FRANCESCO LARATTA

UN OCÉAN DE BLÉ (PASCALE ROCARD)

SELECTION CINEMA

Im zwölfminütigen Kurzfilm Un océan de blé führt die Schauspielerin Pascale Rocard zum ersten Mal Regie. Protagonistinnen ihrer stimmungsvollen Geschichte, die auf einer Novelle Eric Holders basiert, sind zwei Frauen: eine blonde Sängerin und eine rothaarige Hausfrau. Die Freundinnen haben sich lange nicht mehr gesehen; nun trinken sie gemeinsam Tee, tauschen vielsagende Blicke und entscheiden sich schliesslich, einen kurzen Spaziergang zu unternehmen. Sie scheinen ein Geheimnis zu teilen.

Lachend rennen sie durch ein reifes Weizenfeld – die Abendsonne lässt das Getreide golden aufleuchten. Unter einem Baum sitzend, gesteht die Sängerin der Freundin ihre ungebrochene Liebe. Mit 16 liebten sie sich unter diesem Baum – diese Erinnerung begleitet die Sängerin jeden Tag. Seitdem hat sie niemanden mehr so lieben können. Weinend hört ihr die Freundin zu; sie ist glücklich verheiratet und Mutter zweier Kinder.

Die Sonne geht allmählich unter. Gemeinsam schauen sie den Sonnenuntergang an – langsam weicht das goldene Licht aus ihren Gesichtern. Der Abschied naht; schweigend kehren sie zum Landhaus zurück. Die Sängerin verspricht lächelnd, ihre Freundin in Zukunft wieder zu besuchen. Im Abendrot fährt sie schliesslich davon.

Rocards Kurzfilm ist atmosphärisch sehr dicht. Die Regisseurin bedient sich geschickt der Emotionalität und Stimmung von Farbe, Drehort und Musik. Der Farbe Gold kommt eine metaphorische Qualität zu: Das Gold des Weizenfeldes, des Schmuckes oder der Abendsonne steht für das Aufleben einer Erinnerung an das gemeinsame «Goldene Zeitalter der Liebe». Musikalisch fällt vor allem die Abschiedszene auf; das gefühlsschwere Lied wurde von François Bernheim komponiert, von Pascale Rocard getextet und von Alexandra Gonin, die im Kurzfilm die Sängerin spielt, interpretiert. Das Ende der Geschichte wird so auf raffinierte Weise musikalisch aufgefangen und in seiner sentimentalen Stimmung verstärkt.

Un océan de blé besticht durch eine zarte Bildsprache, die viel Raum für Suggestives offen lässt und gleichzeitig Unausgesprochenes in Frage stellt. Inwiefern bleiben uns verflossene Liebschaften erhalten? Kann die Erinnerung Gefühle konservieren? Steht uns im Laufe eines Lebens eine einzig wahre Liebe zu?

Zu Beginn des Kurzfilms hält die Sängerin in ihrem Auto vor einer Verzweigung an. Nach einem kurzen Augenblick fährt sie wieder los, folgt der linken Strasse. Eine solch alltägliche Entscheidung mag unwichtig erscheinen, doch sie weist darauf hin: Der Weg zurück in die Vergangenheit bleibt verwehrt – man kann sich der Erinnerung hingeben oder ergeben. Es ist eine Frage der Fahrtrichtung.

Francesco Laratta
geb. 1977, Studium der Publizistik, Italienischen Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität Zürich. Lebt und arbeitet als Kulturjournalist in Zürich.
(Stand: 2006)
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