KRISTINA TROLLE

DAS LEGENDÄRE KINO IM HERZEN VON ZÜRICH — 25 JAHRE XENIX

ESSAY

Ich lebe seit drei Jahren in der Schweiz und arbeite inzwischen im Kino Xenix. Seit einiger Zeit habe ich ein Lieblingsspiel: Sobald ich im Freundeskreis neue Bekanntschaften mache, lasse ich im Gespräch fast unbemerkt durchschimmern, dass ich eben in diesem Kino arbeite. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Die Anwesenden erzählen mir, was das Xenix ist, was es war und welche Rolle sie selbst bei der ganzen Sache gespielt haben. So weit die Gemeinsamkeiten. Die Geschichte des Xenix scheint frei verhandelbar zu sein, je nachdem, wo die Wurzeln und Interessen der jeweiligen Personen liegen. Eines ist mir dabei klar geworden: Das Xenix erreicht eine neue identitätsstiftende Dimension; es gehört zu den Stadtzürcher Mythen. Darum herum spinnen sich Erinnerungen, Legenden und Geschichten, und selbst alle übermittelten Informationen sind subjektiv geprägt und mit verschiedenen Bedeutungen aufgeladen. Ich selbst habe für mich das Xenix zum aussergewöhnlichsten Kleinod unter den europäischen Off- und Programmkinos erklärt. Ich verehre und schätze es schon für seine (finanziell) unabhängige Existenz und seine ausserordentlichen Programme. Und so habe ich mich auf die Suche nach dem Ursprung seines Mythos gemacht.

Nach Duden bezeichnet der Mythos eine «überlieferte Dichtung, Saga, Erzählung o. ä. aus der Vorzeit eines Volkes (die sich besonders mit Göttern, Dämonen, Entstehung der Welt, Erschaffung des Menschen befasst)» oder auch eine «Person, Sache, Begebenheit, die (aus meist irrationalen Vorstellungen heraus) glorifiziert wird, legendären Charakter hat».1 Parallelen zum Xenix sind augenfällig: Seine Geschichte wird vor allem oral überliefert, seine Wurzeln liegen in der Jugendbewegung, die eine Jugendund Ausgehkultur, wie wir sie heute kennen, geprägt hat. Die persönlichen Erinnerungen, die sich mit dem Kino verknüpfen, führen zu Legenden; sie beruhen eben nur mehr oder weniger auf den Tatsachen der nachweisbaren Chronologie. Diese sei hier also kurz wiederholt.2

1980 wird im AJZ, dem Autonomen Jugendzentrum Zürich hinter dem Hauptbahnhof, von fünfzig Filmbegeisterten ein Kino gegründet. Es ist die Zeit der Jugendunruhen, die Zeit von Züri brännt. Auch das AJZ-Kino hat einen politischen Anspruch – gegen den Mainstream werden marginale und verkannte, politische und engagierte Filme gezeigt. Kino soll das Bewusstsein und damit die Welt verändern. Zur Verfügung stehen zunächst nur ein 16-mmund ein Super-8-Projektor. Als erster Film wird Je Ka Mi von Roman Hollenstein gezeigt.

Schon im Herbst desselben Jahres wird das Zentrum geschlossen, es entsteht das Mobile AJZ-Kino (MAK). Vorgeführt wird im Volkshaus, im Kasino Aussersihl und im Theater am Neumarkt. Im Frühjahr 1981 kann das Jugendzentrum nochmals für ein paar Monate geöffnet werden – das Kino kehrt hierher zurück –, bis das AJZ Anfang 1982 definitiv geschlossen und abgerissen wird.

Am 23. April 1982 baut das Kinokollektiv erneut in einem besetzten Haus, an der Lavaterstrasse 9, die Leinwand auf. Seither heisst das Kino nach einem Amsterdamer Vorbild Xenix, ist als Filmclub registriert und versendet seine geplanten Filmprogramme per Post. Der Name Xenix prangt weithin sichtbar an der Fassade des Hauses. Zur Deckung der laufenden Kosten wird erstmals ein Eintritt von vier Franken erhoben, man arbeitet aber weiterhin ohne Lohn. Acht Monate später wird auch dieses Haus abgerissen.

