FLAVIA GIORGETTA

SEPTEMBERWIND (ALEXANDER J. SEILER)

SELECTION CINEMA

Die Italiener in der Schweiz: Vor vierzig Jahren wurden sie in Scharen ins Land geholt, um die boomende Industrie zu beleben; heute leben die «Secondos» und «Terzas» hier ohne klares Heimatgefühl, aber von der Gesellschaft akzep­tiert. Die «Tschinggen» wurden mittlerweile abgelöst - erst von den Tamilen, dann von den «Jugos». Dieser Wandel wird deutlich beim Vergleich von Seilers 1964 gedrehtem Siamo Italiani und seinem aktuellen Septemberwind. In Ersterem kommen Schweizer Stimmen aus dem Off zu Wort, die sich über Lärm, Geruch und Aussehen der Italiener beklagen. Im ak­tuellen Film sieht man nun einige damalige Protagonisten und ihre Kinder und Enkel - in der Schweiz integriert oder aber (im Pensions­alter) nach Italien zurückgekehrt. Nicht mehr das Zusammenprallen zweier Kulturen steht im Mittelpunkt, sondern die Entwurzelung und oft schwierigen Familienbeziehungen.

Seiler und sein Team begleiten die «Se­conda» Anna bei ihrer alljährlichen Reise ins apulische Heimatdorf ihrer Eltern, während ihr Mann Graziano in Basel einen Coiffeur­salon betreibt. Aus Aquarica migrierte in den Sechzigerjahren die Hälfte der Bevölkerung auf der Suche nach Arbeit; die Mehrheit von ihnen landete in der Schweiz. Der Gitarrist Luigi ist ohne Vater in Italien aufgewachsen - bis er selbst ins «gelobte Land» zog. Gutzumachen ist dieses Auseinanderreissen der Familie, wie es Tausenden von Migrantenkindern widerfuhr, nicht mehr, aber Luigi hat sich vorgenommen, viel Zeit mit seiner eigenen Tochter zu verbrin­gen. Er lebt aber auch in anderen - gesicherten - wirtschaftlichen Verhältnissen, so dass die Arbeit nicht an erster Stelle stehen muss.

«Metà, metà», «halb, halb», so hat Graziano sein labiles Nationalitätsgefühl auf den Punkt gebracht. Italien ist zum Ferienland geworden, die Schweiz aber nicht unbedingt zur Heimat. Der 18-jährige Christian lebt seit drei Jahren mit seinen Eltern in Italien - «ich war zu jung, um alleine in der Schweiz zu bleiben» - und be­sucht im Sommer Adliswil, wo seine Freunde leben. Er hofft, dass durch einen eventuellen Beitritt der Schweiz zur EU die Grenzen ver­schwimmen und er als «Mischling» sich nicht mehr zwischen zwei Ländern zu entscheiden hat.

Diese Bilder stehen im Kontrast zu den Schwarzweissausschnitten aus Siamo Italiani, wodurch nicht bloss der Weg der (teilweisen) Integration aufgezeigt wird - auch das inzwi­schen vorangeschrittene, langsame Sterben der Industrie wird deutlich. Die Spinnerei ist lahm gelegt, der Bauboom abgeflaut. Assunta, die Tochter einer ehemaligen Fabrikangestellten, arbeitet als Aerobic-Lehrerin. Seilers liebevol­les Porträt der Migrantlnnen und ihrer Nach­kommen lässt bewusst Fragen offen. Interes­sant wäre allerdings gewesen, die Zerrissenheit zwischen zwei Ländern, den Begriff Heimat expliziter anzusprechen. Auf formaler Ebene hätte der Film eine angenehmere Erzählerin verdient als die gelangweilt tönende Frauenstimme. Bewegend und interessant aber ist es allemal, die Einzelschicksale zu verfolgen und dadurch - im Kleinen wie im Grossen - den Zeitwandel nachzuvollziehen.

Flavia Giorgetta
geb. 1973, Studium der Anglistik, Filmwissenschaft und Volkswirtschaftslehre. Lebt in Zürich und arbeitet als wissenschaftlich-päda­gogische Assistentin im Studienbereich Film an der HGK Zürich. Mitglied der CINEMA-Redaktion seit 2001.
(Stand: 2018)
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