DORIS SENN

NOTRE MUSIQUE (JEAN-LUC GODARD)

SELECTION CINEMA

In einem jüngst gegebenen Interview zu Sport und Kino sagte Godard: «Mein einziger Wunsch ist es, einmal im Roland Garros zu spielen, im Mantel, mit schweren Schuhen, dabei zu rauchen und zu lesen ...» Gibt es eine treffendere Veranschaulichung seines Schaffens als dieses skurrile Bild von Godard als Tennisspieler? Die exzessive Inszenierung, sprich: Verfremdung (der Mantel, die Schuhe), der klingende Name (das legendäre Pariser Stadion) und die Simultaneität sich konkurrenzierender Tätigkeiten (spielen, rauchen, lesen), sprich: Botschaften. Auf dieser polyphonen Tastatur, die Godard seit seinen Frühwerken bespielt und damit immer wieder hohe Anforderungen an sein Publikum stellt, ist auch sein jüngstes Werk, Notre musique, entstanden. Zentrales – und altes – Thema: das dialektische Verhältnis von Abbild und Wirklichkeit, von Dokument und Fiktion. Brennpunkt: der israelisch-palästinensische Konflikt.

In Anlehnung an die christliche Jenseitsvorstellung durchläuft Notre musique drei «Königreiche». Als Auftakt: eine achtminütige Bilderkaskade aus Dokumentarund Spielfilmen, die in pulsierender Montage Kriegsszenen präsentiert. Ohne chronologische Ordnung, mit kurzen Off-Kommentaren und Pianosequenzen: Aufnahmen von der jahrhundertealten Selbstvernichtung der Menschheit – die «Hölle».

Es folgt der einstündige Mittelteil, «Fegefeuer», in dem fiktionale Handlung und dokumentarischer Blick sich durchdringen. Im Zentrum steht Sarajewo, das – noch halb in Trümmern – den Neuanfang, die Versöhnung repräsentiert. Die Teilnehmer eines internationalen Schriftsteller-Kongresses suchen an diesem symbolischen Ort den Dialog – obwohl letztlich der polyglotte Monolog vorzuherrschen scheint. Rolle und Identität des Intellektuellen in Zeiten von Krieg, Versöhnung und Frieden stehen zur Diskussion. Emblematische Autoren wie Juan Goytisolo, der 1993 in Sarajewo Kriegsbeobachter war, deklamieren in Häuserruinen, der Palästinenser Mahmud Darwisch räsoniert über Sieg und Niederlage. Gleichzeitig fordern (Bilderbuch-)Indianer ein friedliches Zusammenleben, und in einem Zimmer sitzt ein Zensor neben einem Scheiterhaufen aus Büchern, der stetig wächst. Zwei junge Frauen – beide jüdischen Ursprungs – sind auf der Suche (wie so oft bei Godard): Sie hinterfragen das Leben, den Krieg und symbolisieren Aufbruch und Idealismus (Sarah) – und Resignation (Olga).

Nebst diesem Konglomerat von Sprachen, Zitaten, Musik (Arvo Pärt, Peter Tschaikowski, Jean Sibelius) und bizarren Inszenierungen fährt die Kamera durch die nachtdunklen, verregneten Strassen oder verweilt auf dem geschäftigen Treiben der Markthalle. Godard selbst tritt auf und unterweist Studierende über Schuss/Gegenschuss als grundlegende filmische Parameter – über die Umsetzung bei Howard Hawks (der nicht zwischen Mann und Frau unterscheidet) und die Adaption auf zwei exemplarische, fast identische Fotos von der Gründung Israels: Juden, die Füsse noch im Meer, betreten 1948 das verheissene Land; und eine Schar Palästinenser, die von ihrem Land ins Wasser getrieben werden. Utopie und Wirklichkeit, Fiktion und Dokument, Ursache und Folge, so das bündige Fazit des Regisseurs.

Als Epilog: das «Paradies». Godard als Gärtner im Blumenmeer. Wir erfahren vom Tod Olgas, die für den Frieden ihr Leben opferte und nun entlang einem von US-Marines bewachten Gestade die Pforte ins utopische Jenseits (mit Reminiszenzen an die Flower-Power-Bewegung) sucht und findet. Ist das die Erlösung? Godards Schaffen hat sich nicht nur die polemische formale Unkonventionalität bewahrt, sondern auch die provozierende Ambivalenz seiner Thesen.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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