DORIS SENN

DIE WÄGSTEN UND BESTEN IM LANDE (MATTHIAS VON GUNTEN)

SELECTION CINEMA

Das Schwingen – gemeinhin «Hosenlupf» genannt – stellt wohl das urschweizerischste Kampfritual dar. Seine Tradition lässt sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen – und bis heute hat es sich eine Art Urtümlichkeit zu bewahren vermocht. Dazu gehören die zwilchenen Schwinghosen, die Munis und Lorbeerkränze für die Sieger oder das Verbot von Werbung per Reglement – sei es auf dem Wettkampfareal, sei es auf der Bekleidung. Erkoren werden «die Wägsten» (die, die was Rechtes auf die «Waage» bringen; durchaus auch im übertragenen Sinn) und die «Besten» im Rahmen von Schwingfesten, die noch heute teilweise auf idyllischen Alpweiden durchgeführt werden. Sieger ist, wer dem Gegner die beiden Schulterblätter ins Sägemehl drückt.

Der Dokumentarfilmer Matthias von Gunten wendet sich nach seinen Erkundungen des Ursprungs des Menschen (Ein Zufall im Paradies, 1999) und des Universums (Big Bang, 1993) (wieder) den ureigenen Sitten und Bräuchen zu. Er tut dies am Beispiel von zwei Schwingern – dem 26-jährigen Muotathaler Heinz Suter und dem 28-jährigen Appenzeller Thomas Sutter –, die sich beide auf das Eidgenössische Schwingerfest 2001 in Nyon vorbereiten. Thomas ist amtierender Schwingerkönig; Heinz fehlt einzig noch «das Eidgenössische» in seinem Palmarès.

Der Film begleitet die beiden Protagonisten bei ihren Wettkampfvorbereitungen und an Schwingfesten und setzt die währschaften Mannsbilder immer wieder in extremen Grossaufnahmen ins Bild. Angehörige, Trainer und Therapeutin geben Auskunft über ihre Schützlinge. Wir lernen Griffe kennen und das schnörkellose Kampfritual, das aus Begrüssung, dem Griff an die Schwinghose und einem meist blitzschnellen und entscheidenden Lupf besteht. Als schöne Schlussgeste putzt der Sieger dem Unterlegenen das Sägemehl vom Rücken.

Von Gunten konstruiert die Erzählstränge in wettkämpferischer Klimax auf das grosse Kräftemessen hin. Als Kontrapunkt dazu wirkt einerseits die Musik der Gruppe Stimmhorn, die mit Büchel, Obertonstimme und Bandoneon dem Film einen mythisch-urchigen, aber auch etwas melancholischen Grundton verleiht. Andererseits widerspricht der Ausgang des Films dem klassischen Winner-Loser-Modell: Thomas wie Heinz erleiden Sportverletzungen, die ihre Leistungen schmerzlich einschränken. Keiner wird den ersehnten Titel erlangen, beide müssen mit Enttäuschung und Niederlage fertig werden.

Ohne idyllisierende Verklärung porträtiert Die Wägsten und Besten im Lande eine Kampfart, die sich wohltuend ferngehalten hat von den Auswüchsen des heutigen Hochleistungssports. Dabei wird weder folklorisierende Stimmigkeit beschworen noch das Auseinanderklaffen von moderner Schweiz und traditionellem Wettkampf. Die beiden Protagonisten zeigt der Film als zwei erstaunlich sanfte, zurückhaltende Persönlichkeiten, zwei moderne Athleten, die Sport nicht zuletzt auch als Lebensschule auffassen – nicht mehr und nicht weniger.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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