Bis Ende 1983 zieht das Xenix als Teil des Kulturprojekts Houdini ins Sexkino Walche. Im Houdini werden medienübergreifend Filme, Konzerte und Theateraufführungen veranstaltet. Der damalige Sexkinobetreiber und Undergrounder Edi Stöckli unterstützt das Houdini, indem er die Räume des Sexkinos sowie einen Operateur zur Verfügung stellt. Als jedoch die Gebäudebesitzer eine Trägerschaft für das Houdini fordern und die Stadt die Zusammenarbeit mit dem Besitzer des Sexkinos verweigert, wird das Xenix wieder heimatlos.

1984 beteiligen sich die Kinomacher an der Gründung eines Quartierzentrums im Schulhaus auf dem Kanzleiareal. Nach einigen Vorstellungen in ehemaligen Schulzimmern findet im September die erste Filmvorführung in der Baracke statt. Dieses mittlerweile 100-jährige Schmuckstück ist nun seit mehr als zwanzig Jahre die feste und liebevoll gepflegte Bleibe des Kinos. Seitdem unterhalten die Xenix-Leute auch ein mobiles Kino, veranstalten im Sommer ein Openair und betreiben eine kleine Bar. Bald wird der erste 35-mm-Projektor angeschafft. Von 1988 bis 2001 ist der Donnerstagabend mit dem Frauenkino Xenia fest in weiblicher Hand. Die städtische Volksabstimmung im Herbst 1990 wirft hohe Wellen und fällt schliesslich knapp gegen das Kulturzentrum Kanzlei aus. Das Kino spaltet sich vom Kanzleizentrum ab, steht fortan unter der Schirmherrschaft des Präsidialdepartementes und erhält Subventionen. Mit dem endgültigen Nein zum Quartierzentrum 1991 wird der Schulbetrieb wieder aufgenommen. Vom Kulturzentrum bleibt nur das Xenix in der Baracke übrig. Umsatz und Ertrag von Bar und Kinobetrieb steigen, es werden feste Stellenprozente geschaffen und damit erstmals Löhne gezahlt.

In den folgenden Jahren wird der Betrieb von Kino und Bar fortlaufend professionalisiert, der Kinosaal mehr und mehr den üblichen Standards angepasst. Er verfügt heute über eine Lüftung, Klimaanlage und mit Dolby SR auch über ein adäquates Tonsystem. Vorgeführt werden können verschiedenste Formate: 35 mm, 16 mm, Super-8 und diverse Videoformate. Die kollektiven Arbeitsformen sind durch die Abgrenzung verschiedener Bereiche und mit spezifischen Stellenprofilen herkömmlichen Betriebsstrukturen angenähert worden. Das Kino beschäftigt heute 10 feste und zahlreiche freie Mitarbeiterinnen (etwa 1400 Stellenprozente). Der Filmclub hat mittlerweile rund 2200 Mitglieder, die das monatlich erscheinende Programmheft zugesandt bekommen und eine Ermässigung auf den Eintritt erhalten. Das Xenix ist also im wirtschaftlichen Sinn ein erfolgreiches, expandierendes mittleres Unternehmen. So weit die überlieferten und nachweisbaren Fakten.

Im ideellen Sinn bedeutet das Xenix aber viel mehr, und hier kehren wir zur erwähnten Mythenbildung zurück. Diese beruht darauf, dass sich das Kino im letzten Vierteljahrhundert unablässig gewandelt und immer einen persönlichen und engagierten Zugang für verschiedene Gruppen angeboten hat. Stand zu Beginn das klare politische Statement im Zentrum, so verlagerte sich das Gewicht der Programme immer mehr auf die kulturelle Bedeutung der individuellen, (film-)künstlerischen Entdeckungen. Heute sind die monatlich wechselnden Programme jeweils einem Thema, einer Person oder einem Land gewidmet. Schwerpunkte der Programmation waren von Anfang an das Filmschaffen anderer Kulturen, das Werk unabhängiger FilmemacherInnen, Alltags-, Populär- und Subkulturen, der Underground und das experimentelle Kino. Ebenso regelmässig werden Filmemacher und andere Gäste zu Foren eingeladen. Mit dem Xenix verbindet man stets ein wichtiges Stück der eigenen privaten Geschichte und Entwicklung, die wiederum mit der Entwicklung des Kinos zusammenhängt.

