MATTHIAS MICHEL

MOONAGE DAYDREAM — EINE PROJEKTSKIZZE

ESSAY

Datum: 18. September 1968

Dokument: Memo/SYNTHESIS INTERNATIONAL/intern

Klassifikation: streng vertraulich

Betreff: MOONAGE DAYDREAM

Verfasst von: Shinya Takabayashi/Marketing Manager POP!, L. A. CA

Geht an: Jennifer Roth-Douglas, Presseagentin British Invasion, London

Kopie an: – -

Liebe Jenny,

wie versprochen, sende ich dir anbei einige Notizen zum Projekt MOONAGE DAYDREAM. Da der definitive Masterplan auf Anweisung der Konzernleitung und aus Gründen, die du dir ohne Weiteres denken kannst, derzeit noch streng unter Verschluss gehalten werden muss, stelle ich hier bloss die wichtigsten Fakten, Vorschläge und Auszüge zusammen, um dir einen ungefähren Eindruck von der Anlage und dem Planungsstand des Projekts zu vermitteln.

1. Hintergrund: POP!-Songs

«A good pop song is like a short feature film directed by the fantasies of the audience.»

Vince Wonderwall (27), Rockmusiker und Songwriter, Playboy-Interview, Februar 1968

Der POP!-Song ist die Matrix, der Nuklearzustand dessen, was wir die neue Popkultur nennen, und sein auf einen Tonträger gebanntes Format ist leicht zu analysieren. Er ist zwischen zwei und vier Minuten lang, enthält eine sich mindestens drei Mal wiederholende Ton- oder Klangsequenz, die nach einmaligem Hören nachzusingen ist usw. Aber diese Strukturelemente sind ebenso beliebig und austauschbar wie die Interpreten. Sie sind völlig ungeeignet, einen guten von einem schlechten Popsong oder generell den Popsong von irgendeiner anderen Liedform zu unterscheiden. Was den «guten» Popsong ausmacht, ist, dass er ein Bild war, bevor er Musik wurde, und dass dieses Bild wiederum das Kondensat einer Geschichte ist. Ob es sich dabei um eine erhoffte, erdichtete oder erlebte Geschichte handelt, ist nicht von Belang; wichtig ist, dass sie trivial und mehrdeutig genug ist, um von möglichst vielen Menschen direkt adaptiert oder nachvollzogen werden zu können: dass sie über eine gleichsam «alltagsmythische» Dimension verfügt. Jedenfalls ist es diese mehrschichtige Übersetzung von der narrativen oder dramatischen über die visuelle zur musikalischen Form, in der sich gute von schlechten Popsongs unterscheiden. Ein Song ist niemals besser – bunter, ergreifender, verführerischer, was auch immer – oder schlechter als das Bild, dessen Übersetzung er ist, und die Qualität dieses Bildes hängt direkt von derjenigen der Geschichte ab, die es repräsentiert. Das lässt sich leicht an der Resonanz überprüfen, die ein Popsong beim Publikum hervorruft, denn das Publikum vollzieht diesen Übersetzungsvorgang rückwärts, wenn es den Song hört: Die Komposition von Poesie, Melodie, Gesang und Rhythmus evoziert gemeinhin zunächst ein Bild, das Bild beginnt sich zu bewegen, verwandelt sich in eine Bildsequenz und damit in ein Erzählfragment, möglicherweise sogar in eine konsistente, in sich geschlossene Erzählung, und ebendiese Verwandlung, verschlüsselt und konzentriert in einem simplen Stück Vokalmusik, ist es, die das Publikum unmittelbar berührt. Der perfekte Popsong ist eine Botschaft, bei deren Abhören sich die Verwandlung simultan und unvermittelt einstellt, d. h. weder durch einen expliziten Text noch durch eindeutige Klangeffekte geleitet, erklärt oder vorweggenommen ist. So steht den Empfängern der grösstmögliche Spielraum zur Verfügung, das Bild und die darin kodierte Erzählung mitzugestalten, sie mit ihren eigenen Bildern, Geschichten, Erinnerungen, Assoziationen anzureichern und zu verweben. Genau dadurch kommt diese eigentümliche, überaus intime, leidenschaftliche und unauflösliche Bindung zwischen dem Popsong und seiner Hörerschaft zu Stande.

