keinen Fetisch aus Bolly­wood, sondern zeigte nur drei Bollywoodfilme in einem Gesamtpaket von dreissig Filmen, darunter einige bemerkenswerte Autorenfilme in Regional­sprachen. Diese zwei so unterschiedlichen Filmrichtungen zu vereinen, ist eine riesige Herausforderung. Viele Zuschauer sind sowohl mit Bollywood vertraut als auch mit dem indischen Meister Satyajit Ray. Und alle finden es schwer vor­stellbar, dass diese beiden Extreme der indischen Hoch- und Populärkultur aus ein und demselben Land stammen sollen. Dies ist etwa gleich widersprüchlich, wie wenn Deutschland Software-Experten aus dem «Drittweltland Indien» importiert und dann nicht genügend Abnehmer für die Software findet.

Indien kennt seit langem zwei unterschiedliche Filmrichtungen, Kunstkino und Kommerzkino, und die beiden vertragen sich schlecht. Dies war nicht immer so. Während dem goldenen Zeitalter des indischen Films in den Fünf­zigerjahren inspirierte das seit kurzem unabhängige sozialistische Land ein Mainstreamkino, das sozialen Realismus problemlos mit Unterhaltung ver­mischte. Filmemacher wie Raj Kapoor, Guru Dutt, Mehboob Kahn und Bimal Roy zeigten aufrührende Weise das Schicksal der Armen, Migranten und sozial Verstossenen, kombinierten dies aber mit denkwürdigen Songs, die Millionen von Fans bis heute singen. Diese Regisseure waren Meister eines Genres, das seither jedoch für ein halbes Jahrhundert von oberflächlicher, eskapistischer Masala-Unterhaltung dominiert wurde.

ln den Fünfziger- und Sechzigerjahren gewannen auch Filmklubs und internationale Filmfestivals an Boden. Indische Filmemacher lernten De Sica, Rossellini, Bergman, Antonioni, Truffaut, Godard, Eisenstein, Vertov und japanische Meister kennen. Insbesondere inspirierten die italienischen Neorea­listen - ohne Stars, kunstvoll geschmückte Sets, Musik- und Tanzeinlagen - ein alternatives Kino, das ganz anders war als alles, was sich das indische Publikum gewohnt war. Es griff die Bürokratie und unmenschliche Sitten an und wür­digte durchschnittliche, alltägliche Menschen, was das Mainstreamkino kaum tat. Dieses indische Alternativ- oder Autorenkino erreichte seinen Höhepunkt in den Siebzigerjahren, bevor es vom Fernsehen verdrängt wurde, und beinhal­tet unter anderem die Werke von Satyajit Ray, Adoor Gopalakrishnan, Mrinal Sen, Ritwik Ghatak, Shyam Benegal, Shaji Karum, G. Aravindan, Girish Kasa- ravalli, Buddhadeb Dasgupta, Goutam Ghose, Ketan Mehta, und Jahnu Barua.

Diese Filme konnten jedoch das Mainstreamkino nie ernsthaft herausfor­dern, und mochte es noch so formelhaft sein. Im Zuge der wirtschaftlichen Öffnung und des wachsenden Konsumverhaltens der Mittelklasse brachte die­ses in den Neunzigerjahren schmachtende romantische Fantasien hervor wie Hum Aapke Ham Koun (Wer bin ich für dich?, Sooraj Barjatya, 1994), Kuch Kuch Hota Hai (Es ist immer etwas los in der Liebe, Karan Johar, 1998) und Dilwale Dulhaniya Le Jayenge (Dem Beherzten gehört die Braut, Aditya Chopra, 1995). Ihr Markenzeichen sind Dreiecksgeschichten (bevorzugt mit einer Figur, die in Übersee lebt, um den NRI-Markt zu bedienen), üppige Kos­tümdramen und nicht enden wollende Hochzeitslieder. Was bedenklicher ist: Diese hübsch verpackte Unterhaltung bestärkt meistens regressive Werte wie zum Beispiel die arrangierte Hochzeit, in der die ideale indische Ehefrau auch gleich als konservative Hausfrau fungiert. Oft prallen widersprüchliche Ideale aufeinander, woraus sich interessante Entwicklungen der Geschichten ergeben. Die Heldin in Kuch Kuch Hota Hai zum Beispiel ist ein Basketball spielender Wildfang, der Shorts trägt. Sobald es aber ums Heiraten geht, wird sie ganz schüchtern, lächelt geziert im indischen Sari und schaut ihrem Freund kaum in die Augen.

Zum Glück schliesst sich gegen Ende des Jahrhunderts der Graben zwi­schen Mainstream- und Alternativkino mit «alternativen Mainstreamfilmen» wie Lagaan von Ashutosh Gowariker, Zubcidaa von Shyam Benegal (2000) und Kandukondain Kandukondain (2000) von Rajiv Menon, die auch Kassen­erfolge sind. Die jüngeren indischen Filmemacher haben mehr Geld, sind weit gereist und kennen das globale Filmgeschehen besser als frühere Generationen; nun peilen sie den internationalen Markt an. Anders als Filmemacher aus tradi­tionsreichen Produzentenfamilien wie Aditya Chopra oder Sooraj Barjatya, die sich an 25 Jahre alte Hits anlehnen, holen sich junge Filmemacher aus der Mit­telklasse ihre frischen Ideen aus der Realität.