Der inhaltliche Anspruch der Kinomacher an ihre Programme liegt in der sorgfältigen und erschöpfenden Aufarbeitung des gewählten Themas sowie in dessen Reflexion. Deswegen enthält das Programmheft nicht nur eine Beschreibung der programmierten Filme, sondern auch redaktionelle Einführungen in die Themenblöcke. Die Wertschätzung, die das Xenix dem cineastischen Schaffen entgegenbringt, drückt sich auch in Zahlen aus: Kein anderes unabhängiges (Programm-)Kino der Schweiz investiert vergleichbare Summen und personellen Aufwand in die Filmprogramme. Alles mit einem Ziel: anspruchsvolle Filme für ein aufgeschlossenes Publikum.

Mit diesem konsequenten Anspruch hat das Kino Xenix eine Beständigkeit entwickelt, die zu seinen wichtigsten Qualitäten gehört. Seine Filmzyklen sind immer wieder Höhepunkte im öffentlichen kulturellen Leben Zürichs. Als Beispiele der letzten Zeit seien hier die Filmreihen «Bollywood – Populäres Hindi-Kino von den 30er Jahren bis heute» (Juni 2002), «Der Film zum Soundtrack» (Februar 2003) oder auch die Besuche von Catherine Breillat (Januar 2004) und John Sayles (Juni 2004) anlässlich der ihnen gewidmeten Retrospektiven genannt. Der hohe cineastische Anspruch wird weithin – auch in Kinokreisen jenseits der Schweizer Landesgrenzen – geschätzt. Für Zürcher ist er inzwischen auch zur lieb gewonnenen Selbstverständlichkeit geworden. Wie ungewöhnlich und selten diese Qualität jedoch tatsächlich ist, kann man daraus ersehen, dass es dem Xenix auf Grund eben dieser Qualität immer wieder gelingt, schier Illusorisches zu realisieren. Der Besuch von John Sayles beispielsweise war nur möglich, weil das Xenix sein gesamtes filmisches Werk als Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler zeigte: Der Meister des US-Independent-Films war schlicht neugierig, was dieses Xenix in der Schweiz, das erstmals überhaupt eine derartige Werkschau mäglich machte, wohl für ein Kino sei.

Das Wichtigste aber ist: Das Xenix bietet seit jeher einen öffentlichen Ort für den filmischen Diskurs jenseits konventioneller Schranken. Die Schweizer Filmbranche und Filminteressierte treffen sich hier, tauschen Erfahrungen aus, diskutieren und erweitern nicht zuletzt ihr filmisches Wissen. Das Xenix trägt viel dazu bei, dass Zürich zur Kinostadt geworden ist. Neben den parallelen Institutionen – wie beispielsweise dem Filmpodium, der Filmklasse an der Hochschule für Gestaltung und Kunst, dem Seminar für Filmwissenschaft an der Universität Zürich, dem Jahrbuch CINEMA und vielen anderen mehr – verkörpert das Xenix einen Teil der Zürcher Kultur des Filmischen. Innerhalb dieses Umfelds öffnet es immer wieder eine neue Sicht auf bisher unbekannte oder verkannte Werke und macht der Öffentlichkeit Filme zugänglich, die keinen Schweizer Verleiher gefunden haben und deshalb nie auf der Leinwand zu sehen waren – wenn nicht anders möglich, auch in der Originalfassung ohne Untertitel.

Mit dieser Bereicherung geht ein weiteres Phänomen einher: Zürich ist eine Kinostadt geworden, in der auch kommerzielle Kinos interessante Filme jenseits von Hollywood-Produktionen programmieren. Man könnte fast von einem Mainstream des anspruchsvollen Films sprechen. Zu dieser Entwicklung dürfte durchaus auch die Existenz des Kino Xenix beigetragen haben. Auch manche durch das Xenix entstandene oder unterstützte Initiativen und Projekte sind inzwischen kulturell institutionalisiert und werden vom Publikum als selbstverständlich wahrgenommen: Das Zürcher Kino diente als Vorbild für Programmkinos in Basel, St. Gallen, Genf und Bern; Mitte der Achtziger- bis Mitte der Neunzigerjahre existierte die Videowerkstatt Kanzlei; 1992 wird mit Xenix-Unterstützung das Internationale Trickfilmfestival Fantoche in Baden gegründet; seit 1996 gibt es einen vom Kino unabhängigen Filmverleih; die Bildwurf-Kinodias sind aus dem Xenix hervorgegangen und sind heute dank ihrem hohen ästhetischen Anspruch etabliert und geschätzt; 1994 reist das mobile Kino durch den Senegal; 1994/95 wurden Filme aus Sarajewo im Xenix gezeigt, und gleichzeitig hilft das Xenix beim Wiederaufbau des Kinos des zerstörten Obala Art Centre in Sarajewo; in den Neunzigerjahren wird die Experimental unterstützt und hatte hier ihren Veranstaltungsort; ebenso fand die Videoex in den ersten Jahren ihres Bestehens hier statt.