Damit ist auch klar, worin sich das Liedgut der Nachkriegspopkultur von früheren Liedformen unterscheidet: Der Popsong ist untrennbar und auf vielfältigste Weise mit der Bildund Erzählkultur seiner Zeit verknüpft, insbesondere mit deren Medien und Reproduktionstechniken – Film, Fernsehen, Design, Elektronik, Informationstechnologie usw. Der buchstäblich grenzenlose Erfolg des Projekts POP!, zumindest was die Produktion und die Vermarktung unserer Erzeugnisse betrifft, basiert wesentlich auf der konsequenten strategischen Nutzung und Exploration ebendieser Zusammenhänge sowie auf der entsprechenden Auswahl und visuellen Gestaltung der Interpreten und ihrer Erscheinung im öffentlichen Raum.

2. Ausgangslage

Dass Popmusik wesentlich ein visuelles Phänomen ist – eine Frage der looks und images, motions und attitudes, oder, im oben genannten Sinn, ein Phänomen der audiovisuellen Sinn- und Emotionsverschaltung –, haben Publikum und Produzenten rasch begriffen, es war ja bereits beim jungen Elvis offensichtlich genug, und dadurch sind wir unter enormen Innovationsdruck geraten, um die Maschine am Laufen halten zu können. Zuerst haben wir die Popstars in eigens dafür konzipierten Fernsehshows und in Spielfilmen (The Girl Can’t Help It, die ElvisFilme und all der Ramsch) auftreten lassen, dann haben wir die Musik und die Stars selbst zum Gegenstand von Filmproduktionen gemacht (A Hard Day’s Night, Don’t Look Back oder, als jüngstes und fortgeschrittenstes Beispiel, Yellow Submarine, in dem die fiktiven Figuren und Erzählfragmente aus den Songs direkt in Zeichentrickfilmsequenzen übersetzt werden), und schliesslich haben wir das Format der Promotionsfilme für Single-A-Seiten entwickelt, die von den Beatles an die Fernsehstationen in aller Welt verschickt werden, seit sie vor zwei Jahren mit ihren Live-Auftritten aufgehört und Stücke einzuspielen begonnen haben, die ausserhalb des Tonstudios gar nicht mehr reproduzierbar sind (ein Format übrigens, dessen langfristiges kommerzielles Potenzial ich besonders hoch einschätze). Inzwischen werden Plattenhüllen von Künstlern gestaltet und vertonte Filmskripts in Vinyl gepresst (She’s Leaving Home), Rockkonzerte zu MultimediaShows erweitert (wie bei Pink Floyd, Grateful Dead oder Warhols Velvet Underground), ganze Filmsoundtracks aus Popmusik zusammengesetzt, und gewisse, so genannt epische Popsongs sind gerade noch kurz genug, dass sie auf eine Langspielplatte passen (In Held Twas In I). The Who werden nächstes Jahr auf einem Doppelalbum die erste kompakte Rockoper herausbringen. Mit anderen Worten: Auch die erzählerische und dramaturgische Dimension der Popmusik ist dabei, in die Ausdrücklichkeit gezerrt, bis in die letzten Winkel ausgelotet und offen gelegt zu werden. Was das für uns und den weiteren Planungshorizont des Projekts POP! bedeutet, ist derzeit schwierig abzuschätzen, aber ohne Zweifel besteht dringender Handlungsbedarf. Insbesondere geht es darum, sofort realisierbare Konzepte zu entwickeln für eine nachhaltige Expansion in sämtliche massenmedialen, technologischen und künstlerischen Tangentialgeschäftsbereiche.

