SABINE HENSEL

LITTLE GIRL BLUE (ANNA LUIF)

SELECTION CINEMA

Little Girl Blue ist in technischer Hinsicht ein Novum: Es ist der erste Schweizer Spielfilm, der im High-Definition-Format (HD) gedreht wurde. Die Realisierung erfolgte in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich im Rahmen des interdisziplinären Projekts «Digitales Kino». Ziel dieser Forschung ist es, die Vorteile des neuen Verfahrens zu testen; einerseits ist das Material sowohl filmals auch fernsehkompatibel, andererseits lassen sich digitale Daten leichter konservieren. Visuell fallen eine besonders grosse Tiefenschärfe sowie farbintensive, leicht künstlich wirkende Bilder auf.

Dieser Film übers Erwachsenwerden ist Anna Luifs erster Langspielfilm – eine logische Fortsetzung ihrer bisherigen Arbeit. Bereits in ihrem viel beachteten und mehrfach ausgezeichneten Kurzfilm Summertime (1999) ging es um ein junges Mädchen, das mit der ersten Verliebtheit hadert. Den Schwerpunkt setzt die Regisseurin jeweils auf die Entwicklung der Protagonistin und ihre Familienverhältnisse. Ebenfalls beiden Filmen eigen sind eine klar strukturierte Handlung, ein geometrischer Bildaufbau, eine eher statische Inszenierung sowie das Setting einer modernen Vorstadtsiedlung.

Da sich beim Filmen in HD harte Kontraste ergeben – diese führen zur speziellen flächigen Ästhetik –, verlangt das Format nach einer begrenzten Farbwahl. In Little Girl Blue dominieren verschiedene Blautöne, welche die Hauptperson Sandra (Muriel Neukom) charakterisieren: Das Zimmer und die Kleidung des Teenagers sind knallblau. Das musikalische Leitmotiv des Films ist der Song Blue Moon, den Sandra im Vorspann als Playback singt: Das «Blue» steht auch für die melancholischen Momente, die sie durchlebt.

Die Geschichte handelt von einer schüchternen 14-Jährigen, die sich am neuen Wohnort behaupten muss. Bevor sie mit Mike (Andreas Eberle), in den sie verliebt ist, zusammenkommt, muss Sandra diverse Schwierigkeiten überwinden. Dabei steht dem Mädchen sein eigener Vater im Weg: Ausgerechnet mit Mikes Mutter hat er eine Affäre. Um ihrem Schwarm die Sache zu verheimlichen, verstrickt sich Sandra immer mehr in Widersprüche, bis sich Mike enttäuscht von ihr abwendet. Was die Lage für Sandra nicht gerade erleichtert, ist die Tussi Nadja (Marina Guerrini, die Hauptdarstellerin von Summertime), die Mike für sich gewinnen will.

Während es für die Jugendlichen ein Happyend gibt, bleibt ungewiss, ob die zwei erwachsenen Paare wieder zueinander finden werden. Die Story überzeugt dort, wo die Ängste, Hoffnungen und Gefühle der Teenager im Mittelpunkt stehen: Mit viel Gespür für die Jugendlichen zeichnet die Filmemacherin ein realistisches Szenario, das eigene bittersüsse Erinnerungen weckt. Die Figuren der Eltern hingegen wirken holzschnittartig; ihre Motivationen und Emotionen sind oft nicht nachvollziehbar. Die Tatsache, dass viele Szenen wunderschön schlicht daherkommen, tröstet jedoch über die eher schwache Charakterisierung der älteren Generation hinweg.

Mutig auch die Wahl der Sprache: Über weite Strecken hören sich die schweizerdeutschen Dialoge durchaus lebensecht an. Little Girl Blue macht Lust auf weitere Filme von Anna Luif.

Sabine Hensel
geb. 1972, Studium der Anglistik, Filmwissenschaft und Europäischen Volksliteratur. Sie lebt in Zürich und arbeitet als Korrektorin.
(Stand: 2005)
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