Die Frage ist: Kann das indische Kino einen Coup wie Crouching Tiger Hidden Dragon landen? Ang Lees Film gewann nicht nur vier Oscars und spielte weltweit über 100 Millionen Dollar ein, er war auch ein «glokaler» Triumph, ein erfolgreicher Versuch, mit einem im lokalen Umfeld und in der Landessprache angesiedelten Film einen globalen Markt auszuschöpfen. Nach­dem Lee jahrelang in westlichen Milieus und in englischer Sprache Filme ge­macht hatte - Sense and Sensibility, The Ice Storm und Ride with the Devil -, kehrte er den asiatisch-amerikanischen Finanzkreis um und schloss ihn, indem er zu seinen regionalen Wurzeln zurückkehrte und einen Film in China auf Mandarin drehte. Und was noch wichtiger ist: Mit Virtuosität transformiert er das Genre des Kung-Fu-Films, einst das Opium der chinesischen Arbeiter, und verleiht ihm internationalen Reiz. Ebenso transzendiert er die Stereotypen des Kung-Fu und der unergründlichen Chinesen, um beiden eine Würde und Gra­zie zu verleihen, die der Westen ihnen kaum zugesprochen hat.

Können indische Filmemacher in ähnlicher Weise das aktuelle weitläufige Interesse an Bollywood als globale Kassenerfolge verwerten, indem sie die Bollywood-Formel oder seine kunstvolle Bebilderung von Songs abwandeln? Im Moment ist das sehr unwahrscheinlich. Gowariker hielt mit Lagaan, der dreieinhalb Stunden dauert und sechs Songs beinhaltet, sehr an der Tradition fest und verringerte damit mit Sicherheit seine Aussichten auf einen Oscar und auf höhere Zuschauerzahlen. Andererseits spielte Dil Chahta Hai (Sehnsucht des Herzens, 2001) von Farhan Akhtar, ein neuerer Buddy-Film über drei Teenager und ihre Freundinnen, der im urbanen, schicken und schwerreichen Milieu spielt, nur in indischen Grossstädten viel ein. In anderen Teilen Indiens war er ein Flop, und in Übersee scheint sein Schicksal ähnlich düster.

In der Zwischenzeit bleibt auch das Schicksal englischsprachiger Filme aus Indien ungewiss. Dank unserer britischen Kolonisten bleibt Englisch eine Spra­che, die nicht nur eine Nation mit 15 offiziellen Sprachen zusammenhält, son­dern uns darüber hinaus mit der Welt verbindet. Wir hoffen auf englischspra­chige Filme wie Aparna Sens Mr. and Mrs. Myer (2002), eine Liebesgeschichte, die in Zeiten der Gewalt zwischen Religionsgruppen spielt (in Locarno im Wettbewerb); auf Let ’s Talk (Ram Madhvani, 2002), einen auf Digitalvideo ge­drehten Spielfilm über die Oberschicht und die Treulosigkeit städtischer Ehen (in Locarno im Video-Wettbewerb); und Dweepa (Die Insel) von Girish Kasaravalli, der die indische Auszeichnung für den besten Film gewann und in zwei Versionen, Englisch und Kannada, gemacht wurde.

Wird der Westen, der Ray rückhaltlos bewundert und Bollywood im Moment charmant findet, ebenso willens sein, ein indisches, aber in englischer Sprache gedrehtes Kino gutzuheissen, in dem es um wohlhabende indische Familien geht, ohne Songs und exotisches Lokalkolorit? Oder werden west­liche Zuschauer es als «nicht indisch genug» abtun und es mit anderen inter­nationalen Filmen, die nicht ethnisch verwurzelt sind, unter den Tisch fallen lassen? Es ist eine aufregende Zeit, in der indische Filmemacher die gefähr­lichen Gewässer des internationalen Films auskundschaften und sich mit der Frage herumschlagen, ob sie globales Kino machen können, ohne ihre Authen­tizität und Identität aufzugeben. Und falls dies seinen Preis hat: ob sie bereit sind, ihn zu zahlen.

Übersetzung: Natalie Böhler

Bei diesem und den folgenden deutschen Titeln indischer Filme handelt es sich um die wörtliche Übersetzung aus dem Indischen. Diese entspricht nicht unbedingt den jeweiligen Verleihtiteln, unter denen die Filme in deutsch­sprachigen Ländern gezeigt wurden! Viele die­ser Filme liefen in unserem Sprachraum - wenn überhaupt - unter ihrem indischen oder eng­lischen Titel. (Anm. d. Übers.)

Meenakshi Shedde
ist Redaktorin und Filmkritikerin bei The Times of India. Sie gewann den National Award als beste Filmkritikerin und war Mitglied der Internationalen Kritikerjury an den Filmfestspielen von Cannes und Berlin.
(Stand: 2018)
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