3. Grundkonzept und bisheriger Projektverlauf

In diesem Zusammenhang hat unsere Abteilung bereits vor Jahresfrist einen Entwurf für ein auf mehrere Folgen angelegtes Spielfilmprojekt ausgearbeitet, mittels dessen eine massenwirksame, transmediale Implementierung des POP!-Basiszeichensatzes beiderseits des Atlantiks auf mehrere Jahre hinaus vorangetrieben und kontrolliert werden könnte. Im Zentrum der Filmhandlung steht ein fiktiver Rockmusiker, der von Folge zu Folge seine Identität und seine musikalische Stilrichtung ändert, um unsere jeweils neusten Stilkreationen und -strömungen zu lancieren. Diese persönlichen und stilistischen Metamorphosen sollen einerseits subtil und fliessend genug sein, um – im Rhythmus von einem, maximal zwei Jahren – eine konsistente Dramaturgie und einen lückenlosen marketingstrategischen Ablauf von einer Folge zur nächsten zu gewährleisten; gleichzeitig aber auch drastisch genug, dass jede Rolle, in die der Protagonist schlüpft, dem Publikum radikal neu und unvorhersehbar erscheint. Obwohl das Projekt seriell aufgebaut ist, bildet jede Folge ein vollständiges, in sich geschlossenes Narrativ, flankiert von jeweils mindestens zwei Singles, einem Promotionsfilm, einem Langspielalbum, einer dramatisch gestalteten und inszenierten Bühnenshow sowie einer lose assoziierten Kollektion von Accessoires und LifestyleArtikeln in den Bereichen Raum-, Textil-, Mode-, Körper- und Gebrauchsdesign. Sowohl über die gesamte Produktpalette hinweg als auch von Episode zu Episode ist zwar eine ästhetische Kontinuität, mithin ein unmittelbarer Wiedererkennungseffekt anzustreben, aber der Eindruck einer grossräumig geplanten Marketingkampagne muss dabei mit allen Mitteln vermieden werden. Das Projekt zielt nicht auf eine kurzfristige Umsatzsteigerung, sondern auf eine langfristige Institutionalisierung und Automatisierung künstlerischer Innovation ab: Es kann prinzipiell beliebig lange weitergeführt werden, wenn es erst einmal installiert ist. Die im Konzernleitprogramm («Ästhetisierung der Gegenwart») festgeschriebenen drei Kardinalfunktionen sind demnach bedingungslos zur Anwendung zu bringen: «Kontinuität» – «Infinität» – «Simultaneität».

Der Projektentwurf wurde der Konzernleitung von SYNTHESIS INTERNATIONAL am 7. Januar 1968 vorgelegt und von dieser ohne Vorbehalte genehmigt. Mit der Genehmigung verbunden waren der Auftrag für das Erstellen eines Masterplans und eines Rahmenbudgets über fünf Jahre sowie für erste Verhandlungen mit allfälligen Projektpartnern unter strikter Geheimhaltung des Gesamtkonzepts bis zum 2. August 1968. Im Weiteren erging die Anweisung, den offiziellen Projektstart, wenn irgendwie möglich, bereits für den Frühsommer 1969 zu planen und Publicity strategisch mit der Mondlandung der Nasa zu verknüpfen, die voraussichtlich zu diesem Zeitpunkt stattfinden wird. Unter diesem Gesichtspunkt hat das Projekt den Arbeitstitel MOONAGE DAYDREAM erhalten.

Masterplan und Budgetierung wurden fristgerecht fertig gestellt. Die veranschlagten Investitionen sind erwartungsgemäss exorbitant, aber da die Laufzeit des Projekts grundsätzlich unbeschränkt ist, hat die Konzernleitung unseren Plänen auch in dieser erweiterten Form zugestimmt, die gegenüber der Rohfassung vom vergangenen Januar einige entscheidende, nachfolgend unter 4. erwähnte Modifikationen und Aktualisierungen enthält. Unsere Abteilung ist mit der Koordination und Durchführung von MOONAGE DAYDREAM betraut worden. Die Vorbereitungen für den Projektstart im kommenden Sommer sind unverzüglich angelaufen.

4. Wichtigste Modifikationen

4.1

Die Konzernleitung hat ursprünglich darauf bestanden, dass MOONAGE DAYDREAM von den USA aus auf den Weg gebracht werden und der Protagonist folglich Amerikaner sein soll. Gestützt auf komplexe Prognosemodelle und umfassende Vergleichsstudien zum derzeitigen innovativen, experimentellen und intellektuellen Potenzial der britischen und der amerikanischen Rockmusik, vor allem aber aufgrund des Arguments, dass der dramaturgische Wert der «Eroberung» Amerikas durch einen Europäer denjenigen in umgekehrter Richtung bei Weitem übersteigt, hat sich schliesslich die Überzeugung durchgesetzt, dass die Hauptfigur aus England, nächstliegend aus London stammen muss.

