FRANCESCO LARATTA

TARIFA TRAFFIC (JOAKIM DEMMER)

SELECTION CINEMA

«Dieser Strand ist ein Sarg, ein europäischer Sarg.» Ito Jimenez Dominguez starrt ins Meer hinaus, ihre Stimme verrät Bitterkeit: «Morgens kommen sie in Scharen hierher, um sich zu amüsieren – drei Stunden zuvor aber ist an diesem Strand ein Mensch gestorben.»

Das südspanische Tarifa, beliebte Feriendestination und Surferparadies, wird tagsüber von flanierenden und badenden Touristen bevölkert. Nachts aber zeigt es ein vollkommen anderes Gesicht: Zehntausende Immigranten aus Afrika versuchen jährlich illegal das Meer zwischen Marokko und Spanien zu durchqueren. Ihr Ziel: eine Zukunft in Europa. Vorwiegend junge Männer, aber auch Frauen und Kinder wagen sich auf einfachen Gummibooten ins zum Teil stürmende Meer hinaus. Hunderte werden aber niemals spanischen Boden betreten; wegen des hohen Wellengangs stürzen sie ins Wasser und ertrinken.

Seit dem 1. November 1988, als zum allerersten Mal Flüchtlinge ertranken, es waren 18 Menschen, wiederholt sich die Tragödie unentwegt. Damals berichtete die Zeitung ausgiebig – mittlerweile ist eine solche Nachricht nichts Neues. Der Alltag ist in Tarifa von den andauernden Immigrationsströmen, dem allzeit gegenwärtigen Leid und Tod geprägt.

Wie geht die Lokalbevölkerung mit diesem Elend um? Dieser Frage geht der Dokumentarfilmer Joakim Demmer nach. Er lässt die Küstenwachen, Mitarbeiter diverser Hilfsorganisationen, einen Journalisten und einen Bestattungsunternehmer zu Wort kommen. Betroffen teilen sie ihre Ohnmacht, ihre Wut, ihre Bitterkeit und Traurigkeit mit.

Konsequent aber weicht Tarifa Traffic den eigentlichen Protagonisten, den Flüchtlingen, aus. Man sieht sie zwar, in einem überfüllten Gummiboot, durch das Wasser watend, zwischen den Dünen kauernd – vollkommen durchnässt, zitternd und offensichtlich unter Schock, doch die illegalen Immigranten bleiben, so wie sie in der europäischen Öffentlichkeit auch wahrgenommen werden, tragische Schicksale ohne Namen. Das konzeptuelle Ausklammern ihrer Perspektive birgt unglücklicherweise die Gefahr, die Problematik der illegalen Immigration auf einen Haufen gestrandete Leichen zu reduzieren.

Dennoch wird Demmer dem Anspruch gerecht, sich den Betroffenen auf rücksichtsvolle und teilnehmende Art zu nähern und dies auch formal überzeugend umzusetzen. Der trauernde Mustafa, der aus Italien angereist ist, um die Leiche seines Bruders zurück in die Heimat Marokko zu führen, wird durch die Scheiben eines Cafés gefilmt; er sitzt, raucht und wartet auf das Bestattungsauto (mit der sarkastisch anmutenden Aufschrift: «24 Stunden Service»). Mustafa spricht aus dem Off, seine Stimme schafft eine Intimität, die dem schwierigen Inhalt gerecht wird, während die gewählte Bildeinstellung unaufdringlich und doch präsent wirkt.

Mit Tarifa Traffic ist Joakim Demmer ein stiller, nachdenklicher Dokumentarfilm gelungen, der sich trotz tragischer Thematik einer äusserst klaren, gar ästhetischen Bildsprache verpflichtet und inhaltlich an den Spielfilm Clandestins des Regisseurduos Chouinard/ Wadimoff aus dem Jahre 1997 anknüpft.

Francesco Laratta
geb. 1977, Studium der Publizistik, Italienischen Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität Zürich. Lebt und arbeitet als Kulturjournalist in Zürich.
(Stand: 2006)
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