LAURA DANIEL

SEELENSCHATTEN (DIETER GRÄNICHER)

SELECTION CINEMA

Charles E. und Helene P. haben sich für einen Aufenthalt in der Psychiatrischen Universitäts­klinik Zürich entschieden. Sie befinden sich in einer akut depressiven Phase - es ist für beide nicht der erste Klinikaufenthalt. Eine zwanzig­jährige Frau, die auf Grund ihres beruflichen und sozialen Umfelds anonym bleiben möchte, hat diese Phase bereits hinter sich und erzählt rückblickend, wie sie sich damals fühlte und wie es ihr heute geht. Dieter Gränicher beglei­tet die drei Betroffenen von dem Klinikaufent­halt an bis zu ihren ersten Schritten draussen. Sanft versucht er, sich an das Seelenleben der depressiven Menschen heranzutasten. Er be­gleitet sie durch ihren Alltag, ermöglicht Ein­blicke in Therapien und spricht mit Angehöri­gen. Im Zentrum seines Films stehen aber die Erkrankten. Er zeigt ihre Ohmacht, ihre Ängste und Hoffnungen, zeigt, unter welchem Druck Depressionskranke stehen, «nun doch endlich gesund zu werden» und «sich mal zusammen­zureissen», zeigt die massiven Selbstvorwürfe und das fehlende Selbstbewusstsein, unter dem Depressionskranke nebst ihrer Krankheit lei­den. Gränicher macht deutlich, was das Nicht-mehr-wollen-Können für Depressionskranke bedeutet, insbesondere in unserer Gesellschaft, die das Funktionieren des Menschen als selbst­verständlich fordert.

Der Film hat sich dem Duktus des Zeigens verschrieben. Oft verharrt die Kamera auf den Patientinnen; den Zuschauerinnen wird in ihrem Hinschauen ermöglicht, die Ausweg­losigkeit dieses gleichtönigen Alltags der Pa­tientinnen verstehen zu lernen. Leitmotivisch wird das Nichts-mehr-sehen-Können auch visuell immer wieder aufgenommen, indem wir die Menschen und ihre Umgebung nur sche­menhaft wahrnehmen. Besonders eindrücklich und schmerzhaft zugleich sind die Situationen, in denen die Patientinnen ihre eigenen Gefühle und Handlungen zum Teil ironisch, dann wie­der verzweifelt analysieren und zu erklären ver­suchen. Wenn Helene voller Freude ein farbiges Bild malt, weil sie sich so über die bevorste­hende Geburt ihres Enkels freut und im nächs­ten Moment in Tränen ausbricht, einfach so, weil die Traurigkeit sie regelmässig am Nach­mittag gefangen nimmt, wird klar, wie stark die Patientinnen ihrer Krankheit ausgeliefert sind.

Der Film zeigt auch, dass nach der tiefsten Depression dennoch Hoffnung auf ein norma­les Leben besteht, auch wenn «die Depression lauert, wie ein hungriger Bär, der sich bloss in einem Winterschlaf befindet» (Charles E.). Für Helene wird dies möglich durch die unermüd­liche Hilfe ihrer Angehörigen, die versuchen, ihrem Lebensalltag eine Struktur zu geben. Nach ihrem Klinikaufenthalt verbringt sic je­den Tag mit der Familie ihres Sohnes und küm­mert sich gemeinsam mit der Schwiegertochter um den Enkel. Der Film versteht sich als Teil eines grösseren Projekts, zu dem eine DVD und eine Homepage gehören. Diese wendet sich in erster Linie an Betroffene, deren An­gehörige, Interessierte und Fachpersonen und bietet weiterführende Informationen zum Thema, die im Laufe der Dreharbeiten zusam­mengetragen wurden.

Laura Daniel
geb. 1978, studiert an der Universität Zürich Germanistik, Film­wissenschaft und Philosophie sowie klassischen Gesang, zeitgenössische Musik und Jazz. Mitglied der CINEM A-Redaktion seit 2002. Lebt in Zürich. Daniel Däuber, geb. 1966, hat in Zürich Filmwissenschaft studiert, u.a. für die Schweizer Filmzeitschriften Zoom und Film geschrieben, arbeitet zurzeit als Filmredaktor beim Schweizer Fernsehen.
(Stand: 2018)
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