4.2

Am 1. April dieses Jahres fand in New York die Kritikerpremiere von Stanley Kubricks 2001 – A Space Odyssey statt. (Ich nehme an, dass du ebenfalls eingeladen warst, habe dich aber nicht angetroffen, weshalb ich davon ausgehe, dass du den Anlass verpasst hast.) Die Reaktionen waren extrem zwiespältig, ja sogar vorwiegend negativ, es gab zahlreiche «walkouts», aber mir war sofort klar, dass das «moonage» um ein Jahr vorverschoben worden ist. Der Publikumserfolg und die künstlerische Wirkung sind bislang bemerkenswert, der Film hat in vielerlei Hinsicht neue Massstäbe gesetzt. Wir haben uns daher entschieden, 2001 in die Pilotphase von MOONAGE DAYDREAM zu integrieren (entsprechende Kooperationsverhandlungen mit Metro-Goldwyn-Mayer sind bereits im Gang).

4.3

Der «impact» der Mondlandung auf die mittelfristige Entwicklung von Design und Popkultur wird in Konjunktion mit 2001 beträchtlich sein. Vor diesem Hintergrund ist MOONAGE DAYDREAM als Science-Fiction-Projekt zu konzipieren. Im Lauf der Erarbeitung des Masterplans sind allerdings wohlbegründete Zweifel aufgekommen, ob der Spielfilm tatsächlich das geeignete zentrale Medium sei, um welches das Unternehmen organisiert werden soll; zum einen besteht im Moment grosse Unsicherheit darüber, wie weit die Akzeptanz eines Massenpublikums gegenüber einer vergleichsweise stark konventionalisierten Form wie dem Spielfilm in den nächsten Jahren noch weiter strapaziert werden kann, und zum anderen ist zu befürchten, dass die besonders aufwändigen Produktionsbedingungen im Filmgeschäft und die damit verbundenen finanziellen, technischen und terminlichen Risiken gelegentlich zu massiven Verzögerungen und Diskontinuitäten innerhalb einzelner Projektphasen führen könnten. Zumal deren zeitliche und räumliche Komplexität ohnehin ungewöhnlich gross und eine perfekte Koordination der Teilprojekte entsprechend schwierig sein wird. Ich habe deshalb vorgeschlagen, MOONAGE DAYDREAM in die Realität zu verlagern, d. h. nicht um einen fiktionalen Spielfilm oder irgendein anderes Kunstprodukt herum aufzubauen, sondern das Projekt in all seinen Facetten, Figuren, Geschichten und Paratexten, an all seinen Hauptund Nebenschauplätzen tatsächlich stattfinden zu lassen – mit anderen Worten: die Zukunft gewissermassen als Direktübertragung in die Gegenwart zu inszenieren. Was das für unser Unternehmen bedeutet, kannst du dir wahrscheinlich nicht fantastisch genug vorstellen, und ich muss zugeben, dass mich die prompte Zustimmung der Konzernleitung für ein solches Vorhaben doch einigermassen überrascht hat.