Nicht minder wichtig ist das Xenix als Begegnungsort. Die Kinobaracke befindet sich auf einem der schönsten Plätze – dem Kanzleiareal – im berühmt-berüchtigten, kreativen und drogengeplagten Kreis 4, zu dessen Lebendigkeit und gleichzeitig sozialer Beruhigung das Xenix wesentlich beiträgt. Sobald die ersten Sonnenstrahlen die Nebeldecke durchdringen und die Temperaturen steigen, mutieren das Xenix mit seiner Bar und das ganze Areal zu einem der lebhaftesten Orte Zürichs: Hier findet allsommerlich das Openair statt, auf dem Kiesplatz wird Boule gespielt, man trifft sich zum Apero, oder man verbringt hier schlicht den Abend mit oder ohne Freunde.

2005 wird das Xenix 25 Jahre alt. Es ist längst erwachsen geworden, und aus den engagierten und im Vergleich zu heute «wilden» Anfangszeiten ist ein nicht weniger engagierter, aber geordneter, professionell arbeitender Kulturbetrieb hervorgegangen. Die Dauer seines Bestehens stellt jedoch auch neue Aufgaben: Ging es in den ersten Jahren jeweils um das eigentliche Bestehen des Betriebs, muss sich das Xenix heute vermehrt auch mit seiner langfristigen Entwicklung beschäftigen. Beobachtet man im Vergleich zur Schweiz die Kinolandschaft Europas, lässt sich feststellen, dass gerade die kleineren, unabhängigen, nicht staatlich subventionierten Programm- und Off-Kinos verschwinden. Die Nische, in der sie sich mit ihren anspruchsvollen Programmen bewegt haben, wird teilweise von grossen Premieren- und Multiplexkinos besetzt. Die Schweiz ist zwar immer noch ein Land, dem es im europäischen Vergleich wirtschaftlich und kulturell gut geht, aber das Xenix muss bereits heute und zukünftig noch stärker in einer immer differenzierteren Zürcher Kinound Kulturlandschaft bestehen. Die gesellschaftliche Rolle des Programmkinos liegt heute viel weniger in einer politischen Stellungnahme, sondern darin, dem öffentlichen filmischen Diskurs ein Forum anzubieten.

Getrost darf das Xenix, das in diesem Jahr sein 25-jähriges Jubiläum mit vielen Spezialprogrammen und -veranstaltungen feiert, immer noch als einzigartig gelten. Doch im Mythos Xenix, der so eng und ausschliesslich mit seiner Entstehung und Vergangenheit verknüpft ist, liegt auch eine Schwierigkeit. Das Kino muss sich von seinem Entstehungsmythos und den damit verbundenen Ansprüchen, die es heute gar nicht mehr erfüllen kann, ein Stück weit trennen. Neue Pläne und Visionen sind gefragt. Es gilt, immer wieder neue, relevante Positionen zu beziehen und Zeichen zu setzen, flexibel zu agieren, sich stetig zu entwickeln. Der Mythos muss in die Gegenwart und Zukunft transformiert werden. 25 Jahre Xenix sind ein Moment, um Akzente zu setzen.

Duden, Das Grosse Fremdwörterbuch. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich, 1994, S. 928f.

Die folgenden Ausführungen beziehen sich grösstenteils auf: Filmclub Xenix (Hg.): Kino im Kopf. Zehn Jahre Xenix. Zürich, 1990. Und: Andreas Furler, «Out of the Ghetto», In: Züritipp, 4.8.2000.

Kristina Trolle
geb. 1969. Film- und Kommunikationswissenschaftlerin. Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste. Lehraufträge am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Arbeitet zurzeit an einer Dissertation zur ästhetischen Kodierung von DEFA-Spielfilmen.
(Stand: 2008)
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