DORIS SENN

DAS ALPHORN (STEFAN SCHWIETERT)

SELECTION CINEMA

Wenn das Auge über nebelverhangene Berge und glitzernde Seen streift und dazu der kehlige, sanft vibrierende Klang ins Ohr dringt, fällt es auch den Folklore-Widerständigsten schwer, sich seiner Faszination zu entziehen. Das Alphorn – so ist es verbürgt – ging auch unseren Ahnen unter die Haut. Im 18. Jahrhundert war das Alphornblasen den Schweizer Söldnern verboten, weil es unter den Eidgenossen Heimweh auslöste und sie in die Desertion oder den Freitod trieb. Das änderte allerdings nichts daran, dass das Instrument und seine Musik vor 200 Jahren praktisch ausgestorben waren. Noch vor Entstehung des Schweizer Nationalstaats erklärte man es deshalb zum Inbegriff der Älplerkultur und liess es an Unspunnenfesten Wiederauferstehung feiern. Erfolgreich, wie man heute feststellen kann.

Stefan Schwieterts Das Alphorn widmet sich nur am Rand der Geschichte und dem Mythos des zum Nationalsymbol avancierten Instruments. Im Zentrum stehen dafür Musiker, die das Spannungsfeld der einheimischen Alphornszene repräsentieren. So etwa Hans-Jürg Sommer, einer der wichtigsten Alphornspieler und -komponisten. Auf ihn geht das Stück «Moosruef» zurück, ein Klassiker, der unter der Ächtung des schweizerischen Jodelverbands steht. Dieses weltweit einzige Gremium, das die landeseigene Volksmusik zu reglementieren sucht, wirft Sommer das Falschspielen und das Sich-in-Szene-Setzen auf Kosten der Tradition vor. Quer in den Ohren liegt der Jury vor allem der alphorncharakteristische Naturton b (der schon früher von der Kirche als «teuflisches Intervall» verboten wurde). Er gibt Sommers Stücken das Urig-Melancholische – im Gegensatz zu den glatten Harmonien konfektionierter Ländlermusik.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten erforscht Hans Kennel die hiesige Musiktradition und verbindet sie mit dem Jazz. Nicht nur brachte er das Alphorn ans Festival in Montreux, er tritt auch mit traditionellen Büchel-Spielern wie Vater und Sohn Trütsch aus dem Muotatal oder den jodelnden Geschwistern Schönbächler auf. Auch diese widerstreben der verordneten Ästhetisierung der Volksmusik und musizieren untemperiert mit Naturtönen. Für Balthasar Streiff wiederum ist das Alphorn schlichtweg ein «Phänomen». Dessen Beschränkung auf rund ein Dutzend Töne empfindet er als kreativen Anreiz. Er verbindet Stimme und Instrument und experimentiert mit dem Raum. Dies zeigt auch der Film sehr schön: etwa wenn Streiffs Gruppe «hornroh» mit periskopähnlichen Hörnern unter der Autobahnbrücke spielt. Oder sie ihre Instrumente auf den Rolltreppen des Zürcher Hauptbahnhofs in Szene setzen.

Am anderen Ende der Skala steht als Vertreter der «echten» Folklore – und durchaus sympathisches Original – Urs Pattschneider. Schade, dass sein Porträt als letztes in der Reihe etwas viel Gewicht erhält und dadurch – Pattschneider ist eifriger Befürworter des Jodelverbands – die «Unbotmässigkeiten» der «Wilden» zu relativieren scheint. Gedacht war es wohl – wie der Besuch in der Alphornfabrik – als humoriger Einschub. Man hätte sich aber auch vorstellen können, dass der Film sich auf die innovativen Musiker beschränkt und ihren Kreationen mehr Raum gewährt hätte. Dessenungeachtet bietet Das Alphorn – als dritter Musikfilm Schwieterts (nach A Tickle in the Heart, 1996, und El acordeón del diablo, 2000) – einen äusserst anregenden Einblick in eine unvermutet dynamische Musikszene.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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