5. Der Protagonist

Der Protagonist unserer Geschichte ist ein blonder, bleicher, schwächlicher, überhaupt von der Natur nicht eben mit physischen Vorzügen ausgestatteter Junge aus der englischen Unterschicht, vielleicht mit unregelmässigen Zahnabständen oder einer auffälligen Gesichtsverletzung, die er sich unter biografisch bedeutsamen Umständen zugezogen haben könnte (z. B. bei einer Schlägerei mit einem langjährigen Freund), irgendeine körperliche Unregelmässigkeit, sodass das allmähliche Styling zum Star besonders augenfällig zu inszenieren ist. Er ist kurz nach dem Krieg geboren, sagen wir: am 8. Januar 1947 in London, aufgewachsen in den Stadtteilen Brixton oder Bromley, ein kauziger, aber blitzgescheiter Eigenbrötler, ein trotzig-verschlossener Charakter, ein selbst ernannter Rebell und Intellektueller, möglicherweise ein Kunst-, Grafik- oder Schauspielstudent, jedenfalls unwiderstehlich angezogen von jeder Art avantgardistischer Pose, mit einer gewissen darstellerischen Grundbegabung und fest entschlossen, als Popstar Karriere zu machen. Seinem Milieuwechsel entsprechend hat er sich zunächst vielleicht für die Jazz-Szene begeistert und ein entsprechendes Musikinstrument spielen gelernt, z. B. Saxofon, bevor er Mitte der Sechzigerjahre im Windschatten der Yardbirds, der Kinks oder der Rolling Stones seine erste Rhythm-&-Blues-Band gegründet, bei Gelegenheit zu singen angefangen und eine Gitarre zur Hand genommen hat. Er hat einige Auflösungen und Neugründungen von Bandformationen hinter sich, alle einigermassen erfolglos, bevor er beschliesst, sich als Solokünstler zu versuchen, eventuell in wechselnden Kooperationen mit Gleichgesinnten, die er bei seinen Streifzügen durch die Clubszene des Swinging London kennen lernt; eine reizvolle Variante könnte ein Abstecher in die Folk-Musik sein, den er auch deshalb unternimmt, um sich von seinen Konkurrenten abzuheben. 1967 oder 1968 wäre dann der erste Langspielplattenvertrag bei einem kleinen, aber prestigeträchtigen Sublabel von Decca oder eines anderen Branchenriesen fällig. Ermuntert durch seinen umtriebigen Produzenten, entwickelt er die Idee für einen längeren Promotionsfilm zum Album: eine soloschauspielerische Umsetzung der Songtexte, inspiriert durch ein vorübergehendes Engagement in einer Pantomimentruppe oder etwas Ähnlichem, bei dem er auch das nötige Flair für den Einsatz androgyner Kostüme und gewisse Schwuchtelallüren mitbekommen haben könnte. Platte und Film – der derzeit favorisierte Titelvorschlag lautet Love You Till Tuesday – werden natürlich Flops, aber der junge Mann ist jetzt eigentlich reif für den Durchbruch. Sein bürgerlicher Name ist der trivialste, den es gibt, und bestens geeignet, zu unliebsamen Verwechslungen zu führen, David Robert Jones beispielsweise, und er hat längst beschlossen, ihn in einen Künstlernamen zu verwandeln: etwa in David «Bowie», in Anspielung auf das zweischneidige Jagdmesser ...

(Eine deiner ersten Aufgaben wird darin bestehen, die Idealbesetzung für diese Figur aufzuspüren; nicht irgendeinen beliebigen Dandy von der Schauspielakademie, der den Protagonisten «spielen» kann, sondern einen, der ihn voll und ganz verkörpert, am besten denjenigen, der er ist: unseren David Robert Jones höchstpersönlich.)

6. Die Pilotphase

Ich skizziere hier ganz kurz den chronologischen Ablauf der ersten fünf vorgesehenen Teilprojekte, für die wir zurzeit konkretere Entwürfe ausarbeiten. Obwohl es reale Ereignisse sind, die wir vorbereiten, sind unsere Mitarbeiter angehalten, sämtliche Rohkonzepte in der Form von Filmskripten und -treatments abzufassen, damit die ursprünglich intendierte dramaturgische Logik und Struktur des Projekts erhalten bleiben. Ziel dieser Pilotphase ist es, den Protagonisten (ich nenne ihn im Folgenden der Einfachheit halber «David») in fünf Jahren weltweit zur massgeblichen Grösse im Popgeschäft aufzubauen, sodass er als POP!-Star künftig auf unbeschränkte Dauer und losgelöst von einer, determiniert realen, Identität in jedes beliebige mediale Format exportierbar ist. (Es ist mir im Übrigen ein Anliegen, dich und deine Leute möglichst bald in diesen Planungsprozess mit einzubeziehen, um die «britische Perspektive» optimal zu integrieren, auf die ihr euch so viel einbildet!)

1969: MAJOR TOM / SPACE ODDITY

Unter dem Eindruck von Kubricks 2001 – A Space Odyssey hat David einen Song über einen Astronauten geschrieben, dessen Raumschiff den Kontakt zur Kontrollstation auf der Erde verliert und in der endlosen Tiefe und Einsamkeit des Alls entschwindet. Das suggestive Erzählfragment hat sich auf poetisch-romantische Weise mit Davids Schmerz über die Trennung von seiner Geliebten verknüpft, einer Frau mit einem schillernden Namen wie z. B. Hermione Farthingale, die mit einem hübschen Profitänzer durchgebrannt ist. Der Astronaut erhält den Namen Major Tom und nimmt die Konturen von Davids erster fiktionaler Identität an. Der Song wird mit Space Oddity betitelt, in perfekter zeitlicher Abstimmung mit der Mondlandung der Amerikaner herausgebracht und zwangsläufig zu einem – wenn auch vergleichsweise bescheidenen – Single-Erfolg. Das gleichnamige Langspielalbum vertieft sowohl musikalisch als auch thematisch die subtile Mischung aus melancholischer Singer/Songwriter-Ästhetik und epischer Exploration von POP!-Mythologien und Psychedelia.

1970/1971: THE MAN WHO SOLD THE WORLD / HUNKY DORY

Das nächste Teilprojekt lässt sich zunächst als eine Fortsetzung des Rezepts von Space Oddity an, im Stil allerdings etwas härter und hermetischer ausgeführt, nicht zuletzt weil sich David inzwischen eine solide Drei-Mann-Rockband zusammengestellt hat. Diese Episode bereitet uns vorderhand noch etwas Sorgen, weil sie als Übergangsphase angelegt ist, in der sich der Held über seine künstlerische Orientierung klar werden muss und die daher mit einer gewissen erzählerischen Ziellosigkeit verbunden sein wird. Es muss, mit anderen Worten, völlig offen bleiben, wohin die Reise gehen wird, ob ein Durchbruch oder ein totaler Absturz bevorsteht, und dies durchaus im Sinn einer Spiegelung der allgemeinen Lage in der Popindustrie nach der Euphorie und dem explosionsartigen Wachstum der Sechzigerjahre. Hier liesse sich möglicherweise eine Heirat mit einer üppigen, extrovertierten Bilderbuchamerikanerin namens Betty oder Carol oder Angela einbauen, als Katalysator für spätere sexuelle Vexierspiele gewissermassen; vielleicht wäre sogar die Geburt eines Sohnes in Erwägung zu ziehen. Ansonsten ist die Handlung geprägt von Experimenten mit der Travestie und der bewussten Brüskierung von Publikumserwartungen sowie vom Erkunden der Grenzen, innerhalb derer Popmusik planund konstruierbar ist. (Mit The Man Who Sold the World ist natürlich auf Christus angespielt; die Auseinandersetzung mit Religion und Spiritualität, mit deren normativem Potenzial in einer Zeit individueller und kollektiver Desorientierung wird absehbar zu einem virulenten Bestandteil der Popkultur.)

Es geht im Wesentlichen darum, David in kürzester Frist als ernst zu nehmende Autorität im POP!-Geschäft zu legitimieren. Zum Abschluss dieser Übergangszeit präsentiert er deshalb eine LP aus einer Perspektive, die souveräner nicht sein kann: Er konzeptualisiert sich nicht mehr als Beteiligten, sondern als Kommentator des Geschehens. Die abgeklärten, von einem gewachsenen Selbstvertrauen zeugenden Stücke repräsentieren Einzelgeschichten, die sorgfältig zu einer umfassenden Zustandsanalyse des Projekts POP! und der Jugendkultur der Gegenwart zusammengefügt sind. Sie handeln u. a. von einschlägigen Figuren aus der amerikanischen Popmusik, mit denen David inzwischen bekannt und vertraut geworden ist: von Andy Warhol, Lou Reed, Bob Dylan, King Curtis. Der erste Song in dem Zyklus trägt den programmatischen Titel Changes. Die Band wird vorübergehend durch einen Pianisten ergänzt, um sie etwas kühler und intellektueller klingen zu lassen. Für diese Projektphase ist es entscheidend, dass ein weitgehend einhelliges Lob der massgeblichen Musikkritik – insbesondere auch in den USA – durchgesetzt werden kann; allerdings sollte sich der kommerzielle Erfolg noch in Grenzen halten, um dem Aufstieg zum Superstar in den nächsten zwei Episoden nicht vorab die Spannung zu entziehen.

1972: THE RISE & FALL OF ZIGGY STARDUST AND THE SPIDERS FROM MARS

Mit diesem Teilprojekt wird MOONAGE DAYDREAM (möglicherweise ein Songtitel auf dem entsprechenden Album) in seiner ganzen Effektivität lanciert. David schlüpft für ein Jahr in die Rolle von Ziggy Stardust, einer ausserirdischen Karikatur des POP!-Superstars. Das musikalische Spektrum verschiebt sich hin zum exaltierten Brachialrock, und der Umschlag der LP wird im Stil eines Science-Fiction- oder Horror-Filmplakats aus den Fünfzigerjahren gestaltet. Die Konzerttournee ist mit systematischen Provokationen und Geschmacklosigkeiten anzureichern (einer meiner Mitarbeiter hat vorgeschlagen, die Gigs mit Wagner-Ouvertüren zu eröffnen): eine kompromisslose Entfesselung der Ausschweifungen und der Personenkulte, die der Rock’n’Roll hervorgebracht hat, begleitet von gezielt gestreuten Skandalmeldungen um Ziggy und seine Band The Spiders from Mars, gipfelnd in der öffentlichen Deklaration seiner Homosexualität, wobei die eigentliche Brisanz nicht in der Aussage selbst, sondern darin besteht, dass sie nicht «wahr» ist. Der «Aufstieg und Fall» von Ziggy wird gleichsam abgebrannt wie ein Feuerwerk. Als Finale findet ein Konzert im Hammersmith Odeon statt, bei dem Ziggy vor der letzten Darbietung im Namen der Band verkündet, dass dies ihr letztes Konzert gewesen sei. Der Albtraum endet ebenso plötzlich, wie er begonnen hat.

1973: ALADDIN SANE

Der fünfte Projektabschnitt handelt von Davids Eroberung Amerikas und ist mit ungefähr einem halben Jahr Verzögerung in das Stardust-Projekt zu integrieren. Für den konservativeren US-Markt wird das Ziggy-Konzept etwas modifiziert werden müssen. Die provokativen Kostüme, Ziggys rot gefärbte, in einem bizarren Bürstenschnitt auftoupierten Haare, die schrille Überzeichnung der musikalischen Grundelemente des Rock’n’Roll und die transsexuelle Glitzerästhetik sind zwar grundsätzlich beizubehalten (als Genrebegriff sind die Ausdrücke «Glam-» und «Glitter-Rock» im Gespräch), aber Aladdin Sane («A lad insane») ist als eine etwas sentimentalere, tragischere und «irdischere» Variante der Ziggy-Figur zu konzipieren, mit etwas mehr Dekadenz und Make-up. Er ist erwachsen, schwermütig, schizophren, eine Art personifizierter Prolog zum Dritten Weltkrieg. Der technischen Perfektion ist von nun an höchste Priorität einzuräumen, und dies in allen Aspekten des Programms: Mode, Grafik, Klangqualität. Das assoziierte Album und der Promotionsfilm für die erste Single-Auskoppelung werden unmittelbar vor dem US-Tourneestart in New York aufgenommen. Die Musik klingt wesentlich professioneller, experimenteller, opulenter als zuvor; einmal mehr wäre ein Engagement virtuoser Studiomusiker in Erwägung zu ziehen.

1974: 1984/DIAMOND DOGS

David hat die «pubertären» Phasen des Rockstardaseins in Rekordzeit hinter sich gebracht und repräsentiert fortan jederzeit, sowohl künstlerisch als auch technologisch, den «state of the art», die ultimative POP!-Avantgarde. Vor diesem Hintergrund und dennoch in nahtloser Fortsetzung der vorangegangenen Produktionen steht eine POP!-Bearbeitung von George Orwells Roman 1984 in Form eines Konzeptalbums und einer theatralisch aufbereiteten Bühnenshow an, die in technischer und künstlerischer Hinsicht alles bisher Dagewesene übertreffen soll. David aktualisiert den Stoff mit neuen politischen Bezügen, eigenen futuristischen Elementen und evtl. mit Reminiszenzen an weitere Kubrick-Filme (Gerüchten zufolge plant Stanley nach seinem Napoleon-Projekt eine Verfilmung von Burgess’ A Clockwork Orange). Für Diamond Dogs nimmt er die Gestalt eines apokalyptischen Mischwesens aus Mensch und Tier an, eines Monstrums, in dem die dystopischen Fantasien seiner Erzählung inkorporiert sind.

7. Ausblick

Über den weiteren Projektverlauf bestehen derzeit nur sehr vage Vorstellungen. Er wird entscheidend von technologischen Innovationen speziell in der Musikund generell in der Unterhaltungsindustrie abhängen. Neue Instrumente zur elektronischen Klangerzeugung und -verarbeitung, nicht zuletzt aber auch allfällige neue Tonträgersysteme werden in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle spielen, denn das Projekt lässt sich nur unter der Bedingung weiterführen, dass David jederzeit die neusten Entwicklungen der Popkultur vorwegzunehmen oder wenigstens entscheidend mitzuprägen in der Lage ist. Wir gehen davon aus, dass 1975 der Zeitpunkt für einen radikaleren Imagewandel gekommen sein wird. Eine Idee geht dahin, David in die Richtung eines General-Entertainers weiterzuentwickeln, der es sich leisten kann, mehr Fremdeinflüsse in seine Projekte einzubinden (ein entsprechendes Stichwort ist «plastic soul», das ich auf einem Tonband mit «studio runthroughs» der Beatles aus dem Jahr 1965 aufgeschnappt habe). Insbesondere sollten wir 1975 auch so weit sein, ihn als Musical-, Theater- (Brecht/Weill und dergleichen) und Filmschauspieler in Grossproduktionen einsetzen zu können; allerdings nur dann, wenn die Produzenten bereit sind, sich den ästhetischen und marketingstrategischen Rahmenbedingungen seiner eigenen Projekte bedingungslos unterzuordnen. Als Einstieg in die Filmkarriere denken wir u. a. an einen Science-Fiction-Film mit dem Titel The Man Who Fell to Earth, der in mehrfacher Hinsicht auf vorangegangene Projektphasen anspielt und sich mit einer weiteren kombinieren liesse, die wir provisorisch für 1976 geplant haben und in der für David die Rolle des THIN WHITE DUKE vorgesehen ist, einer ätherisch-modernistischen Engelsgestalt, «throwing darts in lovers’ eyes». Unser Wunschkandidat für die Regie ist ein junger, heute noch unbekannter Kameramann namens Nicolas Roeg (vielleicht kennst du ihn sogar; er dreht mit Donald Cammell in London gerade Performance, mit James Fox, Mick Jagger und Anita Pallenberg in den Hauptrollen). Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Davids Filmografie bis zum Ende des Jahrtausends nebst etlichen Filmsoundtracks einige Dutzend Auftritte als Darsteller in unterschiedlichsten Genres umfasst.

Generell planen wir aber für die zweite Hälfte der Siebzigerjahre einen mehrteiligen experimentellen Abstecher in den Bereich der elektronischen Musik, die bis dahin weit genug entwickelt und durchaus POP!-kompatibel geworden sein dürfte. Bis 1980 soll MOONAGE DAYDREAM dann insoweit abgeschlossen werden, dass das Projekt «selbst organisiert» und ohne grössere Investitionen von unserer Seite endlos weiterlaufen kann. Zu diesem Zweck wäre es reizvoll, nach zehn Jahren auf Space Oddity und v. a. auf den Einstiegscharakter Major Tom zurückzukommen, ihn für einen Moment auferstehen zu lassen und dann in einem mediengerecht inszenierten POP!-Ritual gleichsam zu Grabe zu tragen (als Titel schwebt mir etwas wie ASHES TO ASHES vor). Dieses Vorgehen würde auch einen idealen Einstieg bieten für eine Reihe kommerziell höchst interessanter Reeditionen vergangener Projekte, vielleicht mit zusätzlichem, bis dahin unveröffentlichtem Material. Möglicherweise bringen wir David eines Tages als ersten POP!-Star an die Börse – und in einem Anflug von Selbstironie habe ich auch schon daran gedacht, dass wir irgendwann in ferner Zukunft auf den Gedanken kommen könnten, eines seiner Langspielalben unter dem Titel REALITY herauszubringen ...

Wie du siehst, haben wir uns für MOONAGE DAYDREAM einiges vorgenommen. Ich bin gespannt auf deine Kommentare und Ergänzungen und melde mich spätestens in zwei Wochen mit einem ersten Projektauftrag an die Abteilung British Invasion.

Matthias Michel
geb. 1969, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Collegium Helveticum der ETH Zürich. Studierte Philosophie und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Er ist als freier Publizist und Kurator tätig und arbeitet an einer Dissertation zur Kulturphilosophie des Scheiterns bei PD Dr. Ursula Pia Jauch.
(Stand: 2004)
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